ORTE PAUL CELANS

 

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Es gibt eine ukrainische Stadt, die »Tscherniwzi« heißt und am Rand gelegen ist, vierzig Kilometer vor der Grenze zu Rumänien. Es ist schwer, dorthin zu kommen – als es noch die Sowjetunion gab, war es als Tourismusziel nicht vorgesehen, und heute sind die verkehrstechnischen wie die politischen Umstände unabwägbar, zumal, wenn man Individualreisender ist und nicht mit dem Auto fährt. Fahrkarten sind im Land selbst fast nicht zu haben, weil eine darauf spezialisierte Mafia sofort alle aufkauft und zu Sonderbedingungen unterderhand weitergibt; man wartet oft tagelang auf eine Reise. Die Eisenbahnfahrt von Berlin dauert planmäßig 38 Stunden. Eine relativ unkomplizierte Flugverbindung gibt es zwar in die Hauptstadt Kiew, aber »Tscherniwzi« – die Angestellte im Berliner Büro der Aeroflot fragt mehrfach nach, wie diese Stadt denn noch mal heiße, und sie findet schließlich auch heraus, daß es einmal am Tag einen Flug von Kiew in dieses Tscherniwzi gibt: aber »ohne Gewähr«, und ein Ticket könne nur in Kiew ausgestellt werden.

Der Weg über Rumänien, der Weg, den auch die Geschichte gegangen ist, erscheint am plausibelsten. Paul Celan hat sich 1945 von Czernowitz nach Bukarest durchgeschlagen. In Suceava, dem Zentrum des rumänischen Teils der Bukowina und ungefähr vierzig Kilometer von der Grenze entfernt, gibt es einen Flugplatz, und es ist kein Problem, von Bukarest dorthin zu kommen – es bleiben die achtzig Kilometer bis Tscherniwzi, es bleibt die Grenzüberschreitung.

Der Flughafen von Suceava, auf dem die Propellermaschine mit dreißig Insassen landet, liegt auf einer kahlen, menschenleeren Hochfläche, die schrägen blauen Buchstaben »Suceava« auf dem kleinen Flughafengebäude künden von Ferne und Entlegenheit. Wir steigen in einen klapprigen »Dacia«, die rumänische Lizenzversion des Renault – der Taxifahrer will uns für dreißig Dollar zur Grenze fahren. Nach zwei Kilometern platzt ein Hinterreifen, und wir stehen, während der Fahrer das Reserverad auspackt, unter den ausschweifenden Kirschbäumen der Bukowina – die einstöckigen Bauernhäuser drumherum sind alle in leuchtenden Farben bemalt und auch, wenn Jahreszahlen wie 1969 oder 1980 über der Tür stehen, im traditionellen Stil gebaut. Bei der Weiterfahrt sehen wir manchmal Mädchen an der Straße, die eine Kuh an einem Strick halten und am Straßenrand grasen lassen, die Fahrzeuge sind meistens Pferdefuhrwerke.

Vor der Grenze steht eine lange, bewegungslose Schlange von Lastwagen, keine Autos. Halt ist an einer Eisentür und einem Stacheldrahtzaun. Der Grenzposten in seinem Wärterhäuschen kann mit uns wenig anfangen. Als wir ihm das ukrainische Visum zeigen, führt er uns nach einer Weile vor eine Baracke, vor der wir warten sollen.

Die Mittagshitze breitet sich langsam aus, und wir warten lange. Drinnen schart sich eine Gruppe um einen langen steinernen Tisch, es handelt sich wohl um den Zoll. Einer der Uniformierten erklärt sich für nicht zuständig, das seien die in den anderen Uniformen, die ab und zu mal durch den Raum gehen. Sie gehen ziemlich schnell und betriebsam durch den Raum, verschwinden hinter Türen und kommen wieder daraus hervor; was sie machen, ist völlig unklar. Als sich einer von uns angesprochen fühlt, hält er kurz inne, betrachtet die Pässe und verschwindet mit ihnen. Kurze Zeit später kommt von dort ein beleibter, großer Mann mit vielen Abzeichen auf der Uniform und beginnt plötzlich ungeheuer laut zu brüllen; er meint die Leute, die um den steinernen Tisch herumstehen und Lastwagenfahrer zu sein scheinen. »Raus«, schreit der Beleibte unmißverständlich, dann geht er wieder.

Zu uns kommt dann ein Beamter, der ein bißchen deutsch spricht und sagt:

Sie können weiter. Aber der Russe macht Schwierigkeiten!

Es sind ein paar hundert Meter Niemandsland zwischen der rumänischen Seite und dem ukrainischen Zaun. Auf der schmalen Schotterstraße ist die ganze Zeit über kein einziges Fahrzeug gefahren. Wir sehen Stacheldraht an den Seiten, und die Straße ist versperrt von einem metallenen Gatter. Zehn Meter dahinter befindet sich ein Wärterhäuschen, vor dem, abgewandt, zwei sehr junge Burschen in Uniform sitzen. Sie kritzeln mit Holzstecken irgendwelche Linien in den Straßenstaub und nehmen überhaupt keine Notiz von uns, als wir »Hallo« sagen und mit den Pässen winken. Nach langem Bemühen bequemt sich doch einer zu uns ans Gatter, schaut in die Pässe, schaut sich das ukrainische Visum an, und sagt »Njet«. Er macht keine Anstalten, eine andere Sprache zu sprechen als seine, sagt ein paar karge Worte, deren Schlußbogen wieder in einem »Njet« endet.

Wir müssen Geduld haben. Immer mal wieder versuchen wir, ein Gespräch anzuknüpfen, aufs ukrainische Gebiet zu zeigen: »Da wollen wir hin«, Viertelstunde um Viertelstunde vergeht. Irgendwann sagt der Grenzer das Wort »Autobus« und zeigt unbestimmt ins Weite, und wir ahnen: zu Fuß geht also wohl gar nichts, aber wenn wir einen »Autobus« finden…

Wir warten. Irgendwann fahren drei Autos bis ungefähr hundert Meter vor das ukrainische Gatter, halten, warten anscheinend auf ein Zeichen. Als wir uns aufmachen, mit den Fahrern ins Gespräch zu kommen, greift der Türhüter zum Telefon und ruft uns nach kurzer Zeit zurück. Es ist wohl ein Vorgesetzter, der da kommt, plötzlich wird uns das Gatter aufgemacht, und wir folgen dem Vorgesetzten in seine Baracke. Es ist ein großer, kahler Raum. In der Mitte des großen, kahlen Raumes steht einsam und verloren eine Abfertigungskabine, wie wir es von der DDR, vom Bahnhof Friedrichstraße her kennen: man muß einzeln vor den Spiegel treten, hinter dem ein Grenzbeamter unter einem Pult uneinsehbare Verrichtungen macht, hinter einem ist oben ein Spiegel angebracht, und man schaut und schaut und wartet auf seinen Paß. Der Vorgesetzte bittet uns, mitten im kahlen Raum, nacheinander in diese Abfertigungskabine, nimmt drinnen auf einem Stuhl Platz – auf einmal ist der Bahnhof Friedrichstraße, der Eintagesaufenthalt in der Hauptstadt der DDR, den man völlig aus dem Gedächtnis getilgt hatte, wieder gegenwärtig.

Wir müssen eine Treppe hoch, zum Zoll, die beiden jungen Herren sind irritiert, daß da jemand kommt, und lassen uns endlose Formulare ausfüllen, in denen Haschisch und Atomwaffen eine Rolle spielen. Sie fragen, wie wir denn hierher gekommen sind und wie wir weiterkommen wollen. »Taxi«, sagen wir – da bedeutet einer der beiden, ein Sprechfunkgerät in die Hand nehmend, »kommt mit«, und wir folgen ihm auf der kleinen Schotterstraße.

Er hält auf eine unscheinbare Wellblechbaracke zu, ohne Fenster, die Tür rückwärts zur Straße, er ruft ein paar kurze Worte hinein und geht dann weg. Was wir drinnen sehen, ist ein die ganze Breite des Raums einnehmendes Pult. Hinter ihm sitzt ein etwas dicklicher, vierzigjähriger Mann, der seine Beine auf das Pult gelegt hat. Als er uns sieht, ruft er aus, auf deutsch:

Hallo, guten Tag, was kann ich für euch tun?

Er ist sechs Jahre in Karlshorst gewesen, bis 1988 – der Standort der Roten Armee in Ostberlin. »Deutschland ist sehr schön«, sagt er lachend, »große Dichter! Heinrich Heine!« Und er skandiert:

Sie predigen öffentlich Wasser und trinken heimlich Wein!

Bevor wir Atem holen können, fährt er fort:

Und gutes Bier gibt es dort! Holsten-Bier! Ein hervorragendes Bier!

Na ja, der gute Mann wird dieses Bier aus Hamburg zu seinen Karlshorster Zeiten bestimmt nicht wahrgenommen haben. Aber er fährt nach einer Kunstpause listig fort:

Holsten-Bier! Das haben wir übrigens jetzt auch, da vorne am Kiosk!

Und ob er sein Bier kriegt. Wir können in einen rumänischen Bus einsteigen, »Cernauti« steht an der Frontscheibe. Er muß schon stundenlang da gestanden haben, wir sehen das an den zwei anderen Bussen, die ebenfalls sehr alt und verrostet sind, aber alle verfügbaren Klappen und Luken aufgemacht haben und über einem Schacht stehen, von dem aus mit Spiegeln und Taschenlampen operiert wird. Seitlich, an der Grenze, von Stacheldraht eingezäunt, sehen wir plötzlich eine Art Koppel, auf der Hunderte von Menschen stehen, zusammengedrängt, mit Sack und Pack. »Was ist das?« fragen wir.

Das sind Leute aus den umliegenden Dörfern, die zu Fuß über die Grenze wollen!

Der Bus fährt an. Wir sind in der Ukraine. Über dem Fahrer hängt ein großes orthodoxes Jesus-Bild im Bus, golden Glückseligkeit verströmend. Die Landschaft ist anders als auf der rumänischen Seite, recht eintönig, große leere Felder, die Häuser karg und grau. Langsam tuckert der Bus die Straße lang.

 

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Paul Celan dachte in den sechziger Jahren öfter einmal daran, nach Czernowitz zurückzukehren. An seinen Jugendfreund Gustav Chomed, der am Fuße der steilen Töpfergasse wohnte, schrieb er 1961:

Nicht nur die Töpfergasse war menschlich.

Das Land, in dem Menschen und Bücher lebten, schien real einholbar zu werden.

Tscherniwzi ist eine Vision. Die Stadt ist in ein gleißendes südliches Licht getaucht, unter einem blauen Habsburgerhimmel. Diese Stadt ist aus dem Jahr 1910. Sie hat ein bißchen Patina angesetzt, aber diese gelben, diese ornamentalen, diese Stuck-Fassaden atmen den Geist von Kaiser Franz Joseph, den Geist der Romane von Joseph Roth. Der gesamte historische Kern von Czernowitz ist da, als sei nichts gewesen. Die steile Hauptstraße vom Bahnhof aus, auf der manchmal der Straßenbahn die Bremsen versagten; der zentrale Ringplatz mit dem Glockenturm des Rathauses aus dem Jahr 1849, die Herrengasse, der Corso, auf dem die Bürgerwelt des Abends flanierte – soviel Habsburg war nie.

Auf dem Theaterplatz, dem früheren »Elisabethplatz«, sind wir mit einem Augenblinzeln in der Jahrhundertwende. Das Theater, luftig und leicht hingesetzt vom Wiener Architektenbüro Hellmer & Fellner, ist kein wuchtiger, ehrfurchtheischender Bau, sondern es hat etwas Schwebendes. Hat einen freien Platz gelassen vor sich und eine parkähnliche Anlage mit verschnörkelten Bänken und Rosensträuchern. Links vom Theater, in dem unter anderem der Tenor Josef Schmidt seine Weltkarriere begann, erhebt sich das Jüdische Haus – jede Volksgruppe hatte zu Zeiten des selbständigen Kronlandes Bukowina ein eigenes Haus, zu Versammlungen und Kulturveranstaltungen. Das jüdische hat eine verspielte, blauschimmernde Fassade mit vielen Verzierungen, der Adler huldigt dem Kaiserreich, auf dem Giebel ist die Jahreszahl »1908« zu erkennen.

Und rechts vom Theater befindet sich das alte Redaktionsgebäude des Czernowitzer Tagblatts, klassizistisch, aber ins Südlich-Luftige hineinträumend wie ganz Czernowitz. Daneben, im Erdgeschoß des Bukowiner Handelsvereins, lassen die großen Fenster das Leben im Kaisercafé ahnen; es fehlte nicht viel, ein paar Tische hinausgestellt und ein Kellner, der kommt, und im Zentrum von Tscherniwzi stocherte Gregor von Rezzori noch einmal in seinen Jugenderinnerungen, schrieb Ninon Ausländer noch einmal ihre seitenlangen Bewunderungsbriefe an Hermann Hesse, die später in eine Ehe münden sollten, bereitete Wilhelm Reich sich noch einmal darauf vor, die Lehren des Sigmund Freud vom Kopf auf die Füße zu stellen. Diese Stadt ist viel mehr Czernowitz, als Heidelberg Heidelberg ist.

Drumherum ist sowjetisches Neuland. Die Stadt hat 260.000 Einwohner, und über dem Kern, der sich dem Cecina-Hügel hinaufziehenden Altstadt, breitet sie sich aus. Mitten in diesen Wohnungsschächten, die aussehen wie überall in der Ukraine, befindet sich auch das Hotel Tscheremosch – der einzige Ort, in den sich ausländische Touristen einquartieren dürfen, zu buchen immer noch über Intourist Moskau: ein Bau aus dem Ende der achtziger Jahre, mit zehn Stockwerken und einem martialischen Eingang aus Stahlbeton und trübem Glas; im riesigen Foyer hat man immer den Eindruck, so sommerlich es auch sein mag, draußen würde es regnen.

Das Hotel Tscheremosch scheint eine Option auf die Zukunft gewesen zu sein – eine Option, die immer noch uneingelöst ist. Es sind vielleicht zehn Gäste in diesem Riesenhotel, die frühstücken. Dennoch ist das Hotel voller Leben. Es scheint vor allem ein Treffpunkt für die besseren Kreise von Tscherniwzi selbst zu sein meist jüngere Leute, die in diesen chaotischen Zeiten obenauf schwimmen: abends, im Restaurant, spielt eine Tanzkapelle auf, deren Weisen zwischen dem ukrainischen Nationallied und englischsprachigen Hits aus den siebziger Jahren irrlichtern. Aber die elektrische Verstärkung ist gewaltig, der Riesensaal ist ausgefüllt, und die Damen, die bunte Plastikbekleidung tragen, haben viel Chemie für ihre platinblonden Haare aufgewandt.

Auch tagsüber bewegen sich im Foyer viele Leute, die auf irgend etwas zu warten scheinen. Die Cafébar in einem Seitentrakt des Foyers ist der Treffpunkt für die jungen Geschäftemacher in Jeansjacken und abgewetzten Aktenkoffern; hier werden uneinsehbare Dinge verhandelt, und auch einige Damen tauchen auf, deren Plastik noch enger anliegt als gewöhnlich. Dies sind Zeiten des Spekulantentums und der Mafia, die Inflation in der Ukraine ist galoppierend, und man ist untereinander so sehr beschäftigt, daß man mit den wenigen Touristen noch gar nichts anfangen kann. Kaum jemand im Hotel spricht eine Fremdsprache, die Kellnerinnen schon gar nicht; es existiert auch keine Speisekarte – man ist auf Gestisch-Mimisches angewiesen und auf die Überraschung, ob im schönsten Wort in der kurzen Aufzählung der Kellnerin auch das am ehesten Eßbare enthalten sei.
Dies ist eine andere Stadt als die habsburgische da unten, am Hang. Aber für die, die in Tscherniwzi wohnen, ist es das Zentrum, und das Hotel Tscheremosch scheint für die Sehnsüchte zu stehen. Mit dem alten Kern kann man in Tscherniwzi nicht viel anfangen. Es gibt keinen Stadtplan, und in den Buchhandlungen finden sich zwei Bücher, die als Anhaltspunkte dienen können: ein Bildband über die Bukowina und ein Stadtführer von Tscherniwzi. In beiden Büchern, noch zu Zeiten der Sowjetunion gedruckt, ist man stolz auf die modernen Errungenschaften, zeigt das Hotel Tscheremosch vor, das Stadion und die Schwimmbäder; auch der Revolutionsgeschichte sowie ukrainischen Volkstrachten ist breiter Raum gewidmet. Über das Stadtbild heißt es eher verschämt, daß es in der Innenstadt von Tscherniwzi »noch viele Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert« gebe; und die wenigen Bilder vermitteln kaum einen Eindruck davon.

 

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In der Landhausgasse, die vorübergehend nach dem ukrainischen Politkommissar Schors benannt wurde und jetzt dem ukrainischen Kardinal Scheptinski huldigt, wohnt der jiddische Dichter Josef Burg. Er ist 1912, geboren, und er ist der letzte Dichter in Osteuropa, der auf jiddisch schreibt – Fabeln in der Tradition Itzig Mangers oder Eliser Steinbargs. Nach Eliser Steinbarg ist auch die neugegründete jiddische Gesellschaft benannt, der Josef Burg vorsteht. Im alten »Jüdischen Haus«, das zuletzt einen Kulturclub der Leichtindustrie beherbergte, hat die jüdische Gemeinde von Tscherniwzi jetzt wieder zwei Räume zur Verfügung gestellt bekommen, im Zuge der Umwandlung in ein Kulturhaus der Stadt. Als wir das Haus betreten findet gerade eine Abiturfeier statt. Im großen Saal im ersten Stock, den auch die jüdische Gemeinde zu Veranstaltungen benutzen kann, ertönt jedesmal eine Blasmusikfanfare, live und schmissig, wenn ein Schüler das Podium betritt und seine Urkunde abholt.

Das Treppenhaus hat noch die Fensterscheiben aus dem Jahr 1908, mit weißen Schmuckgravuren. Und im Treppengeländer waren inmitten der Eisenverstrebungen lauter kleine Judensterne eingearbeitet – nach dem Krieg hat man sich in mühevoller Kleinarbeit daran gemacht, jeweils zwei äußere Dreiecke von den Judensternen abzusägen, so daß nur noch anonyme Rauten übrigblieben. Die beiden Räume der jüdischen Gemeinde sind klein. Jeden Samstag trifft man sich hier, und es gibt auch Sprachkurse – an den Wänden hängen Landkarten und Landschaftsansichten von Israel auf der einen, Zeichnungen von den Konzentrationslagern und Deportationen in der Bukowina und »Transnistrien«, der Ebene jenseits des Dnjestr, auf der anderen Seite.

Als Josef Burg im Veranstaltungssaal seinen achtzigsten Geburtstag feierte, kamen 800 Leute. Dies ist wohl ungefähr auch die Zahl der Einwohner von Tscherniwzi, die mehr oder weniger aktiv ihr Judentum vertreten. Josef Burg spricht davon, daß es heute noch 10–12.000 Juden in Tscherniwzi gebe – doch die sind meistens passiv und sprechen alle russisch.

Die Juden haben ihr Czernowitz geliebt. Als die Deutschen im Sommer 1941 einfielen, blieben die meisten und flohen nicht mit der Roten Armee in die Sowjetunion. Josef Burg gehörte zu der Minderheit, die sich der Roten Armee anschloß. Deshalb hat er die Judenverfolgung der Nazis nicht erlebt – wohl aber den Antizionismus Stalins, den Wechsel von Judenverfolgung und relativ liberalen Phasen. Erst in den sechziger Jahren kehrte Josef Burg, nach vielen Ortswechseln innerhalb der Sowjetunion, nach Czernowitz zurück. Burg entstammt nicht einer Familie, die sich assimilierte: bei ihm zu Hause, in einem karpatischen Gebirgsdorf, wo sein Vater Flößer und Holzfäller war, wurde jiddisch gesprochen. Es ist ein sozialer Unterschied gewesen zu den jüdischen Kaufleuten im Zentrum der Stadt, mit ihrem Blick nach Wien und zum Kaiser: Burg spricht von den »Chedernächten«, der jüdischen Schule, die ihn geprägt haben und die ihm Halt gaben. Wenn Burg über das Leben im heutigen Tscherniwzi spricht, ist das ein charakteristisches Changieren zwischen Klage und Gleichmut. Briefe werden immer wichtiger, und die Verbindung zur Welt hat der Briefträger:

Hat er eine Laune, gibt er sie ab, hat er keine Laune, gibt er sie nicht ab.

Burg spricht von seinem Abstand zu Celan: Celan sei deshalb am Leben verzweifelt, weil er vor seiner jüdischen Identität geflohen sei, sich assimiliert habe.

Acht Kilometer von Czernowitz entfernt, jenseits des Pruth, des breiten elegischen Flusses, liegt Sadagora. Dort gründete 1841 der Zaddik Israel Friedmann das Zentrum des Chassidismus, der volkstümlichen Reformbewegung innerhalb des Judentums. Die Residenz des Zaddik in Sadagora wurde zu einem Mittelpunkt der ostjüdischen Welt, selbst ein Gedicht Celans spielt darauf an:

Eine Gauner- und Ganovenweise gesungen zu Paris Emprès Pontoise von Paul Celan aus Czernowitz bei Sadagora.

Sadagora ist eine von Industriebauten umstellte, eher gesichtslose Kleinstadt; als wir dem Taxifahrer etwas von »Synagoge« und »Judentum« sagen, zuckt er mit den Achseln. Er fährt aber instinktiv vor ein Fabrikgebäude, das bei näherem Hinsehen für ein Fabrikgebäude sehr untypisch ist: tempelartige Türme, prächtige Backsteinmauern mit nunmehr abblätterndem Rot. Daß es sich um einen metallverarbeitenden Betrieb handelt, sieht man an einem Anbau, wo einige Maschinen rattern. Als wir in das Hauptgebäude eintreten, stellen wir fest, daß es innen einen einzigen, kahlen Raum gibt: niemand ist hier. Von der Eigentümlichkeit des Baus, die von außen erkennbar ist, ist innen nichts mehr zu spüren. An den Wänden blättert der Verputz, darunter ahnt man gelegentlich Reste von Ornamenten. Der Boden ist uneben und erdig, an einigen Stellen stehen Pfützen mit Maschinenöl.

 

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Auf dem Weg zu Paul Celan, in der Josefsgasse, steht auf einem Kanaldeckel:

Pittel & Brausewetter, Wien.

Hier, im oberen Stadtviertel, östlich der Herrengasse mit ihren Cafés, den Geschäften mit Galanteriewaren und den Maklerbüros, wohnte der jüdische Mittelstand. Es sind gediegene Gründerzeithäuser, wenig Autos auf dem Pflaster, aber viele Bäume, die mit ihrem satten Grün das Gelbliche und Rötliche der Fassaden um so mehr betonen. Wir können uns auf einem alten Stadtplan orientieren: die Töpfergasse, nach der sich Celan in den sechziger Jahren zurücksehnte, als er auch die »Gauner und Ganovenweise« schrieb und russische Juden wie Mandelstam als Identifikationsfiguren entdeckte, die Wassilkogasse, wo sein Geburtshaus war, die Metzgergasse, wo seine Tante wohnte, bei der er oft die Ferien verbrachte.

Das erste Gedicht im ersten Gedichtband Der Sand aus den Urnen, das Celan sehr früh, wohl als Achtzehnjähriger geschrieben hat, beschreibt die frühe Wahrnehmung in der Wassilkogasse:

Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.

Die Dreizimmerwohnung muß für ihn sehr eng gewesen sein; der strenggläubige Vater, der ihn oft zur Strafe im Zimmer zum Hinterhof hin einschloß, die kleine, geschlossene Welt, kaum Besucher.

Es gibt keine Kastanien mehr in der Wassilkogasse, die jetzt nach dem ukrainischen Schauspieler Saksaganski heißt. Und von der Dunkelheit, vom Schatten, von der Enge ist auch nichts mehr zu spüren: junge Akazien stehen zierlich am Straßenrand, und die kurze Straße hat fast etwas Elegantes. Man hat Celan mittlerweile entdeckt in der Nordbukowina, die Partnerregion Kärnten hat ein bißchen dazu beigetragen, und am Geburtshaus ist eine Gedenktafel angebracht. Als wir im Hausflur stehen, kommt eine Dame aus dem ersten Stock und meint, daß es gar nicht so sicher sei, daß die Wohnung Celans im Erdgeschoß gewesen sei, neulich habe ein Herr aus Wien zu ihr gesagt, ihre Wohnung, im ersten Stock, sei es gewesen…

Der Garten im Hinterhof, der auf den jungen Celan wie ein Gefängnis gewirkt hat, ist hell und grün. Man hat einen Trennzaun, einen Schuppen beseitigt. Die Rückseite des Hauses, dessen Fassade zur Straße hin fast festlich gelb erscheint, ist verkleidet mit grauen, schieferähnlichen Platten, die sich bei näherem Hinsehen als Preßkarton erweisen – eine Zutat aus sowjetischer Zeit. Die verschiedenen Vergangenheiten, die unverbunden nebeneinander stehen, sind gleich fremd.

Das Stadtbild von Czernowitz ist dasselbe wie das, das Celan aufgenommen hat, die Orte der Kindheit und Jugend sind mühelos aufzufinden: das Haus in der Masarykgasse, in das die Familie 1935 zog, ein Neubaugebiet unter dem Einfluß der Neuen Sachlichkeit, der jüngste Straßenzug, den es im Kern von Tscherniwzi gibt. Und das Gymnasium, in dem Celan sein Abitur abgelegt hat: von Grün umrankt, in diesem verspielten Czernowitzer Klassizismus, auch heute ist da eine Schule drin, die dreiundzwanzigste. Der Kern von Tscherniwzi ist ein altösterreichisches Ensemble, mit noch denselben Pflastersteinen, Kanaldeckeln und Ladengeschäften – es ist der Alltag, der ausgetauscht ist, das Kyrillische an den Häusern, die Läden, die keine mehr sind. Es gibt keine Kneipen, keine Cafés in Tscherniwzi, an einigen Stellen kann man an einem Tresen etwas trinken. Auf der Herrengasse stehen an einer Stelle ein paar verschlissene, rote Plastikstühle draußen, und wenn man geduldig ist, bekommt man hier eine Tasse voll Zichorie, wie es sie auch droben im Hotel Tscheremosch gibt.

Es gibt wenig zu kaufen in Tscherniwzi, das Lebensnotwendige wird unterderhand geregelt, auf diversen Tausch- und Schwarzmärkten. Die Inflation hat es mit sich gebracht, daß es keine Münzen in der Ukraine gibt, Kuponi gibt es nur als Scheine – die Telefone, die ab und zu an einer Hauswand angebracht sind, kann man deswegen jetzt umsonst benutzen. Die meisten sind kaputt.

Man beginnt sich auf das Regionale zu besinnen, weg von der Randlage in der alten Sowjetunion. An der Universität ist ein »Bukowina-Institut« gegründet worden, und Peter Rychlo, Dozent für Weltliteratur, ein Ukrainer, widmet sich der deutschsprachigen Literatur der Bukowina. Früher hat er über DDR-Literatur gearbeitet, viele DDR-Autoren übersetzt und über Stephan Hermlin promoviert. 1993 jedoch erschien in Tscherniwzi, in seiner Übersetzung, das erste Buch von Celan – eine Auswahl von Gedichten.

Für die Hauptstraße, an einer kleinen Einbuchtung in der Nähe des Volksgartens, des Parks, hat die Landesregierung von Kärnten sogar das Geld für ein Celan-Denkmal spendiert. Geschaffen worden ist es von einem Bildhauer aus der Ukraine. Man ahnt allerdings ein bißchen, daß er in einem früheren Leben auch schon Lenin-Büsten modelliert hat.

 

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Nicht nur die Töpfergasse war menschlich.

Die Ulica Naliwaikowa ist ein kleines, recht steil abfallendes Gäßchen, und am unteren Ende der Töpfergasse wohnte Gustav Chomed, der Sohn eines Schneidermeisters, Celans Jugendfreund. Im Winter sind sie Schlitten gefahren in der Töpfergasse, und Edith Silbermann berichtet in ihren Erinnerungen, daß sie, die am anderen Eckhaus am Fuße der Töpfergasse wohnte, die beiden dann immer mit Kastanien beworfen hat.

Kirschbäume stehen links und rechts am Hang, vor eigenwilligen, in aller Bescheidenheit sehr charakteristischen Häusern. Am oberen Ende der Ulica Naliwaikowa wohnt Lydia Harnik. Lydia Harnik ist fast neunzig Jahre alt, und sie ist zusammen mit ihrer Freundin Rosel Zuckermann die einzige aus dem alten Czernowitz: sie ist eine deutschsprachige Jüdin, und sie hat zeit ihres Lebens nur in Czernowitz gewohnt. Die Staatsbürgerschaft des österreichischen Kaiserreichs, die rumänische, die sowjetische und jetzt die ukrainische hat sie durchlaufen, die immer am selben Ort geblieben ist – sie wollte nicht weg, sie wollte in Czernowitz bleiben. Als wir eintreten in ihre kleine Zweizimmerwohnung, die vollgestopft ist mit Büchern, geraten wir unvermittelt ins Altösterreichische, in eine Novelle von Schnitzler oder Hofmannsthal: ihr Tonfall ist von Habsburg geprägt, eine fein ziselierte Melodie, etwas Süßes und Weiches, das überhaupt nicht künstlich wirkt, sondern vom Leben bezeugt ist. Lydia Harnik sagt: »Bitte Bonbons zu nehmen!«, und sie meint Pralinen, und in der Pralinenschachtel waren die Pralinen in zwei Lagen angeordnet, die obere war schon leer – Lydia Harnik sagt:

Ich wollte den Karton schon wegwerfen, und da fand ich noch eine Etage!

Sie hat immer Privatstunden gegeben, Fremdsprachen unterrichtet: Englisch, Französisch, dann, als es eine Fremdsprache wurde, Deutsch. »Die Intellektuellen haben ihre Kinder immer zu mir geschickt«, sagt sie, und sie hat mittlerweile schon Enkel von Schülern unterrichtet, die sie auch schon hatte. »Früher habe ich sehr viel unterrichtet«, sagt Lydia Harnik, »aber heute nicht mehr so viel. Nur noch acht Stunden am Tag«. Und tatsächlich, kurze Zeit später klingelt es an der Tür. »Guten Tag«, sagt das zwölfjährige ukrainische Mädchen. Auf deutsch.
Lydia Harnik versucht, sich die alte Zeit zu vergegenwärtigen. Und sie schreibt Briefe an Leute, die sie seit sechzig Jahren nicht mehr gesehen hat. Meistens wohnen sie in Israel. Ab und zu klingelt das Telefon, und Lydia Harnik spricht abwechselnd russisch, englisch oder französisch. »Wir haben bis 1940 gar nicht gemerkt, daß wir verschiedenen Volksgruppen angehören«, sagt sie.

Aber dann haben mich die Deutschen plötzlich nicht mehr gegrüßt.

Das alte Czernowitz wird in Lydia Harnik lebendig:

Wenn man abends um 6 in der Herrengasse einfach laut gesagt hat: Guten Tag, Herr Doktor! – dann hat sich die halbe Herrengasse umgedreht.

Unten mündet die Töpfergasse in die Bräuhausgasse, die zurückführt in die Wassilkogasse – ein Weg, den Paul Celan oft gegangen sein muß. Nach ein paar Schritten in der Bräuhausgasse stoßen wir auf einen weit ausladenden, üppig grün sprießenden Baum am Straßenrand, einen Maulbeerbaum – die Früchte sind grün und schon groß. Schlittenfahren, Winter in der Töpfergasse, Maulbeerbaum:

DU DARFST mich getrost
mit Schnee bewirten:
sooft ich Schulter an Schulter
mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer;
schrie sein jüngstes
Blatt.

Es ist müßig, bei der Lyrik der Moderne, die mit Paul Celan zu Ende gegangen ist, nach persönlichen Erlebnissen zu suchen, nach rubrizierbarem Material. Der Ort der Dichtung ist immer subjektiv, atmosphärisch aufgeladen, und manchmal stößt man an einen Grund, der nur für einen selbst von Bedeutung ist.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag, 1996