ORTE PAUL CELANS

 

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Die deutsche Sprache schien in Paris weniger zerstört zu sein. Einmal, gegen Ende seines Lebens, zeigte Celan der amerikanischen Studentin Esther Cameron das Haus, in dem Rilke seinen Malte geschrieben hatte:

hauptsächlich wegen dieses Buches sei er nach Paris gekommen.

In Paris schien seine jüdische Identität nicht so sehr im Vordergrund zu stehen wie in Wien, und die 1952 geschlossene Ehe mit Gisèle de Lestrange, die aus einer katholischen Familie des französischen Hochadels kam, wirkt wie eine Bestätigung.

Doch Paris war ein Ort in der Leere. Am 24. Oktober 1948, nach drei Monaten, blickt Celan in einem Brief an Max Rychner in Zürich zurück: er habe Rumänien »ohne Paß und allein meinem Stern vertrauend« verlassen, als »ein Wanderer im Dunkeln«. Und er läßt durchblicken, wie man ihm in Wien begegnet war, »einem nach hiesigen Begriffen in Rußland geborenen Flüchtling«. Die politischen Umstände, aber auch die geographische Entfernung haben sämtliche Verbindungen zum Herkommen gekappt:

Herrn Sperber kann ich nicht mehr schreiben. Ich würde die geringe Bewegungsfreiheit, die er noch hat, gefährden.

Die deutsche Sprache, der Umgang mit ihr, wird am Ort des letzten Exils, in Paris, grundsätzlich zum Problem. Am Schluß des Briefes an Rychner, der in der Zürcher Tat zweimal Texte von ihm veröffentlicht hatte, bemerkt Celan, »daß es mir nicht gelungen ist, zu sagen, was ich sagen wollte – daß ich sehr einsam bin. Mitten in dieser wunderbaren Stadt, in der ich nichts habe als das Laub der Platanen.«

Der Briefwechsel mit Rychner, der im Marbacher Literaturarchiv liegt und aus dem Beda Allemann dort einmal, 1987, einige Passagen vorgetragen hat, scheint für Celans erste Zeit in Paris sehr aufschlußreich zu sein – Rychner war eine Vertrauensperson, die eine solche sein konnte, eine Vertrauensperson in der Ferne, in Zürich, das in jeder Hinsicht vom Krieg verschont geblieben war. Am 3. März 1949 schreibt Celan an ihn, »daß etwas Unnennbares mich lähmt«, und wenn er Bilder für die Schwierigkeiten sucht, Gedichte zu schreiben, beschreibt er einen – durch Kafka Literatur gewordenen – jüdischen Urmythos: wenn eine Tür sich öffne, sehe er dabei zu, wie er »solange zögere, bis diese Tür sich wieder schließt«.

Für Celan wird die Beobachtung zentral, wie in der Bundesrepublik unter Adenauer der Faschismus unterirdisch weiterwirkt und gelegentlich an die Oberfläche dringt. Der deutsche Kulturkonservativismus in den fünfziger Jahren, der von der Verdrängung der faschistischen Vergangenheit lebte, stand Celans ästhetischer Radikalisierung in mehrfacher Hinsicht entgegen. Man kann in dem Briefwechsel mit Nelly Sachs, der seit 1993 vorliegt, nachvollziehen, wie dieses Thema immer bedrängender, immer zentraler wird. Das Erscheinen dieses Briefwechsels ist deswegen ein bedeutender Einschnitt in der gesamten Celan- Philologie. Hier sind zum erstenmal, in autorisierter Weise, Dokumente aus der Zeit einer immer gravierender werdenden persönlichen Krise zu lesen – genauer gesagt: nicht zu lesen. Die Leerstellen zwischen den Briefen sagen genausoviel wie die Briefe selbst.

Nelly Sachs, die 1891 geboren wurde, konnte zusammen mit ihrer Mutter aus dem Berlin der Nazis gerettet werden und nach Schweden ausreisen. Sie war mit ihren Gedichten im Deutschland der fünfziger Jahre fast unbekannt. Sie veröffentlichte in der Ferne, bei Berman-Fischer in Amsterdam (der Gedichtband Sternverdunkelung wurde dort wegen des Desinteresses im deutschsprachigen Raum zum Teil eingestampft) sowie bei Aufbau in Ostberlin, und als ihr Gedichtband Und niemand weiß weiter 1957 bei Ellermann erschien, kannten nur die wenigsten diese Stimme.

Der Beginn des Briefwechsels zwischen Celan und Nelly Sachs in den fünfziger Jahren ist verhalten, er geht auf die Lektüre von Büchern des anderen zurück; er wird intensiver, als Celan Nelly Sachs 1957 um die Mitarbeit an einer Zeitschrift bittet – Botteghe oscure, eine italienische, bibliophile Zeitschrift, die deutsche Gegenwartsautoren vorstellen wollte und Paul Celan und Ingeborg Bachmann als Gewährsleute dafür gewann. Binnen kurzer Zeit wird der Ton in den Briefen direkter, und Nelly Sachs sieht in Celan jenes jüngere lyrische Pendant, das sie, wie in den Briefen immer deutlicher wird, herbeigesehnt hatte – ein Pendant deutscher Sprache, das von ihren Erfahrungen sprach:

Es ist so als ob das Wunder einen Menschen über die Fernen gewonnen zu haben, müßte damit gefeiert werden daß man sich ohne Umschweif nur mit dem Wesen begegnet.

Der eigentümliche Ton der Nelly Sachs, von der jüdischen Identität in der deutschen Sprache herkommend und sich mit dem Schwedischen, dem Land der Rettung mischend, kam von einer seltsam bekannten Fremde her. Schon nach kurzer Zeit spricht sie Celan so an:

Paul Celan, lieber Paul Celan – gesegnet von Bach und Hölderlin – gesegnet von den Chassiden.

Celan war auf den Ton von Nelly Sachs, der seine innerste Identität betraf, ersichtlich nicht vorbereitet. Schon nach wenigen Briefen schreibt sie ihm ihr lyrisches Credo, tief verwurzelt in der jüdischen Erfahrung, und wieder ist charakteristisch, wie sich der schwedische Satzbau, die schwedische Grammatik in ihre deutschen Sätze schiebt, ihre biographische Farbe:

Es gibt und gab und ist mit jedem Atemzug in mir der Glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes als an eine Tätigkeit wozu wir angetreten. Ich glaube an ein unsichtbares Universum darin wir unser dunkel Vollbrachtes einzeichnen. Ich spüre die Energie des Lichtes die den Stein in Musik aufbrechen läßt, und ich leide an der Pfeilspitze der Sehnsucht die uns von Anbeginn zu Tode trifft und die uns stößt, außerhalb zu suchen, dort wo die Unsicherheit zu spüren beginnt. Vom eignen Volk kam mir die chassidische Mystik zu Hilfe, die eng im Zusammenhang mit aller Mystik sich ihren Wohnort weit fort von allen Dogmen und Institutionen immer aufs neue in Geburtswehen schaffen muß.

Es kommt ein beschwörender Ton in die Briefe – die einsame Nelly Sachs in ihrer kargen Einzimmerwohnung im Bergsundsstrand 23 in Stockholm, die sich nach lyrischer Übereinkunft sehnt, und Celan, der sich unvermittelt von seinem eigenen Judentum getroffen sieht. Es ist eine Beziehung, die in dieser Form nur auf dem Papier entstehen kann, nur durch das Lesen der Texte des anderen – die beigegebenen Gedichte machen auch einen wichtigen, großen Teil des gesamten Briefwechsels aus. »Sehr verehrte gnädige Frau«, schreibt Celan, bis ihn Nelly Sachs bitten muß, sie bei ihrem konkreten Namen zu nennen.

Die Verbindung mit Nelly Sachs intensiviert sich für Paul Celan in der Zeit, in der er sich den eifersüchtigen Plagiatsvorwürfen von Claire Goll ausgesetzt sieht: er habe von deren verstorbenem Mann Ivan Goll abgeschrieben. Und die einzige persönliche Begegnung mit Nelly Sachs, 1960, fällt gerade in diese Zeit, in der Celan aufs höchste verletzt ist, den Antisemitismus in jeder Schattierung wittert, ja, ihn sogar im ausgesprochenen Philosemitismus aufspürt. Die persönliche Begegnung in Zürich und dann in Paris muß dem standhalten, was auf dem Papier erprobt und erlebt wurde, und wir erfahren in Zwischentönen, daß die konkreten persönlichen Belastungen schwerwiegender gewesen sein müssen als die Möglichkeit, einem Leidens- und Hoffnungsgleichen zu begegnen.

Die persönliche Begegnung Celans mit Nelly Sachs führte aber zu einem programmatischen Gedicht, in dem Celan seine Bedrängungen durch das Aufbrechen der jüdischen Identität durchspielt und im Gemeinsamen mit Nelly Sachs auch das Gegensätzliche anspricht. Die Begegnung fand im Zürcher Hotel Zum Storchen statt:

ZÜRICH, ZUM STORCHEN

                           FÜR NELLY SACHS

Vom Zuviel war die Rede, vom
Zuwenig Vom Du
und Aber-Du, von
der Trübung durch Helles, von
Jüdischem, von
deinem Gott.

Da-
von.
Am Tag einer Himmelfahrt, das
Münster stand drüben, es kam
mit einigem Gold übers Wasser.

Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –

Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,
dein Mund
sprach sich dem Aug zu, ich hörte:
»Wir
wissen ja nicht, weißt du,
wir
wissen ja nicht,
was
gilt…«

Man kann es in den Briefen verfolgen, zu welcher Bedeutung diese persönliche Begegnung geführt wird, wie sich der hohe Ton von Nelly Sachs auf Celan überträgt. Und doch wird in diesen Briefen auch schon ein Unterton deutlich, der immer stärker wird und die persönliche Beziehung der beiden auf unerhörte Weise belasten wird: Celan wird in seiner jüdischen Identität immer mehr sensibilisiert, und er spürt einen Unterschied zwischen sich und Nelly Sachs, wie diese Identität erfahren wird. Das Gedicht »Zürich, Zum Storchen« spricht von diesem Unterschied.

Die Zürcher Begegnung steht im Zeichen der Plagiatsvorwürfe Claire Golls. Aber schon am 26. Oktober 1959 schreibt Celan an Nelly Sachs:

Ach, Sie wissen gar nicht, wie es in Deutschland tatsächlich wieder aussieht.

Ursache für diesen Ausruf ist eine Rezension des Gedichtbands Sprachgitter, die Günter Blöcker am 11. Oktober 1959 im Tagesspiegel veröffentlicht hatte. Der Grad von Celans Verletzlichkeit, das Umstelltsein von Antisemitismus, wird an diesem Beispiel sehr deutlich. Blöckers Formulierungen trafen Celan existentiell. Es ging vor allem um die folgende Passage:

Celan hat der deutschen Sprache gegenüber eine größere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen. Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade dadurch oftmals verführt, im Leeren zu agieren.

Es ist an der Oberfläche ein ästhetisches Unverständnis, das Blöcker hier zu eigen ist. Die »Leere«, die er anspricht, entspricht einer Radikalisierung der Sprechweise, zu der er keinen Zugang findet. Celan meint zu erkennen, daß Blöcker seine jüdische Identität dafür haftbar macht, und reagiert im Brief an Nelly Sachs äußerst heftig:

Und niemand antwortet diesen Burschen! Auch das – das Antworten – bleibt dem Juden überlassen. Die anderen schreiben Bücher und Gedichte »darüber«…

Und am 20. Februar 1960 schreibt er:

Täglich kommt mir die Gemeinheit ins Haus, täglich, glauben Sie’s mir. Was steht uns Juden noch bevor? Und wir haben ein Kind, Nelly Sachs, ein Kind! Sie ahnen nicht, wer alles zu den Niederträchtigen gehört, nein, Nelly Sachs, Sie ahnen es nicht!

Die Begegnung in Zürich wird davon überschattet, daß Celan auch Alfred Andersch in seine Verdächtigungen miteinbezieht – Andersch, der einiges versucht hatte, Nelly Sachs im deutschen Sprachraum bekannter zu machen und der sie nach ihrem Zürich-Aufenthalt für zwei Wochen zu sich ins Tessin einlud. In einem Brief an Nelly Sachs bezeichnet Celan Andersch als »Schurke« – später bittet er sie, diesen Teil des Briefes zu vernichten, was sie auch tut. Der Aufenthalt von Nelly Sachs bei Andersch im Tessin muß angesichts von Celans Warnungen, der ihr aber dann letztlich dennoch rät, ins Tessin zu fahren, von einem Double-Bind geprägt gewesen sein, dem die empfindsame Dichterin nicht lange standhalten konnte.

So steht die Begegnung in Zürich von vornherein in einem Umfeld der Bedrängung, der Verfolgung, der sich beide nicht entziehen können. Das Gedicht »Zürich, Zum Storchen« entspringt einer prekären Balance. Nelly Sachs bietet Celan das Du an, die Begegnung gelingt innerhalb der Bedrohung, innerhalb des Zweifels, es kommt sogar zu einem ihnen gemeinsamen mystischen Erlebnis, auf das Celan später des öfteren zu sprechen kommt und das auch im Gedicht mitschwingt, in der Fügung »es kam mit einigem Gold übers Wasser«. Doch schon kurze Zeit später, als Nelly Sachs von ihrem Aufenthalt im Tessin für ein paar Tage nach Paris zu Celan kommt, müssen die Bedrängnisse Celans stärker in den Vordergrund gerückt sein. Ruth Dinesen schreibt in ihrer Nelly-Sachs-Biographie, daß Eva-Lisa Lennartsson, die Freundin und Reisebegleiterin, Celan während dieser Pariser Tage darum bittet, nicht länger zu Nelly Sachs über Neonazismus und Antisemitismus zu sprechen – die Freundin fürchtet um die Folgen, die das für Nelly Sachs haben muß.

Diese Folgen lassen nicht lange auf sich warten. Es überlagern sich diesem Briefwechsel wenige Wochen später zweierlei Gemütszustände – ein scheinbar gefaßter Celan, der während des Sommers mit seiner Frau und dem Sohn Eric in der Bretagne ist und um den Zustand von Nelly Sachs weiß – und eine Nelly Sachs, die am Ende ihrer Kraft ist und einen psychischen Zusammenbruch erleidet.

Am 20. Juli schreibt Celan, durchaus eingedenk dessen, daß er die Verdunklungen in Nelly Sachs’ Welt kurz vorher gespürt hat:

Wir sind seit acht Tagen in der Bretagne, unter heiteren Himmeln, in einem kleinen Häuschen am Rande eines riesigen und auf das menschen- weil hasenfreundlichste verwilderten Parks. Das Meer ist nahe, die Menschen, denen wir begegnen, einfach und freundlich. Wir denken, wie jeden Tag, zur Dir hinüber. Und Du? Du kannst sicher nicht so gut radfahren wie Eric – das können nur wenige! –, also mußt Du wohl Gedichte schreiben. Was, wie ich Dir nicht verschweigen kann, bei weitem nicht so schwer ist. Weil man dabei bekanntlich nicht selbst fährt, weil da immer irgendeiner mithilft, besonders wenn’s bergauf geht, und weil’s da ja auch nicht zwei, sondern gleich mehrere Räder – für gewöhnlich fünf – gibt. Ob man dabei auch in entlegene Gehöfte gelangt, wo’s soeben zur Welt gekommene Ferkelchen zu sehen gibt? – Manchmal, sagst Du? Aber doch wohl nur ausnahmsweise – in Schaltjahren zum Beispiel … Wie?

Wir haben gerade ein solches? Nun ja, dann – laß es eben dauern, schalte da nicht um! Wir tun dasselbe bzw. wir verlassen uns auf Dich! Denn daß wir uns auf Dich verlassen können und dürfen, das wissen wir.

Als nächstes Dokument im Briefwechsel ist ein Telegramm von Nelly Sachs erhalten, zwei Tage später aufgegeben:

Bin schon viel besser Kommen jetzt nicht absolut notwendig.

Und drei Tage später ein Brief:

Paul Lieber nur schnell einige Zeilen. Eine Nazi Spiritist-Liga jagt mich so schrecklich raffiniert mit Radiotelegraph, sie wissen alles, wohin ich den Fuß setzte. Versuchten mit Nervengas als ich reiste. Schon seit Jahren heimlich in meinem Haus, hören durch Mikrophon durch Wände.

Nelly Sachs hatte bereits Anfang der fünfziger Jahre, nach dem Tod ihrer Mutter, mit der zusammen sie aus dem Nazireich geflohen war, eine schwere psychische Krise. Die Konfrontation mit Celan, den sie als »Bruder« empfand, als »reinen Menschen«, war auch eine Konfrontation mit der jüdischen Geschichte, die sie überforderte. Schon immer war ihr das kleine Zimmer im Bergsundsstrand zu eng, fühlte sie sich beobachtet, belauscht, und bis zu ihrem Tod 1970, dem selben Todesjahr wie Celan, hatte sie immer wieder lange Krankenhausaufenthalte.

Die persönlichen Begegnungen in Zürich und Paris führten zu einem Wendepunkt in der Beziehung zwischen Celan und Nelly Sachs. Celan fuhr am Abend des 30. August an der Pariser Gare du Nord ab und war am 1. September in Stockholm; doch Nelly Sachs erkannte ihn nicht am Krankenbett oder sie wollte ihn nicht erkennen. Über diese Erfahrung lesen wir in diesem Briefwechsel nichts, doch es ist zu ahnen, daß sie für Celan gravierend gewesen sein muß. Am Anfang des nächsten Jahres lädt Nelly Sachs die Familie Celans für den Sommer nach Schweden ein, Celan nimmt diese Einladung, mit Verweis auf familiäre Verpflichtungen, nicht an – doch im Notizbuch Celans findet sich unter dem Datum des 14. Februar 196r ein handschriftlicher Eintrag seiner Frau Gisèle, der nachträglich an bestimmten Stellen geweißt ist, sie betreffen den Plagiatsvorwurf von Claire Goll:

Brief von Nelly Sachs, die uns nach Schweden einlädt, ein Gedicht schickt. Doch sie sagt kein Wort über diesen Schmutz, über diesen Greuel, von dem sie mit Sicherheit weiß. Sie hat ein Gedicht in derselben Ausgabe von…, in der sich die Stellungnahme von… befindet. Sie meidet das Thema.

Nelly Sachs, selbst Opfer des jüdischen Schicksals, gerät nun auch in den nahezu alle persönliche Verhältnisse betreffenden Verfolgungsverdacht Celans. In welchem Umfeld ein Gedicht von ihr stehen würde und wie Celan dies auffaßte – davon konnte sie nichts ahnen. Es sind Verwicklungen, die nicht mehr aufzulösen sind. Der Briefwechsel wird schütter. Von den erschreckend parallel verlaufenden Biographien von Celan und Nelly Sachs in den sechziger Jahren erfahren wir in den Briefen wenig, den Krankenhausaufenthalten von Nelly Sachs stehen mehrere psychiatrische Behandlungen Celans gegenüber. Selbst zur Verleihung des Nobelpreises an Nelly Sachs, die am 10. Dezember 1966, dem fünfundsiebzigsten Geburtstag von Nelly Sachs, stattfindet, kann Celan nicht mehr kommen – und von seiner Ehekrise teilt er Nelly Sachs, die die Familie immer als Halt und Einheit sieht, nichts mit.

1962, als die psychische Wunde Celans zum erstenmal offen aufbrach, intensiviert sich sein Briefwechsel mit den Freunden aus der Heimat: er schreibt an Gustav Chomed in Czernowitz und an Petre Solomon in Bukarest, natürlich auch an Sperber. Am 6. August stellt er, in einer erschreckenden und klaren Selbstdiagnose, Solomon gegenüber fest:

Meine Nerven sind eben nur meine Nerven und sie haben versagt, aus sehr realen, sehr objektiven Gründen.« Und am 5. September schreibt er an Solomon einen Brief, dessen das gängige Celan-Bild irritierender antikapitalistischer Unterton bestimmt nicht nur auf seine aktuelle Krise zurückzuführen ist: »Ich wollte, in einer Gesellschaft, in der jeder, der sich dem Räderwerk widersetzt, verdinglicht und veräußert wird, das Spiel der Duplizität durch Verharren im Natürlichen vereiteln; aber sie haben es ein weiteres Mal verstanden, mich ›im Innersten‹ zu treffen. Mir bleibt nur, mich auf das Recht auf Irrtum zu berufen. Und auf den Glauben an die Solidarität der Dichtung.

Die Auseinandersetzung, die Peter Szondi 1964 mit Hans Egon Holthusen und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatte, zeigt noch einmal sehr deutlich, wie der bundesdeutsche Kulturkonservativismus, das Verdrängen der Naziherrschaft und der Judenermordung mit der Ablehnung von Celans Lyrik zusammenhing. Celans radikale Ästhetik war auch eine politische Antwort auf die kulturelle Situation in der Bundesrepublik, auf das herrschende Kunstverständnis. Durch ein Buch von Jean Bollack erfahren wir etwas über die genaueren Umstände des Szondi-Holthusen-Streits.
Ende August 1964 besuchte Celan zusammen.rnit Peter Szondi die Familie Bollack in Baneuil in der Dordogne. Vor diesem Besuch hatten Celan und Szondi Station in Oradour-sur-Glane gemacht, einem von einer SS- Division niedergebrannten Dorf bei Limoges – der Grundakkord von Celans Biographie. Die Gespräche danach in Baneuil drehten sich vor allem um die Szondi-Holthusen-Auseinandersetzung.

Holthusen hatte in der FAZ eine der typischen Kritiken zu Celan verfaßt, in denen der Surrealismus- und Beliebigkeits-Vorwurf die Hauptrolle spielte. So bezeichnete er unter anderem das Celan-Bild »Mühlen des Todes« als eine »in X-Beliebigkeiten schwelgende Genitivmetapher«. Daß Eichmann davon gesprochen hatte, die »Mühle in Auschwitz arbeiten« zu lassen, daß die »Mühle« eine stehende Redewendung für Auschwitz war, hatte Holthusen augenscheinlich vergessen.

Szondi hatte darauf in einem Leserbrief geantwortet. Er legte schlüssig dar, daß zwischen der politischen Haltung des Rezensenten, zumal in der NS-Zeit, und der Ablehnung bestimmter ästhetischer Konzeptionen ein Zusammenhang besteht. Der Leserbrief wurde abgedruckt, Szondis Information, daß Holthusen »ebenfalls die SS-Uniform trug«, war dabei allerdings gestrichen worden. Dafür wurde eine Entgegnung Holthusens zusammen mit dem Szondi-Brief in der FAZ abgedruckt. Holthusen schreibt darin unter anderem:

Das Gedicht hat, wenn ich Augen im Kopf habe, mit dem Thema Auschwitz und Nazigreuel überhaupt nichts zu tun. Dort, wo sich Celan ausdrücklich mit der massenhaften Ermordung der Juden beschäftigt, nämlich in seiner berühmten »Todesfuge«, dort kommt die Formel «Mühlen des Todes. nicht vor.

Das war zwar dummdreist, wußte sich aber in seiner 1:1-Ästhetik, im sogenannten gesunden Menschenverstand, nicht nur von der FAZ-Redaktion gedeckt. Szondi hoffte nun in der Dordogne, für eine Entgegnung würde ihm Celan selbst zu Hilfe kommen. Celan redigierte etliche Entwürfe und Texte, war letztlich aber zu einer solchen Stellungnahme nicht in der Lage.

Celan versucht, in seiner Dichtung die Sprache zu bewahren. Dieser Versuch muß sich der historischen Konkretheit stellen, daß die Sprache, die Celan zur Verfügung steht, die Sprache der Mörder seines Volkes ist, die derart korrumpierte deutsche Sprache. Alle Gedichte Celans mußten sich deshalb, ob ausgesprochen oder nicht, auf die Erfahrung der Judenvernichtung beziehen, und zwar durch die Materie selbst, aus der sie gemacht sind. Das führt zu einem langwierigen Prozeß, der eine Wiederherstellung, eine Neuschöpfung der Sprache als utopisches Ziel anstrebt.

Die Notiz seiner Frau Mayotte, die Jean Bollack in seiner Schilderung mitteilt, umreißt ein Bild, das man sich von Celan während dieser biographisch-literarischen Anstrengungen machen kann:

Eines Abends in der Dordogne, wo die Gestalten und die Erinnerung Hölderlins ihn beschäftigten, sagte er: »je suis la poésie.« An jenem Abend war er aufgewühlt (an den übrigen Tagen eher verschlossen und ausweichend). Schweigend hörten wir ihm zu, während er diese pathetischen Sätze vorbrachte.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag, 1996