ORTE PAUL CELANS

 

3

Kaum eine Stadt ist so versunken wie Czernowitz. Es war eine Stadt, die den äußersten östlichen Vorposten der Habsburgermonarchie bildete, hart angrenzend an das Zarenreich und dasjenige der Osmanen, umweht von Kyrillischem und den Gräsern der podolisch-wolhynischen Steppe. 1849 wurde die Bukowina, deren Hauptstadt Czernowitz war, ein selbständiges Kronland Habsburgs und von Galizien getrennt, und 1867, mit der Judenemanzipation, begann das »goldene Zeitalter«: sechzig Prozent Juden lebten in dieser Stadt, die ansonsten aus lauter Minderheiten bestand.

Unter den mehr als hunderttausend Einwohnern gab es neben Rumänen, Ruthenen (Ukrainern), Polen und Deutschen auch kleinere Minderheiten wie Huzulen, Lipowaner, Zigeuner. Daß die Umgangssprache deutsch war, lag nicht an den zehn Prozent Deutschen, schwäbischen Einwanderern, die in der bäuerlichen Vorstadt Rosch wohnten, sondern an den Juden: sie waren die treibende Kraft des wirtschaftlichen Aufschwungs, sie wohnten in der Innenstadt, hatten dort ihre Büros und betrieben dort ihre Geschäfte. Mit der rechtlichen Gleichstellung 1867 war der Anreiz, sich an die bestehenden Verhältnisse zu assimilieren und deutsch zu sprechen, noch größer geworden; nur die einfacheren Schichten sprachen noch jiddisch.

Diese versunkene Welt ist vor allem eine Welt der Kultur, mit einer eigenen, verschwundenen Identität. Das Bürgertum, das fast nur aus Juden bestand, definierte und legitimierte sich durch ein differenziertes kulturelles Leben: in den Caféhäusern lagen die Tageszeitungen aus Wien und Prag aus; der Schwarze Adler am Ringplatz, das erste Haus am Platze, warb damit, 108 Zeitungen zu führen. In Czernowitz selbst erschienen mehrere deutschsprachige Tageszeitungen – eine kulturelle Hegemonie, die auf das achthundert Kilometer entfernte Wien ausgerichtet war und ein eigenes, in sich geschlossenes Czernowitzer Deutsch hervorbrachte; eine entlegene Sprachinsel hinter dem Slawischen, Rumänischen und Ungarischen.

Von Nationalitätenkonflikten ist nichts überliefert, auch der Begriff der »multikulturellen Gesellschaft« war noch nicht bekannt. Der orthodoxe Erzbischof Repta, der katholische Prälat Schmidt und der Oberrabbiner Dr. Rosenfeld sollen befreundet gewesen sein und ein stadtbekanntes »Kleeblatt« gebildet haben; im Ersten Weltkrieg rettete der Erzbischof Repta die Thora-Rollen des jüdischen Tempels vor den Kosaken.

Celan, der berühmteste Sohn von Czernowitz, wurde 1920 schon in Rumänien geboren, dem die Bukowina 1918 zugefallen war. Doch obwohl »Cernauti« eine rumänische Provinzstadt geworden war, blieb es bis 1940 trotz aller Romanisierungsversuche eine deutschsprachige, jüdische Stadt. Diese Zwischenkriegszeit, eine Spätblüte des Habsburgerreichs in sprachlicher Diaspora, brachte erst die meisten Texte der deutschsprachigen Bukowiner Literatur hervor, vergleichbar mit der geschlossenen Wortwelt der Prager Juden. Wie dort mit Franz Kafka gibt es hier mit Paul Celan eine Jahrhundertfigur, die die literarische Szene, der sie entstammt, überstrahlt. Sie macht diese Szene in ihrer Provinzialität erst sichtbar, ist aber ohne sie nicht zu denken – erst seit ein paar Jahren geraten die Ursprünge der Lyrik Celans ein bißchen ins Blickfeld. 1940 beginnt der brutale Eingriff der Geschichte: zuerst die Rote Armee, dann die Nazis, die den jüdischen Charakter der Stadt vernichten, 1944 schließlich wieder die Rote Armee: Czernowitz gibt es nicht mehr.

Czernowitz, das war ein eigener kleiner Kosmos, eine Stadtkultur, eine Cafébesessenheit. Paul Celan, aber auch Rose Ausländer oder Gregor von Rezzori sind vom Geist von Czernowitz geprägt; der psychisch gereizte Wilhelm Reich kommt von dort und Ninon, die Frau, der Hermann Hesse zuletzt dann endgültig verfallen ist. Und was in Wien, der unerreichbaren Metropole, zur Zeit der Jahrhundertwende der Literaturbeschleuniger Hermann Bahr war, einer, der überall seine Finger mit im Spiel hatte und ständig neue Aktionen organisierte, ohne selbst als Dichter sonderlich erwähnenswert zu sein: das war in Czernowitz Alfred Margul-Sperber – Sperber, der, wie Karl Kraus im Februar 1929 in der Fackel schrieb, »von Storojinetz bei Cernauti gewissenhafter die Interessen der Kultur betreut, als es im Raum zwischen Berlin und Wien geschieht«.

Und so wie im Wien der Jahrhundertwende konzentrierte sich auch in Czernowitz, der Spätblüte in den dreißiger Jahren, wo die Habsburgermonarchie noch einmal zu sich selbst zu kommen schien, das Kunstwollen fast ausschließlich auf die Lyrik – die höchste aller Formen. Kein langer Atem für einen Roman, für einen Großstadtroman gar, kein Geplänkel für die Theaterbühne. Das Lyrische als konzentrierter Ausdruck eines Lebensgefühls, als Indikator für die kulturelle Atmosphäre: eine fremde, überreizte Welt.

Die Lyrik: das war auch wie selbstverständlich die Ausdruckswelt des jungen Paul Celan. Vor allem Rilke scheint von Wien aus die Zeitungen und Buchhandlungen von Czernowitz beherrscht zu haben; in den ersten Gedichten Celans ist die Aufnahme des Rilkeschen Tons, seiner Farbigkeit, seiner Bilderwelt Zeile um Zeile zu verfolgen:

Kein ankerloses Tasten stört die Hand
und nachts verstreutes Heimweh trägt die Not
gefalteter Gebete zitternd hin vors Rot
im Bangen deiner Züge, dunkeler gespannt.

Der Cornet muß eine prägende Jugendlektüre gewesen sein, noch im Band Mohn und Gedächtnis sind einige Anklänge daran zu spüren. Das Elegische prägt diese ersten Gedichte, mit spätromantischen Stimmungen, etwas Traumhaftes, Jenseitiges, in dem sich Verzicht spiegelt und Liebe immer auch Vergeblichkeit ist. Diese Rilke-Melodie schien in Czernowitz über allen lyrischen Versuchen zu liegen. Beim jungen Celan sind die Arrangements dieser Wort- und Gefühlsfarben ständig gegenwärtig: die Wie-Vergleiche, die Enjambements, die metaphorische Verbindung von Konkretem und Abstraktem wie im Stundenbuch – und manchmal, beim Endreim, klingt der Vers im Rilkeschen Konjunktiv aus: Krüge/füge, Waage/trage, deine Schläfe/überträfe, erküre/vollführe.

Der Grundton von Liebe und Verzicht mag auch durch die Liebe zu einer Schauspielerin am jiddischen Theater, Ruth Lackner, stimuliert worden sein – aber wohl nicht in dem ausschließlichen und eindeutigen Sinne, wie ihn Israel Chalfen in seiner detaillierten Biographie über Celans Jugend unterstellt – man merkt ihr bei allen Verdiensten manchmal doch an, daß sie ein Psychiater geschrieben hat.

Edith Silbermann, eine Jugendfreundin Celans, erinnert an den Einfluß der rumänisch-liedhaften »Doina« auf den jungen Celan, einer Volksweise mit immer denselben Textbausteinen. Ihr Vater war Altphilologe und Germanist, mit einer der größten Privatbibliotheken der Stadt. Dort stieß Celan unter anderem auf die Landarzt-Erzählungen Kafkas – Kafka wurde für ihn, wie er Ruth Lackner gegenüber gesagt hat, vor allem in späteren Jahren zur täglichen Lektüre.

Daß sich die Heranwachsenden in der jüdisch-bürgerlichen Kreisen in den dreißiger Jahren in der illegalen kommumstischen Jugendorganisation trafen und für die Rote Hilfe sammelten, war in dieser Aura fast selbstverständlich, der Kommunismus eine vor allem geistige Bezugsgröße. Edith Silbermanns Charakteristik des jungen Celan läßt bereits ahnen, auf welchen Boden die späteren Erfahrungen fallen werden:

Gelegentlich wurde nicht nur diskutiert, sondern auch gesungen: Revolutionslieder wie »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« oder Landsknechts-Lieder wie »Vom Barette weht die Feder« oder »Flandern in Not, durch Flandern reitet der Tod«. Zuweilen tanzten wir auch übermütig einen Gopak. Paul konnte sehr lustig und ausgelassen sein, aber seine Stimmung schlug oft jäh um, und dann wurde er entweder grüblerisch, in sich gekehrt oder ironisch, sarkastisch. Er war ein leicht verstimmbares Instrument, von mimosenhafter Empfindsamkeit, narzißtischer Eitelkeit, unduldsam, wenn ihm etwas wider den Strich ging oder jemand ihm nicht paßte, zu keinerlei Konzession bereit. Das trug ihm oft den Ruf ein, hochmütig zu sein.

Und Ruth Lackner berichtet in Chalfens Biographie:

Bei aller Redegewandtheit war er des öfteren so sehr vom Gefühl beherrscht, daß er ganz plötzlich verstummte und sich verabschiedete, um später in einem kurzen Brief, den er selbst überreichte, das zu sagen, was er vorher nicht hatte aussprechen können.

 

*

 

Am 20. Juni 1940 zogen die sowjetischen Truppen nach Czernowitz ein und blieben dort ein Jahr. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion konnten sie die Nordbukowina nicht mehr halten. Auch unter deren Herrschaft wurden Tausende von Einwohnern nach Sibirien verschleppt. Doch die Katastrophe geschah erst im Juli 1941, als die Rumänen unter deutschem Kommando einmarschierten. Es folgten Deportierungen, Ghetto, organisierter Mord. Die Schlüsselsituation von Celans Leben ereignete sich im Sommer 1942. Die Deportationen in die Straflager von Transnistrien fanden an den Wochenenden statt; er hatte rechtzeitig ein Versteck ausfindig gemacht, seine Eltern jedoch nicht überreden können, mit ihm dorthin zu gehen. Am Montag war die Wohnungstür versiegelt.

Die Eltern wurden in Michailowka ermordet. Paul Celan wurde bis Februar 1944 als Zwangsarbeiter in ein Arbeitslager in Tabaresti bei Buzau eingezogen; danach lebte er noch ein Jahr unter sowjetischer Herrschaft in Czernowitz, bevor er ausreiste.

Daß es 1941 radikal abgeschnitten wurde, macht das Leben in Czernowitz, der habsburgischen Enklave am Rande Europas, zu einem rückwärtsgewandten Traum. Die Czernowitzer Kultur wurde in alle Winde zerstreut, Stationen der Emigration sind Bukarest, Wien, Paris, New York und Tel Aviv, auch Düsseldorf oder Lenzkirch. Manche Fäden können da noch einmal gesponnen werden, manche Erinnerungen wachgerufen: doch ein Gesamtbild scheint nicht mehr möglich. Die Literaturlandschaft der Bukowina bekommt durch diese Rätselhaftigkeit einen unüberwindlichen Glanz, sie wird zu einer Phantasmagorie, deren konkrete historische Bedingungen längst aüsdem Blickfeld geraten sind.

Es waren Juden, die diese deutschsprachige, exterritoriale Literatur schufen, und sie wurden von denen in deren Sprache sie schrieben, umgebracht. Der Blick auf die Czernowitzer Szenerie der dreißiger Jahre ist heute ohne das Wissen um die Judenermordung der Nazis nicht zu denken – doch im Selbstverständnis der damals Schreibenden war so etwas nicht im Horizont. Moses Rosenkranz schrieb 1935 vom »deutschen Wachsein, deutscher Seele« – im sogenannten »Reich« war schon längst eine äußerst konkrete Seite dieses Deutschtums zutage getreten, doch in der windgeschützten Bukowina wurde an einer deutschen Kultur gearbeitet, die immer noch das Humanum im Blickfeld hatte – eine ungeheure Gleichzeitigkeit.

Daß die Czernowitzer Dichter auf deutsch schrieben, ist auch der Grund dafür, warum sie vergessen sind: ihre Kultur gab es später nicht mehr. Für das Anthologieprojekt Die Buche in den dreißiger Jahren gaben die einzelnen Beteiligten Kurzbiographien an, in denen die Problematik des Deutschjüdischen deutlich wird: die assimilierten Juden wollten sich nicht unter »jiidische Literatur« einreihen lassen, in Wien oder Bukarest Lebende distanzierten sich von der Zuordnung in die Bukowina, manch einer wollte seine Veröffentlichungen im Deutschen Reich nicht gefährdet sehen. Eine einheitliche Bukowiner Identität gab es nicht, obwohl Czernowitz für die Weggegangenen oft ein magischer Fixpunkt blieb. Rose Ausländer etwa war schon in der ersten Ausreisewelle Anfang der zwanziger Jahre nach New York gegangen, kehrte dann wieder zurück, um in den späten Dreißigern wieder nach New York zu gehen: und noch 1939 war sie wieder in Czernowitz, wie um sich einem Schicksal zu stellen.

Eingeschlossen, und doch durch posthabsburgische Nachrichtenkanäle an bestimmte Kulturströme angeschlossen, die tausend Kilometer entfernt flossen, entwickelte sich im Czernowitz der dreißiger Jahre vor allem eine traditionalistisch-metaphernreiche Lyrik. Sie blieb im großen und ganzen provinziell. Aber sie war der Nährboden für Celan – in der Art, wie er in diesem Umfeld einen eigenen Ton in der Lyrik findet, in freie Rhythmen ausbricht und den Weg in die Moderne sucht, zeigt sich seine Unvergleichbarkeit.

Die Czernowitzer Eigenheiten haben vor allem anläßlich von Celans »Todesfuge« für Irritationen und die üblichen Aufgeregtheiten der Germanistik gesorgt: in der »Todesfuge« sind des öfteren Gleichklänge mit anderen Gedichten nachgewiesen wurden. Hier ist es am augenscheinlichsten, daß in der kleinen Welt von Czernowitz ein lyrisches Spannungsverhältnis unter einigen Autoren entstand. Die »schwarze Milch«, Celans berühmtes Oxymoron, ist schon von Rose Ausländer 1925 verwendet worden und taucht in einigen Umkreisungen auch bei anderen Lyrikern auf; das Gedicht »Er« von Immanuel Weißglas, das einige verblüffende gleichlautende Wendungen enthält (»da weit der Tod ein deutscher Meister war«), steht in diesem Zusammenhang. Von Moses Rosenkranz gibt es daneben eine »Blutfuge«.

Die in der Germanistik oft betriebenen Plagiatsspiele gehen am Wesentlichen vorbei: es herrschte in Czernowitz eine Enge, ein überhitzter literarischer Austausch, in dem ein bestimmtes Metapherngeflecht, eine bestimmte literarische Bildwelt entstand. Sehr aufschlußreich ist Alfred Kittners Bemerkung vom »ständigen Nehmen und Weiterreichen«. Kittner erinnert sich, daß Celan ihm im Sommer 1944 »vor dem Eisengitter der Czernowitzer Erzbischöflichen Kathedrale in der Siebenbürgerstraße« die kurz zuvor entstandene »Todesfuge« vorlas – man datiert die Entstehung gemeinhin aufs Jahr 1945.

Die »Todesfuge« und Weißglas’ »Er« entstanden im selben Spannungsfeld, doch schon ein erster Blick auf diese beiden Gedichte zeigt die völlig verschiedene Form – die äußerste Bewußtheit für den Rhythmus bei Celan, vor allem aber für das Problem, die Judenermordung überhaupt zu benennen; die traditionelle Reimauflösung bei Weißglas. Die beiden Gedichte sind in ihrer Poetologie geradezu entgegengesetzt.

Celan hat die Bukowina mit der Flucht von Bukarest nach Wien endgültig hinter sich gelassen. Sein Brief, den er am 21. April 1948 an Margul-Sperber schickte, wirft ein bezeichnendes Licht zurück auf die literarische Situation in Czernowitz:

Immer mehr, immer häufiger muß ich mir sagen, daß es auf die Veröffentlichung meiner Gedichte wohl weniger ankommt als darauf, neue zu schreiben. Hätte ich das auch daheim zu tun vermocht? Ich wage nicht, es zu beantworten, wahrscheinlich wäre ich aber doch letzten Endes ganz verstummt.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag, 1996