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Friedrich Rückert: Wohl endet Tod

Wol endet Tod des Lebens Noth,
Doch schauert Leben vor dem Tod.

Das Leben sieht die dunkle Hand,
Den hellen Kelch nicht, den sie bot.

So schauert vor der Lieb’ ein Herz.
Alswie vom Untergang bedroht.

Denn wo die Lieb’ erwachet, stirbt
Das Ich, der dunkele Despot.

Du laß ihn sterben in der Nacht,
Und athme frei im Morgenroth.

Hans Magnus Enzensberger: Mag sein (Hypothese)

Mag sein, daß des Lebens Not eines Tages zu Ende geht;
wenn du sterben solltest. Ich weiß es nicht,
doch ich glaube, du neigst dazu, vor dem Tod
zu erschrecken. Mir ist, als sähest du,
solange du lebst, nur die Hand, die dir dunkel scheint,
und kaum je den helleren Kelch, den sie dir bieten mag.
Niemand weiß es. Ebenso weicht vielleicht dein Herz
vor der Liebe zurück, fast so, als wäre sie
eine Bedrohung, eine Art Untergang,
der dir bevorstünde. Möglich ist es ja,
daß dich, wo sie erwacht, eine Ahnung heimsucht,
als könnte es mit deinem Ich zu Ende gehn,
ein vages Gefühl, als verlöre es seine Macht,
die dir in einem solchen Augenblick vorkommen mag,
als sei sie dunkel, als beherrsche sie dich.
Ich weiß es nicht; doch ich frage mich manchmal,
ob dich dann nicht der Wunsch beschleicht,
dieses Ich zu verlieren, und der Gedanke,
daß die Dunkelheit nur eine Zeitlang anhalten wird
und daß dein Atem – wer kann das wissen! – sogar
freier ginge – verzeih, ich vermute es nur –,
wenn dir am Ende ein anderer Tag bevorstünde,
heller vielleicht – was weiß ich – als der heutige.