ORTE PAUL CELANS

 

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Es geht um den »20. Jänner« in jedem Gedicht. Es geht darum, diesen »20. Jänner« aufzufinden. Was zunächst nicht verstehbar scheint, findet hier seinen Schlüssel – es geht um das Unausweichliche, um die Notwendigkeit, dieses Gedicht geschrieben haben zu müssen. Der »20. Jänner« ist der Ausdruck der äußersten Individuation, der Unverwechselbarkeit.

Jedem wirklichen Gedicht ist sein »20. Jänner« eingeschrieben. Celan kommt mehrfach auf dieses Datum zurück, auf den ersten Satz von Büchners Lenz:

Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.

Es ist ein schicksalhaftes Datum, und Celan stößt bei der Suche danach, was das Dichterische ausmacht, darauf – es geschieht in den beiden einzigen Prosastücken, die es von ihm aus der Zeit des westlichen Exils gibt. Als er über eine versäumte Begegnung im Engadin – vereinbart war ein Gespräch mit Theodor W. Adorno – das »Gespräch im Gebirg« schreibt, läßt er einen Juden »wie Lenz durchs Gebirg« gehen. Und in seiner Büchnerpreisrede findet Celan im Lenz die wichtigste Spur dessen, was er unter »Dichtung« versteht, ihre konkreteste Erscheinungsform. Das Gedicht als etwas Einmaliges, Unwiederholbares, als Punkt in der Zeit ist ein eigenes Datum, und der »20. Jänner« der zugespitzteste Ausdruck davon.

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Celan stellt zu Beginn seiner Büchnerpreisrede Überlegungen über die Kunst an, über den Ort der Dichtung innerhalb und außerhalb der Kunst, und er macht zuerst Halt bei Luciles Ausruf »Es lebe der König« am Ende von Dantons Tod. Nach diesem Satz lebt Lucile nicht mehr. Sie wird von der Wache abgeführt, und wo sie dann enden wird, ist gewiß, vor allem aber ist das Drama hier am Ende.

Lucile ist eine »Kunstblinde«, sie ist vor allem jemand, für den »Sprache etwas Personhaftes und Wahrnehmbares hat«. Während der Unterhaltung im Zimmer hört sie nicht richtig hin, beteiligt sich nicht an den jeweiligen Ausführungen, aber daraus entspringt ihr Ausruf vor der Guillotine. Es ist kein Bekenntnis zum Ancien régime, und es ist auch mehr als der Ausdruck des Wahnsinns der Revolution. Celan erkennt hier ein »Gegenwort« und schlägt damit eine Richtung ein, die ihn zu Lenz führen wird. Luciles Ausruf vor einer Revolutionspatrouille künde von der »fiir die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden«. Celan verdeutlicht dies durch ein zentrales Wort seiner Rede: Lucile hat »Atem« wahrgenommen, »das heißt Richtung und Schicksal«.

Luciles Ausruf »Es lebe der König« ist für Celan aber nicht nur das Unerwartete, eine dialektische Pointe der Revolution. Es geht ihm weniger um den konkreten Satz als um die Haltung, die diesen Satz hervorbringt – eine Haltung, die jenseits all des Pragmatischen, Unabwendbaren, all des in Rede Stehenden wurzelt. Es ist ein Ausruf, in dem die Dichtung ihren Ort hat. Sie tritt nur einmal, mit diesem Ausruf, an die Oberfläche, und wir wissen von ihr mehr etwas über ihre Ursprünge, die Richtung, aus der sie kommt, als in welchen Worten sie spricht.

Lenz ist, im Gegensatz zu Lucile, ein Dichter, und wir begegnen ihm in den Worten des Dichters Büchner:

(…) man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete…

Es folgen jene Zeilen, die Celan »unvergeßlich« nennt und die in einem Zusammenhang mit dem »Personhaften«, »Wahrnehmharen« zu stehen scheinen, das bei Lucile erkennbar war:

Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben der Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel.

Doch so sehr dieses »Natürliche« und »Kreatürliche« die Sprache Luciles wiederaufzunehmen scheint: just hier, mit Lenz, gerät Celan jäh an einen »Abgrund«, und dieser Abgrund zeigt an, welche Wendung Celans Nachdenken über die Dichtung bevorsteht.

Die Kritik am Idealismus interessiert Celan nur am Rande. Und daß die Kunst das Leben nachahmen solle, eine Forderung aus den Zerfallsprozessen des Realismus, ist für ihn nie in Betracht gekommen. Er betont, daß die Kunst dem Leben diametral entgegenstehe, sie sei sein Gegenteil und seine Aufhebung. »– ach, die Kunst!« – dieses Wort Camilles in Dantons Tod ist zunächst das Leitmotiv in Celans Büchnerpreisrede.

Die Kunst ist ein »marionettenhaftes« und, wie Pygmalion uns verrät, »kinderloses Wesen«. Celan sucht in den erhaltenen literarischen Texten Büchners die Stellen auf, die diesen Kunstcharakter der Kunst unter Beweis stellen und anprangern. In Dantons Tod ist es das Gespräch, dem Lucile beiwohnt und in dem das Marionettenhaft-jambisch-Fünffüßige das Terrain beherrscht, in Wozzeck erscheint die Kunst in »Affengestalt«, von einem Marktschreier präsentiert, und in Leonce und Lena ist es der »schnarrende Ton« Valerios, der zwei »Automaten« anpreist:

Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern!

Nur bei Lenz, dem Dichter aus dem Munde des Dichters Büchner, findet Celan derlei einschlägige Stellen nicht, in Lenz verkleidet sich die Kunst als das »Natürliche« und »Kreatürliche«. Dieser Fall ist komplizierter.

Der »Mechanismus«, die »Affengestalt«, der »Automat«: Kunst, das wird deutlich, ist vor allem etwas Künstliches, dem Menschlichen Entgegengesetztes. Alles, was von Menschenhand erschaffen wird und dem Leben etwas von einem Sinn, etwas Höheres abtrotzen möchte, entfernt sich – automatisch – aus dem menschlichen Bereich. Lenz hingegen, »über Tisch (…) in guter Stimmung«, wie wir von Büchner erfahren, spricht von seinem Gebiet, der Literatur, ganz anders – die Zuckungen, die Andeutungen, das kaum bemerkte Mienenspiel. An dieser Stelle zitiert Celan nun eine Begebenheit, mit der Lenz diese, seine Auffassung von Kunst illustriert:

Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen: die eine band ihr Haar auf, die andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht, und die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte manchmal ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen.

Celan fügt erklärend hinzu:

»Man möchte ein Medusenhaupt« sein, um… das Natürliche als das Natürliche mittels der Kunst zu erfassen!

Hier ist sie, die Aporie. Wo die Kunst das Leben formen will, ist Tod; das Leben wird von der Kunst immerzu aufgesogen. Hier, bei Lenz, bei Büchners Lenz, bei Celans Nachspüren des Lenz in Büchner, sind wir am Grund des Künstlerischen angelangt.

Lenz ist Celan näher als Lucile. Es ist die Reflexion über Kunst und Dichtung, über das Literarische selbst, die Lenz in den Bereich von Celans eigenem Sprechen führt, die zu etwas Identifikatorischem wird. Deshalb wird die Suche nach dem »Gegenwort« von Lenz um so dringlicher: so wie Lucile das »Gegenwort« zu den Automatismen und Mechanismen der Kunst findet, das »Gegenwort, das den Draht zerreißt« und das Marionettenhafte der menschlichen Existenz hinter sich läßt, so muß es auch bei Lenz ein »Gegenwort« geben, etwas, wo die Kunst zur Dichtung wird.

Der Gegensatz zwischen Kunst und Leben tritt dadurch in den Hintergrund. Es geht um etwas, das den Kunst-Leben-Gegensatz transzendiert: um die Spannung zwischen Kunst und Dichtung. Hier geht es dunkler zu, hier wird es undurchsichtig, hier verlaufen die Linien nicht mehr so eindeutig: denn die Dichtung steht der Kunst nicht von vornherein entgegen, sondern sie hat denselben Weg wie die Kunst zu gehen. Um sich – an einem unbestimmten Ort – freizusetzen, zum Leben zurückzufinden.

So lebte er hin.

Dieser letzte Satz Büchners läßt Celan danach fragen, wie die Kunstfigur Lenz und der Mensch Lenz sich zueinander verhalten. Der Moskauer Privatgelehrte M.N. Rosanow beschrieb 1909 in seiner Lenz-Biographie, wie Jakob Michael Reinhold Lenz in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1792 »entseelt in einer der Straßen Moskaus aufgefunden« wurde. Das war Lenz, der »den 20. Jänner durchs Gebirg« ging, wie Celan sagt, »nicht der Künstler und mit Fragen der Kunst Beschäftigte«, sondern »er als ein Ich«.

Lenz sagt nichts. Lenz’ Gegenwort ist das Verstummen. An der Schnittstelle zwischen der beredten Kunstfigur Lenz und dem Menschen Lenz liegt die Sprachlosigkeit. Dies ist die Gefährdung, durch die die Dichtung hindurch muß – wenn die Worte ihre Selbstverständlichkeit verloren haben, wenn sie sich in ihrer Künstlichkeit verselbständigen. Celan macht sich, mit der Erinnerung an das wirkliche »Ich« Lenz als Wegweiser, nun auf die Suche nach diesem Gegenwort, nach diesem Verstummen, er geht mit durchs Gebirg, er schärft seine Sinne für den »Ort, wo die Person sich freizusetzen vermochte, als ein – befremdetes – Ich«. Und er findet die Stelle:

Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.

Celan schließt den Satz an:

wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.

Dies ist der Ort der Dichtung. Der Himmel als Abgrund. Durch das Verstummen hindurch sucht Celan deswegen nach einem utopischen Ort: durch das Verstummen hindurch könnte der Ausgangspunkt des Sprechens wieder erreicht werden, doch das Sprechen würde ein ganz anderes geworden sein. Es ist eine Kreisbewegung, keine gerade Linie. Die Wegweiser zu diesem utopischen Ort zeigen keine Worte an. Es geht scheinbar nicht mehr weiter, es ist, mit der »Dunkelheit«, mit dem Abgrund des Verstummens, ein Endpunkt erreicht. Doch hinter diesem Endpunkt verbirgt sich etwas.

Nachdem Lucile »Es lebe der König!« gerufen hat, wird sie von der Wache abgeführt und früher oder später auf die Guillotine geschickt. Lenz bewegt sich, ohne noch Worte dafür zu finden, am Abgrund, und »lebt hin«. In diesem Hin-leben liegt die gesamte paradoxe Konstruktion, die Celan in den Texten Büchners aufspürt, um die Frage nach der Dichtung zu stellen. Das Verstummen, die Kreisbewegung, ein Hindurchgehen durch den Tod: immer wieder stoßen wir auf diese Vorstellungen, die etwas anderes im Blickfeld zu haben scheinen, etwas Jenseitiges, Entzogenes, etwas hinter einem undurchdringlichen Horizont. »Lenz – das heißt Büchner – ist hier einen Schritt weiter gegangen als Lucile«, sagt Celan.

Sein »Es lebe der König« ist kein Wort mehr, es ist ein furchtbares Verstummen, es verschlägt ihm – und auch uns – den Atem und das Wort.

Und dann folgt der Satz:

Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.

Die Atemwende ist die entscheidende, dunkle Stelle. Celan fragt:

Wer weiß, vielleicht legt die Dichtung den Weg – auch den Weg der Kunst – um einer solchen Atemwende willen zurück?

Die Atemwende ist es, die den Bogen zurückschlägt zum Leben: aus dem ursprünglichen Gegensatz von Kunst und Leben hat Celan die Spannung zwischen Kunst und Dichtung herausgearbeitet, um nun, von der Dichtung her, zum Leben zurückzufinden, zum Anfang – womit der Kreis geschlossen wäre.

Doch die Dichtung ist dabei die »Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst«, sie ist nur in Widersprüchlichkeiten, Ausweglosigkeiten und Paradoxien aufzuspüren. Der Weg zurück, von der Dichtung zum Leben, ist ein unmöglicher Weg, Dichtung und Leben ineins zu denken, ein unmöglicher Gedanke. Und doch gilt es, unermüdlich »darauf zu zu halten«, die Richtung dorthin einzuschlagen, die Atemwende zu erreichen: da, wo das Leben in die Kunst eintritt, der utopische Punkt.

Die Sprache wird dabei eine andere werden. Sie wird sich von ihrem Kunstcharakter befreien. Sie wird den Ort des »20. Jänner«, der jedem »eingeschrieben« ist, aufsuchen, Atem und Schicksal. Was bei Lenz zum großen, existentiell aufgeladenen Datum wird, symbolisiert sich für Celan in der Wannseekonferenz zur »Endlösung der Judenfrage«, die am 20. Januar 1942, stattfand. Der »20. Jänner« Celans ist sein Judentum, von ihm schreibt er sich her – so wie Lenz am 20. Jänner sein »furchtbares Verstummen« erlebt, so wie Lucile nach ihrem absurd-majestätischen Ausruf hinlebt. Im »20. Jänner« schwingt der Tod mit.

Diese biographische Prägung unterscheidet die Dichtung im Sinne Celans von bloßer Artistik. Das Handwerk allein gerinnt nur zu Kunstgewerbe, Spracharithmetik oder Wortsetzperfektion ist reiner Selbstzweck, sucht nicht den verborgenen Punkt. Celan schrieb 1958:

Dichtung – das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache.

Die Kreisbewegung auf dem »Meridian«, die sie beschreibt, bringt es mit sich, daß das Gedicht im Verständnis Celans immer »unter dem Neigungswinkel seines Daseins, unter dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit« spricht.

Zum Artistischen im Sinne Gottfried Benns, gegen das Celan sich hier wendet, gehört auch das Diktum von der »monologischen Lyrik«. Celan richtet sich hingegen konsequent an ein »Du«. Das Gedicht ist in Celans Poetik ein Ort der Begegnung: das »Du«, das in seinen Gedichten angesprochen wird, steht in einem engen Zusammenhang mit dem dialogischen Denken Martin Bubers, es unterhält Korrespondenzen zur jüdischen Herkunft; es ist ein Du, das vom Ich ausgeht und den Leser meint, es bietet einen Ort der Begegnung an. »Das Gedicht ist einsam«, sagt Celan.

Es ist einsam und unterwegs.

Alles äußere Gemache der Kunst fällt dabei ab.
Das »Geheimnis der Begegnung« ist an einem unmöglichen Ort aufzufinden. Um diesen Ort weiß nur die Dichtung.

 

*

 

Die Botanik, die Geologie, das Mineralische. In Celans Sprache kristallisieren sich immer stärker die Erscheinungen der Natur. Er war ein großer Pflanzenkenner, und er beschäftigte sich intensiv mit den Zeugnissen der Erdgeschichte, mit dem Festgewordenen, das früher flüssig war, mit der starren Form, die von offenen Strukturen übriggeblieben ist. Manchmal glitzert diese starre Form in betörender Weise.

Das Glitzernde und Erstarrte prägt vor allem Winterlandschaften, ist Eis und Schnee, und Celan hat vor allem in der Glaziologie, als einer Unterabteilung der Geologie, nach seinen, nach neuen Wörtern gesucht: aus der Gletscherkunde wird Poesie. Die Sprache, in der seine Gedichte sprechen, streift das Gewohnte, Bekannte ab, begibt sich in etwas Neues, das den Mißverständnissen des scheinbar Vertrauten und Entfremdeten entgegensteht. In seiner Hinwendung zu den Termini der exakten Wissenschaften ist Celan zugleich der erste und der Radikalste: die geheimen poetischen Schwingungen im naturwissenschaftlichen Sprechen, das Flirren des Ästhetischen werden von ihm zum erstenmal ausgemessen; Gottfried Benns Naturwissenschafts-Duktus ist dagegen etwas Vertrautes.

Der Schnee, das Weiß, das Eis: da, wo das Lebbare nicht mehr aufzufinden ist, gibt es einen geheimen Umschlag, sucht sich das Leben einen neuen Fluchtpunkt in der Sprache. Diese Sprache schafft eine völlig neue Wirklichkeit, denn, wie Celan 1958 schrieb:

Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.

Das Unmögliche als bewohnbarer Ort, den die Sprache schafft – diese Vorstellung nimmt im Lauf von Celans Werk und Leben immer konkretere Formen an. Das Gedicht »Weggebeizt« ist auf diese Weise als eine Poetik Celans zu lesen – als eine Poetik im Gedicht selbst, nicht als formales Umkreisen und Benennen wie in der Büchnerpreisrede.

WEGGEBEIZT vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An-
erlebten – das hundert-
züngige Mein-
gedicht, das Genicht.

Aus-
gewirbelt,
frei
der Weg durch den menschen-
gestaltigen Schnee,
den Büßerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und -tischen.

Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.

Schon auf den ersten Blick fallen Wörter auf, die in das Gebiet der Gletscherkunde zu verweisen scheinen: Büßerschnee, Gletscherstuben und -tische, Zeitenschrunde, Wabeneis. Doch im Wörterbuch stellen sich gleich erste Irritationen ein. Manche »geologischen« Wörter Celans gibt es, manche gibt es nicht. »Büßerschnee« und »Gletschertisch« sind klassische Fachtermini; eine »Gletscherstube« hingegen fehlt ebenso wie das »Wabeneis«, und die »Zeitenschrunde« scheint von vornherein auf ein künstliches, zusammengesetztes Wort zu verweisen, in dem der geologisch dingfest zu machende »Schrund« nur die Ausgangsvorstellung ist.

Celan dichtet die wissenschaftlichen Metaphern weiter, fügt sie ein in seinen Kontext, so daß die bloße Übersetzung aus dem fachwissenschaftlichen in den poetischen Bereich viel zu kurz greift. In diesem Kosmos gibt es keine Übersetzungen mehr und Sinnvorstellungen, sondern nur noch das, was die Sprache möglich macht, mit ihren eigenen Gesetzen.

Bevor die alpinen Dimensionen erreicht werden, spricht das Gedicht sich erst frei: es entsteht aus der Abgrenzung. »Das bunte Gerede des An- / erlebten«, das »Mein-gedicht«, das »Genicht« sind Erscheinungsformen dessen, wogegen sich der »Strahlenwind deiner Sprache« richtet. Das Du, das diese Sprache spricht – es kann nur das Gedicht selbst sein, das für sich allein steht, doch auf die Begegnung mit dem Leser zuhält. Aber es spricht nicht die Sprache des Lesers. Es spricht seine eigene Sprache, und es bewahrt in sich die Hoffnung, daß Sprechen immer ein Mit-jemandem-Sprechen ist, ein Gespräch.

Das, was es »wegzubeizen« versucht, ist aber auch ein Teil des Gedichts selbst: das »An-erlebte«, vereinzelte Beobachtungen des lyrischen Ich stehen dem entgegen, worauf das Gedicht aus ist. Jegliches »An-erlebte« führt zu »buntem Gerede«: das, was also landauf, landab und -läufig unter »Lyrik« verstanden wird, soll hier hinter sich gelassen werden; die gesamten Erlebnis- und Selbstfindungsschübe, die außen und innen, Welt und Sprache 1:1 übersetzen und dadurch die Sprache ins Beliebige entwerten. Der Reim, die Natur und die Liebe können für das »wegbeizende« Gedicht nicht mehr so benannt werden, diese Wörter sind leergedroschen und bedeuten nichts. Aber das Gedicht muß sich erst davon lossprechen, es läuft immer Gefahr, davon durchdrungen zu werden.

Die Absetzbewegungen sind als Steigerung kenntlich, kulminierend im »hundert-züngigen Mein-gedicht« als »Genicht«. Im »Mein-gedicht« wird das nicht mehr gebräuchliche Präfix »Mein«, wie es nur noch in »Meineid« enthalten ist, auf das gemeine lyrische Ich übertragen: dieses spricht, in Hunderten von gleichlautenden Stimmen, von »meinem Gedicht« und wird dadurch der Falschaussage überführt. Es zerstiebt im Nichts, im »Genicht«, das in sich den größten Gegensatz zum Gedicht birgt. Im Vergleich zu dem, was nach Celans Tod in der Lyrik dominant wurde, den »neuen Subjektivitäten« und dem Alltagsparlando mit vorschnellen Identifikationsangeboten, scheint Celan eine ganz andere Gattung zu meinen.

Das Feld der Polemik, der Selbstbezüglichkeit, des Vortastens wird in der zweiten Strophe verlassen. Wir geraten ins Offene, ins Freie, und wir geraten damit in ein Feld der Sprache, das sich auf nichts Hergebrachtes, Übersetzbares, Mehrmaliges zu beziehen braucht. Der »menschen-gestaltige Schnee«, der »Büßerschnee« kündet von einer neuen Wirklichkeit.

Auf der Suche nach neuen Worten, die nicht verbraucht, noch nicht dem »bunten Gerede des An-erlebten« zuzurechnen sind, beschreitet Celan in seinen späten Gedichten mehrere Wege: Wortaufschüttungen, Zusammensetzungen, Bündelungen zu Drei- und Vierkomponentenwörtern, aber auch die Aufladung von konkreten Fachtermini mit poetischer Aura. Diese Fachtermini sind per se nicht zu besetzen mit Gefühligkeiten und Verwechselbarkeit; sie haben etwas Weißes, Neutrales. Das Weiße ist allerdings auch in sich vieldeutig: etwas Friedliches kann eine Schneedecke suggerieren, aber auch die Ahnung, was darunter verborgen sein könnte. Wo das An-erlebte zurückgewichen ist, ist zuerst nur: Schnee. Eis. Gletscherlandschaften. Als Sprachgebilde, das keine Landschaft mehr abbildet, sondern nur noch Wörter aufscheinen läßt.

Den »Büßerschnee« gibt es als solchen nur im Kontext dieses Gedichts: er steht in einem Zusammenhang mit dem »Mein-gedicht«, mit den Bindestrichagglomerationen des Anfangs, die im Prozeß der Trennung noch auf eine Dazugehörigkeit zu pochen scheinen. Doch seine »exakte« Existenz ist mit Hilfe von Fachwörterbüchern nachzuweisen. Der Germanist Gerhard Buhr, der diese Aufgabe dankenswerterweise übernommen hat, ist im Geologischen Wörterbuch von Hans Murawski fündig geworden. Hier steht unter »Büßerschnee«:

Ablationsrestformen von Schnee- (…) und Firnflächen (…). Angeschlossen an Unebenheiten der Schneeoberfläche, bilden sich bei starker Sonnenbestrahlung oder/und Windwirkung (Verdunstungssteigerung!) an stark exponierten Stellen Vertiefungen, während weniger exponierte Stellen stehen bleiben. So kann das Schneefeld in eine Schar, z.T. mehrere Meter hoher Schneefiguren, aufgeteilt werden, die dem Höchststand der Sonne zugeneigt sind.

Dem Höchststand der Sonne zugeneigt: dieses Wort zeugt schon im wissenschaftlichen Duktus selbst von einer sich verselbständigenden poetischen Qualität. Das Wort »Büßerschnee« in Celans Gedicht hat aber nicht nur deshalb eine neue poetische Valenz: es steht sperrig im Text, es versperrt ihn zunächst, unterbricht den Lesevorgang. Der Lesevorgang, um den es hier geht, ist kein einliniges Kontinuum, kein oberflächlicher Identifikationsvorgang; er ist wie in einem Gespräch ein beständiges Neuansetzen, ein Wiederanknüpfen an den Gesprächsfaden.

Daß es nachweisbar »Gletschertische«, aber keine »Gletscherstühle« gibt, tut der poetischen Konsequenz keinen Abbruch. Die Gletscherwelt dieses Gedichts ist der Ort, an dem die Dichtung zu sich selbst zu kommen versucht, und die Richtung ist eindeutig:

Tief in der Zeitenschrunde.

»Schrunde« bedeutet »Spalt« oder »Riß«. Die geographisch verortete »Gletscherspalte« verbindet Celan mit einer Zeitvorstellung, kreuzt Raum und Zeit: die »Zeitenschrunde« stellt etwas dar, wo die vertraute Zeitvorstellung aufgerissen wird, zwei Zeiten aufeinanderstoßen, sich dazwischen und davon abhängig eine zeitlose Leerstelle eröffnet. In diese dringt das Gedicht. In der Büchnerpreisrede »erlaubt« sich Celan eine »extreme Formulierung«, in der die »Zeitenschrunde« vorbereitet wird:

das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.

Vergangenheit und Gegenwart: Das Gedicht dringt in diese »Zeitenschrunde« ein und wird »beim Wabeneis« fündig. Durch die Assoziation mit Honigwaben geht das Eis eine Verbindung mit dem Lebenden, Nährenden ein – die geologischen Fachtermini haben so etwas nicht vorgesehen. »Beim Wabeneis« nun »wartet« etwas, was das Gedicht erreichen möchte, etwas Zerbrechliches und Kostbares, etwas, was durch einen Hauch zum Leben gebracht werden, mithin ins Gespräch eintreten kann:

ein Atemkristall.

Hier kristallisiert sich ein Schlüsselwort aus der Büchnerpreisrede. Lucile hat »Sprache wahrgenommen« und »zugleich auch Atem, das heißt Richtung und Schicksal«. Im »Atemkristall« liegt zugleich die – utopische – Hoffnung wie die Gefährdung der Dichtung. Es ist der Bezugspunkt dessen, was Celan in der Büchnerpreisrede einmal so über Gedichte sagt: sie seien »Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst… Eine Art Heimkehr.«

Im Erreichen des »Atemkristalls« kann es zu einer Begegnung, kann das Gedicht zu sich selbst kommen. Diese »Art Heimkehr« ist mitunter auch atmosphärisch, geographisch geprägt. So war der russisch-jüdische Dichter Ossip Mandelstam für Celan in mehrerer Hinsicht ein Vertrauter, einer, der dasselbe Schicksal hatte. Eine Strophe aus Mandelstams frühem Gedicht »Silentium« lautet in Celans Übersetzung:

O könnt ich doch, mit meinem Munde,
solch erstes Schweigen sein,
ein Ton, kristallen, aus dem Grunde,
und so geboren: rein.

Das »Atemkristall« ist auch eine Begegnung mit der Dichtung Mandelstams, mit deren »erstem Schweigen«. Das »Atemkristall« steht zwischen dem »Schon nicht mehr« und dem »Immer noch«. Die Dichtung will durch die Stummheit hindurch, sie »schickt sich voraus«.

Noch eine andere Begegnung eröffnet dieses Gedicht. Der Weg ist uneinsehbar, auf weiten Strecken dunkel, und die Sprache ändert sich auf diesem Weg. Etwas wirft in der ersten Strophe als »Strahlenwind« schon seine Schatten voraus. Es ist ein erstes »anderes« Wort, eines, das aus einer neuen Sphäre zu kommen scheint. Die ,, Sprache« des neuen, zu schaffenden Gedichts zeigt sich zuerst als dieser »Strahlenwind«, und es ist eine Fügung, die auf den exakt-naturwissenschaftlichen Metaphernbereich vorauszuweisen scheint, also mit Hilfe von Fachwörterbüchern nachgewiesen werden könnte. Gerhard Buhr setzt diesen Strahlenwind mit dem astronomisch existierenden »Sonnenwind« gleich. Für uns ist dabei vor allem von Interesse, daß sich unter den Zitaten einschlägiger Lexika, die er für den Sonnenwind anführt, auch folgendes von Karl Stumpf findet:

Die Korona befindet sich in ständiger hydrodynamischer Expansion, die durch laufende Aufheizung von unten her aufrechterhalten wird. Diese bewirkt eine Beschleunigung des Koronoplasmas, das dann schließlich als -Sonnenwind, (…) in den Raum hinausgetrieben wird.

Die »Corona« also, der Strahlenkranz der Sonne als Ausgangspunkt des Gedichts! Celan schließt mit diesem späten Gedicht und einem verschwiegenen Anklang an das frühe einen ganz eigenen Kreis. Einen Kreis, der sich gegen das entfremdende Äußere abschirmt und Bezüglichkeiten schafft, die nicht vereinnahmt werden können. Denselben Kreis, den er im Gedicht »Corona« gezeigt und den er auf andere Weise in der Büchnerpreisrede beschrieben hat.

 

*

 

Die Holzscheite in Waldersbach, sorgsam unter die Dächer geschichtet, »Monte Oberlin«, es geht bergauf – es gibt keine weißen Siedlungshäuser, alles ist locker verstreut und hingeduckt, wenn man von der Waldlichtung darauf blickt.

Der Schnee ist matschig, stockig, der Regen weicht ihn auf und nimmt ihm seine weiße, abweisende Eleganz – »die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee«, aber darunter dieses aufplatzende Wiesengrün und die Flecken von ermattendem Schnee, der sich im fetten dumpfen Gras wäßrig auflöst. Naß, krank, so ist der Schnee, es ist nicht das Kalte, Trockene, mit blauem Himmel, das das Steintal prägt, es ist dieses Bodenlose, Versinkende, umstanden von den trotzenden Krüppelbirken und kargen Fichtenstämmen. Im Wald vor Waldersbach, man geht über Lichtungen und unscheinbare Hochsitze der Jäger von Blancherupt, die sich zwischen den schütter aufragenden Stämmen verstecken, liegen Stämme quer zwischen Gräsern und Bäumen; sie verfaulen langsam unter dem sich hinschmirgelnden Schnee; auf einem Stamm machen sich große, breitschwammige Pilze breit, die auf der Oberseite des morschen Holzes thronen, ihre feuchte Masse dem grauverhangenen Himmel entgegenhalten.

Der Blick auf Waldersbach hat sich seit zweihundert Jahren wenig verändert. Es sind lose Häuser, die wenig Aufhebens von sich machen; und geht man die Wege zwischen den Häusern entlang, fallen einem die Brunnen ins Auge, die in fast jedem Gehöft sind: in große steinerne Tröge fällt das Wasser, eine zentrale Wasserversorgung scheint hier fast anachronistisch, wo jedes Haus verschwiegen seinen eigenen Brunnen hat. Die paar Häuser des Ortes fallen auf, jedes ist im Blickfeld, selbst am Hang zur Kirche hin, die mit dem Musée Oberlin daneben prangt und mit Mairie und Ecole gleich anbei.

Waldersbach liegt in einer Höhensenke; hinter dem Kirchturm geht es steil hoch, und der Friedhof liegt am Ende einer Welle, man hat von ihm aus den ganzen Blick über das Dorf. Die karge Zeit: jeder Verlobte mußte über eine lange Zeit hinweg einen Baum pflanzen, und diese »Verlobtenallee« erstreckt sich oberhalb des Friedhofs, führt in die Vogesenwälder, die nicht lieblich sind, sondern hart.
Lenz »kam vom Steintal herauf«, von Straßburg her, sein Blick auf Waldersbach muß so ähnlich gewesen sein, wie es noch heute ist. Im Wald sind die Fichten vor Waldersbach in Reih und Glied gepflanzt, im selben Abstand voneinander ausgezirkelt, und nach ein paar Reihen ist immer ein schmaler Abflußgraben eingezogen, der das Wasser talwärts schleust. Penible Ordnung in karger Umgebung, der Weg zum Pfarrhaus hinauf ist wie eine Verengung, alles spitzt sich darauf zu, und die Kirche, so bescheiden sie sich ausnehmen mag, prunkt an einem trigonometrischen Punkt, der alles drumherum in den Bann zieht.

Die Kirche wirkt wie stehengeblieben. Grobe Holzbänke, dunkel gebeizt, in der Mitte, der tonangebende Platz neben dem Altar, steht ein eiserner Holzofen, dessen Rohre sich auf halber Höhe kreuzen und zum Dach hinauswachsen; die Holzscheite sind in einem Verschlag direkt neben der vordersten Kirchenbank zu sehen.

Oberhalb der Kirche steht ein geducktes Haus, über dessen Tür die Jahreszahl 1728 eingemeißelt ist, schräg davor ein Brunnen, aus dem Wasserrohr über dem Trog peitscht das Wasser in unregelmäßigen Strahlen heraus – dies könnte das Urbild für Oberlins Pfarrhaus bei Lenz sein. Das heute reale Pfarrhaus, das zum Oberlin-Museum geworden ist, steht der Kirche frontal gegenüber: ein in dieser Umgebung herrschaftlich wirkendes Gebäude, mit einem Vorhof und einem überdachten Nebentrakt.

Das Oberlin-Museum ist im Winter geschlossen, am 20. Januar also auch. Man muß eine Führung vorher telefonisch vereinbaren. Als wir vom Friedhof zurückkommen, sehen wir, daß das Eisengatter zur Straße hin plötzlich offen steht. Auf unser Klingeln hin öffnet uns ein junger pastoral wirkender Mann, der uns für die Vorposten einer Schulklasse hält. Seine Führung durch die drei Zimmer des Oberlin-Museums beginnt er denn auch, ein bißchen amüsiert, damit, daß jedes Jahr am 20. Januar eine Schulklasse aus Deutschland angekündigt sei:

Wir Franzosen finden das etwas seltsam, wir kennen Lenz nicht, wir kennen Büchner nicht.

Der diesjährige Leistungskurs Deutsch hat seine grellfarbenen Rucksäcke im kurzen Flur deponiert, wir können kaum die Tür nach draußen öffnen.

Oberlin hat viel gemessen und gerechnet. Und er hat das Lineal auch bei seinen Schäfchen angelegt – überall finden sich Scherenschnitte und Gesichtsprofile, die der Schule seines Lehrmeisters Lavater entsprungen sind, des Schweizer Physiognomikers. Meßinstrumente, Lineale sind in den kleinen Räumen auch als Ornamente ausgestellt, und der Scherenschnitt Oberlins selbst weist eine exakt durchgezogene Linie von der Nasenwurzel bis an den Scheitelpunkt des Gehirns auf, dabei ist in der Gesamtgestalt etwas Buckliges zu erkennen, etwas Gedrungenes. Hier ging es gemessen zu, hier hatte alles seine Ordnung, und als wir von einer Bediensteten einen kleinen Führer durch das Museum erhalten, merken wir beim Blättern, wie es gelagert war: ungelüftet, stockig, in protestantischen Regalen wie Kartoffeln gehalten. Da ist kein Weihwasserschwenk spürbar, der die Luft vielleicht ein bißchen durchdrungen hätte; trocken, muffig entbietet es seine knappen Informationen.

Hier endete Lenz im Gebirg, und er geriet ins Vermessende Oberlins: die kleinen Fachwerkhäuschen mit den sorgsam aufgeschichteten Holzscheiten unter dem Vordach künden davon, daß es hier keinen Rausch gibt, und daß die Dunkelheit in der Nacht maßlos ist und früh beginnt.

 

*

 

In den Hochmooren des Schwarzwalds, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Landschaft der Bukowina aufweisen, stößt man auf botanische Zeugnisse, die wie Worte aus Gedichten Celans wirken. »Kaum in Freiburg angelangt, äußerte er den Wunsch, ein solches Moor zu besuchen«, schreibt Gerhart Baumann in seinem Erinnerungsbuch. Liest man heute die Erklärungstafeln im Horbacher Moor, führt dies ins Vorfeld von Gedichten:

Anmooriger Fichtenwald; zwischen Torfmoospflastern gedeihen Rippenfarn, Waldbärlapp und Herzförmiges Zweiblatt. Im Hintergrund Fieberkleesumpf.

Oder:

Zögernder Wasserabfluß bewirkt die Bildung flachmoorartiger Quellsümpfe, mit Fieberklee, Blutauge und Sumpfpippau.

Baumann, der in seiner Beschreibung gewisse philosophisch-existentielle Übereinstimmungen zwischen Heidegger, der bei der Moorbegehung anwesend war, und Celan konstatiert, läßt eines außer acht: auch was bei Heidegger Sumpf bleibt, ist bei Celan genauer Wortsinn.

Das Abstrakte, die Wissenschaft: die Poesie verschmilzt mit der Erkenntnis. Im Marbacher Archiv, das auch Celans Bibliothek erworben hat, kann man überraschende Funde machen: das Gedicht »Nah, im Aortenbogen« ist auf der inneren Umschlagseite des Bandes Der Körper des Menschen aus dem Thieme Verlag niedergeschrieben – vom Konkreten, das sich als wissenschaftliche Abstraktion zu erkennen gibt, geht das Gedicht aus. Das Wörterbuch, das etymologische Lexikon, Fachwörterbücher in den bevorzugten naturwissenschaftlichen Disziplinen – Celans späte Gedichte brauchen derlei Hilfsmittel, sie spielen mit Ebenen, von denen sich manche bis zur Unkenntlichkeit tarnen. »Ich erwähnte«, schreibt die amerikanische Studentin Esther Cameron über ein Gespräch mit Celan, »daß ich kürzlich in einem Buch über Mineralogie auf das Wort ›Tracht‹ (,angelagert dem kleinen / Kristall in der Tracht des Schweigens‘) gestoßen sei. ›Das haben Sie gemerkt‹, sagte er, und es schien, als ob ich ihm zum erstenmal gefiele.«

Die langsame, stetige Verkarstung der Celanschen Sprache von Mohn und Gedächtnis bis zu den letzten Gedichten in Lichtzwang und Schneepart nimmt die Zivilisationsreste auf, legt das Augenmerk auf das Abseits, auf »Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt«. Bei Celans Beerdigung, an seinem Grab, wurde kein Wort gesprochen.

Die Entwicklung von den Wortblüten zu den Wortresten trägt den zeitgeschichtlichen Wortverläufen Rechnung: von immer mehr Seiten her wird den Worten ihre Authentizität geraubt; der mediale Durchschuß zerstört den Bedeutungshof immer stärker, bis zur Lückenlosigkeit. Dagegen sperren sich Celans Worte. Sie igeln sich ein. Der romantische, der surrealistische, der moderne Traum um die Worte wird radikal zurückgenommen. Pflöcke aus der Wissenschaftssprache, aus vergangenen Sprachen, aus der unliterarischen Benennung ragen aus den Gedichten und schützen sie vor der trauten Rezeption. Das Jüdische, das Mystische, das Vordringen bis in des Wortes ursprünglichster Bedeutung: das Lebendige kristallisiert sich.

Stein, wo du hinsiehst, Stein.

Die Assoziationsfaden zwischen den einzelnen Worten im Gedicht werden immer dünner. Jedes von ihnen scheint sich seine eigene Schutzzone zu schaffen, jedes einzelne schafft sich sein eigenes Schloß und seinen eigenen Schlüssel. Dahinter verbirgt sich ein Terrain, in das sich das Lebbare zurückgezogen hat, kaum noch auffindbar. Das Gedicht muß im landläufigen Sinn immer »unverständlicher« werden, um sich möglich zu machen. Die einzige Chance, die Literatur heute hat, liegt in dieser Unverständlichkeit.

Celan hat die Moderne – das bürgerliche und spätbürgerliche Ich – in all ihren Verästelungen nachgezeichnet und ist ihr bis ans letzte Ende gefolgt. Seine Gedichte stehen im zwanzigsten Jahrhundert da wie ein Monolith. Doch die Subjektivität, die sich in Celans Gedichten ausdrückt, hat in sich bereits alle Formen aufgesogen, und hinter all diesen Formen schimmert etwas durch, was sich noch bewahrt hat: das Leben in der Literatur.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag, 1996