ORTE PAUL CELANS

 

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Der Roman Malina, den Ingeborg Bachmann im März 1971, zweieinhalb Jahre vor ihrem Tod, veröffentlichte, ist der einzige abgeschlossene Text in ihrem geplanten Endlosroman »Todesarten« und steht in ihrem Gesamtwerk an exponierter Stelle. Der Kampf zwischen dem männlichen und dem weiblichen Prinzip bildet das Zentrum in Malina. Er ist der direkteste Ausdruck der Zerstörungen, die von der Gesellschaft ausgehen – von abstrakten politischen Strukturen über Verhaltensweisen in überschaubaren Gruppen, seien sie privat oder öffentlich, bis zu den Konversationstechniken der Stehparties und den Schauplätzen der Gefühle.

Der Roman kreist um das Dreiecksverhältnis zwischen der weiblichen Ich-Figur und den beiden Männern Ivan und Malina. Ivan ist jünger als die Ich-Figur und deren Geliebter: der Vertreter der Alltagswirklichkeit, der durch diese Tauglichkeit für die Ich-Figur einen erotischen und mitunter ironisch aufgerauhten Reiz ausübt; eine bruchlose Existenz. Den Wahrnehmungen, den Krisen der Ich-Figur, die eine Dichterin ist und um die Sensibilität der Worte ringt, steht er unbedarft und distanziert gegenüber: ahnungslos nennt er sie eine »sanfte Irre«. Nachts geht er und läßt sie mit ihren Träumen allein, den Obsessionen durch den mißbrauchenden und vernichtenden Vater, den Phantasien einer allmächtigen Gewalt, diese Träume sind nicht seine Welt – so zerrinnt langsam das ursprüngliche Glück. Ivan ist für die Bedingtheiten der Liebe, die von der Ich-Figur gesetzt werden, nicht geschaffen.

Malina hingegen ist keine reale Person: er ist der männliche Anteil der Ich-Figur, der zum Überleben, zum Dichten und Denken notwendig ist und den sie von sich abspaltet: ein Korrektiv für ihre Gefühle, das rationale Moment. Er interessiert sich nicht für Ivan, er ist der Dialogpartner zur Selbstvergewisserung der Ich-Figur, mit ihm bespricht sie sich. Wie die Autorin diese Doppelgängerfigur in die Romanszenen hineinwebt, in das Spannungsfeld zwischen Ich und Ivan, ergibt ein vielschichtig flirrendes Bild. Es ist Malina, der am Schluß übrigbleibt: die weibliche Ich-Figur verschwindet in einer magischen Szene in einem Spalt, der sich in der Wand auftut, und der Schlußsatz »Es war Mord.« birgt in sich das gesamte Programm des Romans. Gegenüber dem männlichen Prinzip, das herrscht, in der »universellen Prostitution«, ist das weibliche Ich nicht überlebensfähig.

Es gibt jedoch einen Gegenentwurf in diesem Roman, von dem eine eigentümliche Sogwirkung ausgeht. Es ist das Bild, das auch die Liebe zu Ivan nährt: die Ich-Figur, die Dichterin, will für Ivan »eine Inkunabel« schreiben, in dem sie ihm ihre Welt und ihre Liebe erklärt. Schreiben möchte sie »auf ein altes, dauerhaftes Pergament«, und »verstecken« könnte sie sich »in der Legende einer Frau, die es nie gegeben hat«.

Diese Legende, »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran«, ist im Roman kursiv gedruckt. Sie fällt aber auch ansonsten aus dem Romangeschehen heraus. Ein paarmal noch werden sich Bruchstücke, herausgesplitterte Neuansätze und Fortsetzungen, kursiv in den fortlaufenden Text schieben, und an einer besonders prägnanten Stelle werden Elemente der Legende in den normal gedruckten Roman selbst eingebaut werden: aber vor allem ist es etwas Fremdes.

Wir finden uns wieder in einer mythischen Zeit im frühesten Mittelalter, und die Sprache ist märchenhaft entrückt. Von Klagenfurt, der Geburtsstadt Ingeborg Bachmanns, geht es aus, und die Prinzessin gerät in Gefahr, den anstürmenden Hunnen oder Awaren ausgeliefert zu werden. Ein rätselhafter Fremder aber kommt, um sie zu befreien. Ihr Rappe trabt flußaufwärts, bis ins verzweigte Donaudelta, und der Prinzessin wird bewußt, daß sie sich »in der Region des Flusses« befindet, »wo er ins Totenreich führt«.

Als sie sich von dem Fremden trennen muß, hat die Prinzessin »auf der Schwelle des Traumes« eine Vision: Es »wird mehr als zwanzig Jahrhunderte später sein«, und »es wird dann Zeit sein, daß du kommst und mich küßt«.

Der Legendenton verbindet diese Vision mit dem – einstweiligen – Schluß. Als die Prinzessin auf ihrem Rappen wieder zurückreitet, »entwirft« der Fremde »schweigsam seinen und ihren ersten »Tod«, und in ihrem Burghof fällt sie blutend von ihrem Pferd, »denn er hatte ihr den ersten Dorn schon ins Herz getrieben«.

Die Legende endet mit dem Satz:

Sie lächelte aber und lallte im Fieber: Ich weiß ja, ich weiß!

Ein utopischer Schein glimmt in dieser Legende: »mehr als zwanzig Jahrhunderte später« wird die Prinzessin den Fremden wiederfinden, und dieses Futur wirkt wie ein Glücksversprechen. Es scheint eine Hoffnung auf die Jetztzeit gerichtet zu sein, auf die Geschichte mit Ivan.

Die Utopie trägt aber ihre Zerstörung bereits in sich und bestimmt so auch den ganzen Roman. Der Tod am Ende des Malina-Romans, das Verschwinden in der Wand, ist hier bereits vorweggenommen. Die schmerzlichen Bilder setzen sich zu einer Urszene des MannFrau-Verhältnisses zusammen: der Dorn, der ins Herz getrieben wird, der »erste Tod« der Prinzessin – eine erste Erfahrung, die alle kommenden vorwegzunehmen scheint.

»Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« liegen aber weniger im äußeren Handlungsablauf als in der Art und Weise, wie er umschrieben wird. Es ist eine sehr stilisierte Legendensprache mit ungewohnten Bildern, die ständig auf etwas anderes anzuspielen scheint, etwas anderes, Ungesagtes mitträgt. Und sie ist vor allem durchdrungen von vielen direkten und indirekten Zitaten Paul Celans.

Die Celan-Zitate werden durch den »Fremden« in der Legende hervorgerufen: er »legte ihr die Blume wie einer Toten auf die Brust« – ein Initiationsritus der Dichtung. Die Zitate danach stammen fast alle aus dem Celan-Band Der Sand aus den Urnen, der 1948 in Wien erschienen ist, aber kurz darauf von Celan nicht mehr autorisiert wurde. Ingeborg Bachmanns Zitate daraus ranken sich um den »Fremden« im »Mantel« – er wird mit Celan assoziiert. Der »Rappe« ist ein charakteristisches frühes Celan-Motiv, und der Satz »Sie waren schwärzer als schwarz in der Nacht« entspricht der Celan-Zeile im Gedicht »Lob der Ferne«: »Schwarzer im Schwarz bin ich nackter.« Der Titel »Lob der Ferne« könnte für die »Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« fast programmatisch zu verstehen sein. Die Annäherungen werden immer stärker: »Sie sagten sich Helles und Dunkles«, heißt es in der Legende, als die Prinzessin und der Fremde miteinander zu sprechen beginnen – die Zeile »wir sagen uns Dunkles« aus »Corona« wird hier in Prosa gemünzt.

Die zentrale Vision, die die Prinzessin dann dem Fremden im Mantel gegenüber entwirft, spielt mit mehreren Gedichtzeilen Celans. »(…) es wird mehr als zwanzig Jahrhunderte später sein, sprechen wirst du wie die Menschen: Geliebte…«: Im Gedicht »Umsonst malst du Herzen« Celans heißt es:

(…) ein Gott ist unter den Scharen,
gehüllt in den Mantel, der einst von den Schultern dir sank auf der Treppe, zur Nachtzeit,
einst, als in Flammen das Schloß stand, als du sprachst wie die Menschen: Geliebte … (…)

Der »Mantel« ist in den Gedichten aus Mohn und Gedächtnis oft gegenwärtig und taucht in verschiedenen Zusammenhängen auf.

Die Vision der Prinzessin konkretisiert sich:

Es wird in einer Stadt sein, und in dieser Stadt wird es in einer Straße sein, fuhr die Prinzessin fort, wir werden Karten spielen, ich werde meine Augen verlieren, im Spiegel wird Sonntag sein.

Und wenig später:

(…) wir werden es sehen, wenn du mir die Dornen ins Herz treibst vor einem Fenster werden wir stehen (…).

Es sind Zeilen aus drei Gedichten Celans, die hier anklingen. Im Gedicht »Erinnerung an Frankreich« heißt es:

Wir spielten Karten, ich verlor die Augensterne.

»Im Spiegel ist Sonntag« und »Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße« sind Zeilen in »Corona«. Aus dieser Situation in einer Straße, im Fenster, bezieht im direkten Anschluß der erste der »Es ist Zeit«-Imperative in »Corona« seine Kraft:

es ist Zeit, daß man weiß!

Es ist eben dieser Imperativ, der auch die Ahnung in der Legende vorantreibt. Der Fremde sagt zur Prinzessin, als sie sich trennen müssen: »Hab Geduld, Geduld, denn du weißt ja, du weißt«, und der Schlußsatz nimmt dieses »Wissen« noch einmal auf, gezeichnet bereits von der Tiefe dieses Wissens:

Ich weiß ja, ich weiß!

Das Bild von den Dornen, die am Schluß der Legende »in einer fürchterlichen Stille« ins Herz getrieben werden, so daß die Prinzessin »blutend von ihrem Rappen« fällt, zitiert das Celan-Gedicht »Stille!« Dieses Gedicht beginnt mit den Zeilen:

Stille! Ich treibe den Dorn in dein Herz,
denn die Rose, die Rose
steht mit den Schatten im Spiegel, sie blutet!

Dieses Gedicht ist neben einem anderen, dem eine eher beiläufig eingestreute Anspielung im Malina-Roman gilt (»Der Tauben weißeste«), das einzige, das nicht schon im Band Der Sand aus den Urnen von 1948 enthalten ist, sondern erst im 1952 erschienenen Mohn und Gedächtnis. Ingeborg Bachmann bezieht sich in ihrem dichten Netz von Celan-Zitaten, das zum Schluß hin immer enger wird, aber augenscheinlich auf den Band Der Sand aus den Urnen, dessen Manuskript Celan zusammenstellte, als er von Dezember 1947 bis Juli 1948 in Wien wohnte, in derselben Stadt wie Ingeborg Bachmann.

Die Hälfte der Gedichte aus diesem Band hat er auch wieder in Mohn und Gedächtnis aufgenommen. Ein einziges der von Bachmann zitierten Gedichte allerdings findet sich ausschließlich in Der Sand aus den Urnen, und das ist ein Indiz dafür, daß dieser Band für die Autorin ein bewußtes Zeugnis aus früher Zeit ist – Der Sand aus den Urnen war zur Niederschrift von Malina nirgends mehr erhältlich und einsehbar. Das Gedicht »Ein Krieger« spielt eine entscheidende Rolle am Schluß der Kagran-Legende. Hier findet sich das Motiv »Schweigsam entwerf ich mir Tod«, außerdem die Fügung »Wahr ist der endlose Ritt«, die in der Kagran-Legende schon früh auftaucht.

Ingeborg Bachmann nimmt in der Legende der Prinzessin von Kagran, die das utopische wie utopiezerstörende Gegenbild im Malina-Roman darstellt, die Bilder und Wortwelten Paul Celans aus dessen Wiener Zeit auf und überführt sie in ihren eigenen Entwurf. Die Zitate Celans, die zunächst wie ein Glücksversprechen anmuten, wirken in der Umwandlung dieser Legende so, wie wenn Celans Bilder auch einer Lüge bezichtigt werden würden: der Lüge von der Möglichkeit der Liebe.

In der Figur des »Fremden« sind Züge Celans erkennbar, und diese lassen den literarischen Assoziationsfluß erst entspringen: nicht nur durch den »langen schwarzen Mantel«, an den sich viele Bekannte Celans als an sein auffälligstes äußeres Attribut erinnern. Auch, daß der Fremde sich als Jude vorstellt, geht über eine rein literarische Anspielung hinaus und meint die konkrete Person:

Mein Volk ist älter als alle Völker der Welt, und es ist in alle Winde zerstreut.

Im zweiten Teil von Malina befindet sich mitten in den dominierenden Alptraumsequenzen mit dem Vater ein Traum, der die Figur des Fremden aus der Kagran-Legende plötzlich in den Romantext selbst aufnimmt, nicht mehr kursiv, sondern als schwarze Vision, die in Zusammenhang mit dem zerstörerischen Vater tritt. Dieser Traum nimmt deutlich Bezug auf das persönliche Schicksal Celans. Es geht um »Baracken«, es geht um einen »Abtransport«, und:

In den vielen Baracken, im hintersten Zimmer, finde ich ihn, er wartet dort müde auf mich, es steht ein Strauß Türkenbund in dem leeren Zimmer, neben ihm, der auf dem Boden liegt, in seinem schwärzer als schwarzen siderischen Mantel, in dem ich ihn vor einigen tausend Jahren gesehen habe.

Der Traum endet so:

Mein Leben ist zu Ende, denn er ist auf dem Transport im Fluß ertrunken, er war mein Leben. Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben.

Die Träumende setzt sich hier mit dem fremden Schicksal gleich, das das Schicksal Celans war: in einem Fluß ertrunken zu sein. Und fügt, wie um dies zu verdeutlichen, hinzu:

Es ist nicht die Donau, es ist dann doch ein anderer Fluß.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Identifikation mit Celans Schicksal und der Unmöglichkeit der Liebe. Ingeborg Bachmann hat ihre Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg oft in einen Märchenton gehüllt, und die »Legende« umspielt diesen Krieg, den Bachmann von Klagenfurt aus erlebt hat, in mehrfacher Weise: die Gefahr, daß die Prinzessin von Kagran den anstürmenden Hunnen ausgeliefert werden könnte, liest sich im Bachmann-Kosmos auch als Anspielung auf die Annexion durch die Deutschen, und als sie sich in der Region des Flusses befindet, »wo er ins Totenreich führt«, ist die Judenermordung mitzulesen.

Der Fremde tritt in der Legende als möglicher Retter auf, in den Alptraumsequenzen der Ich-Figur des Romans aber als gleichfalls Geschlagener. In den Assoziationskreisen des Textes ist der Fremde auf vielfältige Weise mit Ivan verbunden: Er ist das mythische Vorbild, das ungefähr zweitausend Jahre später in Ivan aufersteht. Er ist der Traum, dem Ivan in Wirklichkeit nicht standhält.

Die Ich-Figur lernt Ivan kennen und lieben, als er gerade in einem Blumengeschäft einen Strauß Türkenbund kauft. Daß in der Baracke, in der der Fremde im Alptraum der Jetztzeit liegt, ein vertrocknender Türkenbund steht, hat eine Parallele in Celans Prosatext »Gespräch im Gebirg«: dort geht es um die Begegnung zweier Juden, und ein wichtiger Bestandteil dieser Begegnung ist der Türkenbund, in dessen Zeichen sie geschieht.

Die Ich-Figur in Malina begründet ihren Wunsch, auf »ein altes, dauerhaftes Pergament« die »Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« zu schreiben, auf merkwürdige Weise:

denn es sind heute zwanzig Jahre her, daß ich Ivan liebe, und es ist ein Jahr und drei Monate und einunddreißig Tage an diesem 31. des Monats, daß ich ihn kenne.

Die zwanzig Jahre, die hier zwischen Lieben und Kennen liegen, entsprechen genau den zwanzig Jahren, die zwischen der Niederschrift von Malina und der Begegnung zwischen der zweiundzwanzigjährigen Ingeborg Bachmann und dem achtundzwanzigjährigen Paul Celan verstrichen sind – zwischen Dezember 1947 und Juli 1948 in Wien.

Die Liebe, aber gleichzeitig auch ihre Unmöglichkeit durch die Bedingtheiten der Geschichte sind in Malina zusammenzulesen. Im Alptraum, der in den Baracke spielt, sagt die Ich-Figur:

Nur ich habe immer noch Todesangst, weil es wieder anfängt, weil ich wahnsinnig werde, er sagt: Sei ganz ruhig, denk an den Stadtpark, denk an das Blatt, denk an den Garten in Wien, an unseren Baum, die Paulownia blüht. Sofort bin ich ruhig, denn uns beiden ist es gleich ergangen, ich sehe, wie er auf seinen Kopf deutet, ich weiß, was sie mit seinem Kopf gemacht haben.

Die Paulownia ist ein geheimes lyrisches Losungswort. »Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!« heißt es schon in dem frühen Gedicht »Drüben« von Paul Celan. Die Paulownia ist ein Fingerhutgewächs, also sehr giftig. Celan bezieht sich des öfteren auf sie als auf seinen Lebensbaum: sie verbindet seinen Vornamen mit einer slawischen Endung. Daß die Paulownia im Wiener Stadtpark blüht, ist nicht nur Ausdruck eines gemeinsamen Bundes. Sie ist auch ein Zeichen dafür, wie sich die Ich-Figur in Malina in ihrem Alptraum mit dem Celanschen Wahnsinn identifiziert.

In Celans Gedicht »La Contrescarpe« aus dem Band Die Niemandsrose gibt es einen Einschub, der die Eisenbahnfahrt Celans am Tag der »Reichskristallnacht« im November 1938 in Erinnerung ruft: Celan fuhr damals über Berlin und Paris nach Tours, wo er ein Semester Medizin studierte –

Über Krakau
bist du gekommen, am Anhalter
Bahnhof
floß deinen Blicken ein Rauch zu,
der war schon von morgen. Unter
Paulownien
sahst du die Messer stehn, wieder,
scharf von Entfernung (…)

Daß auf der Place de la Contrescarpe in Paris, die Celan auf der Reise nach Tours zum erstenmal sah, tatsächlich Paulownien stehen, bildete für Celan immer wieder einen Fixpunkt. Der »Wahnsinn«, von dem in jenem Alptraum aus Malina die Rede ist, hatte in der Reise am Tag der »Reichskristallnacht« sein erstes Bild gefunden.

Lyrische Codes wie kaum chiffrierte persönliche Assoziationen lassen in Malina einen neuen Text entstehen. Ingeborg Bachmann bezieht sich auf Gedichte Celans, die diesen während seiner Wiener Zeit beschäftigten. Literatur und Leben sind hier nicht zu trennen. Wie in einer Zeitkapsel scheinen die gemeinsamen Monate mit Celan in Wien aufbewahrt worden zu sein, über zwanzig Jahre hinweg, bis diese Kapsel in der Zeitstruktur von Malina aufplatzt.

In einem Interview zu Malina hat Bachmann einmal von »den entscheidenden Jahren zwischen 18 und 25« gesprochen, für die weibliche Ich-Figur habe sich da »die Zerstörung ihrer Person« ereignet. Mit 18 erlebte Bachmann noch den Faschismus, und in Malina, dem einzigen vollständig vorliegenden Text aus dem geplanten Zyklus »Todesarten«, werden beständig mehrere Todesarten umspielt, nicht nur die Liebe zu Ivan: der faschistisch-totalitäre, inzestuöse Vater, Celans Tod im Fluß als späte Folge der Judenermordung weisen in einen geschichtlich-biographischen Kontext.

Es bleibt die Initiation der Dichtung, die in der »Legende der Prinzessin von Kagran« erfolgt: der Fremde legt »ihr die Blume wie einer Toten auf die Brust«. Bachmann hat sich durch die Begegnung mit Celan befreit und berufen gefühlt, »Lyrik nach Auschwitz« zu schreiben.

Die frühen Gedichte von Ingeborg Bachmann fallen in die Zeit mit Celan in Wien. Das Aufsaugen des Celanschen Tons, der schwungvollen Daktylen, des verzaubernden Genitivs, der suggestiven Wie-Vergleiche ist hier zu verfolgen:

Beim Hufschlag der Nacht, des schwarzen Hengstes vorm Tor,
zittert mein Herz noch wie einst und reicht mir den Sattel im Flug,
rot wie das Halfter, das Diomedes mir lieh.

Aber auch in ihren berühmten Gedichten aus den fünfziger Jahren greift Bachmann Celansche Bilder auf und entwickelt sie in ihrem Sinn weiter. So spielt das Motiv der Rosen bei ihr eine große Rolle. Die Celan-Stelle, die in Malina zentral wird, lautet:

Stille! Ich treibe den Dorn in dein Herz,
denn die Rose, die Rose
steht mit den Schatten im Spiegel, sie blutet!

Und in Celans Gedicht »Schlaf und Speise« ist von einer »Finsternis« die Rede:

Und was sie als Rose war, Schatten und Wasser, schenkt sie dir ein.

Ingeborg Bachmann veröffentlichte 1956 das Gedicht »Schatten Rosen Schatten«:

Unter einem fremden Himmel
Schatten Rosen
Schatten
auf einer fremden Erde
zwischen Rosen und Schatten
in einem fremden Wasser
mein Schatten

 

*

 

Dieses Gedicht tritt in einen Dialog mit jenen Celan-Fügungen ein: »Schatten im Spiegel«; »Schatten und Wasser, schenkt sie dir ein«. Es nimmt das »Du« im Celan-Gedicht an und identifiziert sich damit. Es personalisiert die lyrische Chiffre, die vorliegt, es überführt das literarische Zwiegespräch in eine Situation, die biographisch zu werden scheint.

Nach Celans Weggang aus Wien, im Juli 1948 nach Paris, sind zwei Reisen Ingeborg Bachmanns nach Paris verbürgt, über die fast nichts bekannt ist. Die erste davon findet an dem frühesten Zeitpunkt statt, an dem sie für längere Zeit aus Wien weggehen konnte: von Oktober bis Dezember 1950, direkt nach ihrer Promotion, finanzieren konnte sie die Reise durch ihre ersten Honorare. Daß Paul Celans »Erinnerung an Frankreich«, ein frühes Gedicht über seinen Frankreichaufenthalt 1938/39, mit der Bachmannschen Erinnerung an das Frankreich aus dieser Zeit zusammenfällt, ist in den »Geheimnissen der Prinzessin« zu erahnen: »Wir spielten Karten, ich verlor die Augensterne«, steht im Celan-Gedicht und fast wörtlich in der Legende. Das Paradoxon, die utopisch-unmögliche Wendung in der letzten Zeile dieses Gedichtes, spielt für Bachmann ebenfalls eine große Rolle:

Wir waren tot und konnten atmen.

In einem späteren kursiven Einsprengsel im Malina-Text, der den Legendenton aufnimmt, heißt es:

Wir werden tot sein und atmen, es wird das ganze Leben sein.

Ingeborg Bachmann übersetzt hier die unmögliche Hoffnung »Wir waren tot und konnten atmen«, die nur in der Literatur ausgesprochen werden und Sinn erhalten kann, in den Kontext der Liebe, in ihren Kontext. Der literarische Dialog, das Vexierspiel mit Zitaten wird unmerklich vor eine autobiographische Kulisse geschoben. Die Liebesbeziehung zwischen Celan und Bachmann, die der gemeinsame Wiener Bekannte Milo Dor eine »Liebesbeziehung auf Entfernung« nannte, ist vom literarischen Ton der »Unmöglichkeit« grundiert und überführt ihrerseits diesen Ton in die Literatur.

Die Zeilen in jenem Rosen-Gedicht beschreiben die Konstellation:

zwischen Rosen und Schatten
in einem fremden Wasser
mein Schatten.

Das Eigene in der Fremde: das Eigene, das als jenes Fremde erfahren wird, das es ursprünglich war. In Celans Wiener Gedicht »Lob der Ferne« gibt es eine charakteristische Entsprechung:

Schwarzer im Schwarz, bin ich nackter.
Abtrünnig erst bin ich treu.
Ich bin du, wenn ich ich bin.

Celan strebt in »Lob der Ferne« wie in »Corona« nach dem imaginären Punkt, an dem Einssein möglich ist, und dies ist für ihn der Ort der Dichtung. In den Gedichten Ingeborg Bachmanns wird im Lauf der Zeit die Tendenz immer deutlicher, diese Erfahrung melancholisch zurückzuweisen. Sie nimmt den auratischen Charakter bei Celan zurück, sie fragt noch einmal nach. Manche Gedichte Bachmanns, die Celansche Bilder aufnehmen und variieren, legen nahe, daß sie Celans Gedichte auch als Liebesgedichte an Ingeborg Bachmann lesen – und die werden nun, später, bitter durchtränkt.

Schon in Gedichten aus ihrem ersten Band Die gestundete Zeit reflektiert Bachmann Celans Dichtung in bezug auf ihr eigenes Schreiben. Das Gedicht »Dunkles zu sagen«, das oft als programmatisch für die Lyrik Bachmanns interpretiert worden ist, greift die Zeile »wir sagen uns Dunkles« aus Celans »Corona« auf, nimmt es als Vorgabe und entwickelt in seinem Verlauf eine spezifisch Bachmannsche Vorstellung dieses »Dunklen«. Bilder wie »Schattenhaar der Nacht« oder »der Finsternis schwarze Flocken« stammen aus dem Reservoir, aus dem Celan in seiner frühen Phase schöpfte, aus einer Rilke-Verehrung, die surreal wurde.

Das Orpheus-Motiv, das bei Celan nur latent angelegt ist (»Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten«) tritt bei Bachmann in »Dunkles zu sagen« zentral ins Blickfeld: »Wie Orpheus spiel ich / auf den Saiten des Lebens den Tod«, beginnt das Gedicht. Die auf die Dichtung gerichtete Frage Celans erscheint bei Bachmann viel stärker im besonderen Licht der Liebesdichtung.

Das Gedicht »Die gestundete Zeit«, das Bachmanns Band den Titel gegeben hat, bezieht sich in Form und Inhalt auf »Corona«, in dem der Titel von Celans Band enthalten ist. Zwei prägnante, poetologische Gedichte korrespondieren in geheimer Weise miteinander. Bachmanns »gestundete Zeit« wendet sich gegen Celans »Corona«, das sie gleichsam als »entstundete Zeit« liest. Bachmanns Gedicht ist ein Gedicht über lyrisches und erotisches Verstummen, ihre »gestundete Zeit« meint die der Liebe entzogene Zeit, die unpoetische Zeit und liest Celans Gedicht von seinem Schluß her gegen sich selbst.

DIE GESTUNDETE ZEIT

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar;
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch. die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Die Zeilenstruktur in Bachmanns Titelgedicht verläuft parallel zu Celans Titelgedicht: Verknappung zum Ende hin, bis zur Zuspitzung in Imperativen. Die erste Versgruppe in »Die gestundete Zeit« nimmt formal das Motiv der Wiederkehr bei Celan auf: Die Zeilen »Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont« stehen an Anfang und Ende. Am Beginn allerdings ist noch eine Zeile vorgeschaltet:

Es kommen härtere Tage.

Diese wiederum ist identisch mit der letzten Zeile des Gedichts – die Wiederkehr ist also zweifach verschlungen. Thema und Durchführung des Gedichts von Celan sind als Grundmuster auch hier erkennbar.

Bachmann setzt jedoch da neu an, wo Celans Gedicht den Schlußpunkt gesetzt hat. Das Unpoetische kehrt zurück. In der zweiten Versgruppe wird das Dichter-Ich aus »Corona« direkt angesprochen:

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand.

Bei Celan signalisiert die »Geliebte« den Aufbruch. Der »Sand«, den Ingeborg Bachmann ausmacht, ist da aufzufinden, wohin sich jener Aufbruch anscheinend verlief.

Dies ist unverkennbar eine Antwort Ingeborg Bachmanns auf die Rolle, die in »Corona« der »Geliebten« zukommt. Der Ton bei Celan, der in ein Ungewisses, Utopisches münden will, ist hier ernüchtert zurückgewiesen. Hier herrscht das Endgültige vor. »Er befiehlt ihr zu schweigen«: hier gibt es nicht mehr die Hoffnung, die lyrisch-erotische Übereinkunft, und sei sie so unbestimmt und vorantastend wie in der Fügung »wir sagen uns Dunkles«. In der von Ingeborg Bachmann beschriebenen Situation gibt es kein Sprechen mehr, keine Interaktion mit der Geliebten. Sie versinkt »drüben«, an einem Ort, der Raum und Zeit verbindet, sie ist Vergangenheit.

Das in sich rotierende Wissen »Es ist Zeit«, das bei Celan das Geheimnis der Dichtung offenbart und als einzelne, abgesetzte Zeile am Ende des Gedichts steht, ist bei Bachmann in die konkrete Formel »Es kommen härtere Tage« übersetzt, eine Formel, die sich weit mehr auf eine vorgefundene Wirklichkeit zu beziehen scheint als bei Celan. Bachmanns Gedicht wirkt wie eine Verwerfung von Celans Utopie, mit einem Grundduktus von Warnung und Kränkung.

Als einzelne, abgesetzte Zeile stellt sich »Es kommen härtere Tage« bewußt zu Celans »Es ist Zeit« parallel. Auch in diesem Gedicht wird die Durchdringung der linear verlaufenden mit der zyklischen Zeit vorgeführt. In »Die gestundete Zeit« ist man aber im Gegensatz zu »Corona« an einem Abschluß angelangt, zum endgültigen Rückblick gezwungen. Die Zukunft wird auf die »härteren Tage« beschränkt. Das Moment der Utopie, des Vorwärtsdrängenden im Gedicht, der paradoxen Verbindung von Augenblick und Ewigkeit weicht in »Die gestundete Zeit« einem nüchternen Bilanzieren, das Bachmanns baldiges lyrisches Schweigen vorwegnimmt.

»Corona« erscheint im Gedicht Bachmanns als das Gedicht eines Lyrikers, der an die Lyrik glaubt. Bachmann hingegen beschreibt, weshalb sie bald keine Gedichte mehr schreiben wird. Die Liebe und die Dichtung sind bei ihr in gänzlich anderer Weise verschränkt: »Sieh dich nicht um«, das Orpheus-Motiv, verweist auf die Situation der Liebenden. Doch die Liebe ist keine Synkope im Prozeß der Vergehens mehr. Die Liebe ist vergangen. Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann führt in diesem Gedicht zentrale Motive ihrer Lyrik ein: die Beziehungen Wärme/Kälte und Licht/Dunkel. Darin nimmt ihr eigener Entwurf Gestalt an – da ist einerseits der harte, männliche Duktus, mit dem sie sich in das Literaturgeschehen einschreibt und das Herrschende verwirft; andererseits bestechen die sinnlichen Momente, die parallel dazu den Widerspruch meinen. Die »kalt gewordenen« Eingeweide der Fische und das ärmlich brennende »Licht der Lupinen« bergen in sich ein Bilderreservoir, aus dem Bachmann im folgenden immer schneller schöpfen wird.

Dieses »immer schneller« mündet in eine Krise, die Ende der fünfziger Jahre manifest wird. Anrufung des großen Bären, 1956 erschienen, wird der letzte Gedichtband Bachmanns bleiben; sie wird bis zum Tod nur noch sehr wenige, sporadische Gedichte schreiben.

Ingeborg Bachmann hielt sich Ende des Jahres 1956 noch einmal für längere Zeit in Paris auf, als sie nach den künstlerisch produktiven Jahren mit Hans Werner Henze in Italien nach einer neuen Orientierung suchte. Sie wohnte, noch einmal in derselben Stadt wie Celan, im Hôtel de la Paix, In den sechziger Jahren wurde ein Gedicht von ihr gedruckt, das diesen Titel trägt:

HÔTEL DE LA PAIX

Die Rosenlast stürzt lautlos von den Wänden,
und durch den Teppich scheinen Grund und Boden.
Das Lichtherz bricht der Lampe.
Dunkel Schritte.
Der Riegel hat sich vor den Tod geschoben.

In den Rosentapeten an der Wand dieses Hotelzimmers verdichtet sich ein Zusammenhang, der aus konkreter Wahrnehmung und literarischer Bildersprache entsteht. Das Hotelzimmer wandelt sich zu einer existentiellen und poetischen Erfahrung, in der der Boden unter den Füßen entzogen wird, in der Sicherheiten schwinden, in der die Einsamkeit alles durchdringt.

Zug um Zug schreibt Ingeborg Bachmann ihre persönliche Geschichte mit Paul Celan in Literatur um: der Dialog mit dem Lyriker, der sich anfangs auf die persönliche Begegnung bezieht, wandelt sich allmählich zu einer poetologischen Auseinandersetzung. Nach einer affirmativen Aufnahme der fremden, suggestiven Bilderwelt kämpft Bachmann immer stärker, mit gewendeten Zitaten, gegen eine Verklärung der Dichtung, also auch der Liebe, durch den Dichter an.

Ihre Schwierigkeiten mit der Lyrik thematisierte Ingeborg Bachmann in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Am Ende ihrer zweiten Vorlesung, im Wintersemester 1959/60, sagte sie, daß sie den neuesten Gedichtband Paul Celans mitgebracht habe:

Die Metaphern sind völlig verschwunden, die Worte haben jede Verkleidung, Verhüllung abgelegt, kein Wort fliegt mehr dem anderen zu, berauscht ein anderes. Nach einer schmerzlichen Wendung, einer äußerst harten Überprüfung der Bezüge von Wort und Welt, kommt es zu neuen Definitionen. Die Gedichte heißen »Matière de Bretagne« oder »Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt« oder »Entwurf einer Landschaft« oder »Schuttkahn«. Sie sind unbequem, abtastend, verläßlich, so verläßlich im Benennen, daß es heißen muß, bis hierher und nicht weiter.

Mehr sagte Ingeborg Bachmann nicht. Und dennoch hatte sie etwas sehr Intimes angedeutet. Im Gedicht »Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt« hatte sich nämlich Celan auf ein Gedicht von Ingeborg Bachmann bezogen und sich mit der lyrischen Krise Bachmanns identifiziert. Damit war in ihrem innerlyrisehen Dialog zum erstenmal ein Rollentausch vorgenommen worden. Es geht augenscheinlich um ein zentrales Motiv ihrer gemeinsamen Wiener Zeit.

Das Gedicht »Große Landschaft bei Wien« war unter den vier vorgetragenen, für die Ingeborg Bachmann 1953 den Preis der Gruppe 47 bekam und plötzlich im Rampenlicht stand. Es ist eine große Anrufung mit langem Atem, ein Panorama, in dem Geschichte, Geographie und lyrische Sprache zusammenfließen; Zeitkritik und poetische Beschwörung stehen unmittelbar nebeneinander. Die »Große Landschaft« bildet eine Utopie ab, die Utopie, die Zeit festzuhalten. Dem Verfall, der Vergänglichkeit, für die im Fortgang des Gedichts immer neue, ausholende Worte gefunden werden, steht die Dichtung gegenüber, die den einzelnen Augenblick bewahrt.

»(…) öffnet die Steppen!« lautet der Imperativ zu Beginn des Gedichts, der die »Geister der Ebene, Geister des wachsenden Stromsee in den Wiener Donau-Auen anruft. Kurz danach folgen die Zeilen:

Still stehn die Räder. Durch Staub und Wolkenspreu
schleift den Mantel, der unsre Liebe deckte, das Riesenrad.

In Celans Gedicht »Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt« aus dem Band Sprachgitter von 1959 klingt diese Vision nach, in einer Versgruppe, die als zweite Strophe, in der Mitte des dreistrophigen Gedichts, in Klammern steht:

(Die
Augärten, damals, das
gelächelte Wort
vom Marchfeld, vom
Steppengras dort.
Das tote Ringelspiel, kling.
Wir
drehten uns weiter.)

Schon der Titel, mit den Ablagerungen von Landschaft, einzelnen, stehengebliebenen Rudimenten, nimmt die Bachmannsche Weite zurück: von der »Großen Landschaft« bleiben »Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt«. »Marchfeld«, so heißt die große Ebene östlich von Wien, zwischen Donau und March; die Prinzessin von Kagran in Bachmanns Malina kommt ursprünglich aus einem »alten Marchfelddorf«, da, wo später Klagenfurt gegründet wurde. Der Ausruf »öffnet die Steppen!«, der bei Bachmann einen Aufbruch verheißt, ist hier zurückgenommen auf das bloße Konstatieren, auf die Benennung des Steppengrases im Marchfeld. Das »Riesenrad« mit dem »Mantel« und der »Liebe« zentrale Worte in Bachmanns nachträglichem Dialog mit Celan, vor allem in der »Legende«, hallt in den Celan-Zeilen nur nach:

Das tote Ringelspiel, kling.

Celan wiederholt hier die Zurücknahme, mit der Bachmann ihrerseits Celans Gedichte zu lesen schien. Die »Augärten«, sie liegen in Wien und korrespondieren mit dem »Stadtpark«. Es verschränkt sich beider Reflexion über Dichtung, von konkreten Orten ihres gemeinsamen Erlebens ausgehend. Parallel, unabhängig voneinander und doch auf geheimnisvolle Weise aufeinander bezogen, setzt bei beiden eine Desillusionierung an der Dichtung ein. Bei Bachmann ist das Motiv der gescheiterten Liebe mit dem Motiv des Endes der utopischen Hoffnung der Lyrik verknüpft. Celans Verkarstung der Worte, das Sprödewerden der Bilder, die zunehmende Atonalität seiner musikalischen Formen rekurriert hingegen vor allem darauf, daß er sich seines Judeseins immer stärker bewußt wird.

In seinen Gedichtbänden nach Der Sand aus den Urnen und Mohn und Gedächtnis wird die Sprache immer verknappter, treten die Rilke-Anklänge, die romantischen und surrealen Bilderwelten immer mehr zurück. Adorno hat in seiner Ästhetischen Theorie festgestellt, daß keiner Kunst »die Spur von Affirmation« fehle – Celans Lyrik wirkt wie eine immer intensivere Auseinandersetzung mit dieser Erkenntnis. In einem Gedicht aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle, der 1955 erschienen ist, heißt es:

Welches der Worte du sprichst –
du dankst
dem Verderben.

Man kann das als Folie, als poetologischen Hintergrund sehen für die Erinnerung an die Augärten, an die Bachmann-Reprise im »Bahndämme (…)«-Gedicht. Celan holt die Desillusionierung an der Liebe auf andere Weise ein, seine »Augärten«-Reprise ist vor allem eine Reflexion über Dichtung, über die Utopie der Worte. Aber er trifft sich mit Ingeborg Bachmann in einer gemeinsamen Unmöglichkeit.

Bachmann hat später in Malina eine andere Zeile aus ihrer »Großen Landschaft« verwoben: »zweitausend Jahre sind um, und uns wird nichts bleiben.« Eine Situation, der persönliches Erleben zugrunde liegt, wird paradigmatisch in die Dichtung überführt und zu einem poetologischen Exempel. Die Unmöglichkeit der Utopien, also auch der Liebe in der Lyrik, führte bei Bachmann dazu, fast keine Gedichte mehr zu veröffentlichen – und das korrespondierte mit den sperrig werdenden Bemühungen Celans, angesichts seiner immer gravierender in Erscheinung tretenden biographischen Prägung als Jude weiter Gedichte zu schreiben. Die Liebe und die Prägungen der Historie: In Malina hat Ingeborg Bachmann die beiden Stränge verbunden.

 

*

 

Wien sah so ähnlich aus wie Czernowitz, wie eine große, zu große Schwester. Es muß ein eigenartiges Gefühl gewesen sein, in der Stadt, welche die unerreichbar scheinende Sehnsucht verkörperte, die Farben und Bauten der überschaubaren Heimatstadt wiederzuerkennen. Es war zwar alles ein bißchen größer, die Häuser ein, zwei Stockwerke höher und ein paar Paläste barocker und ausladender, doch vor allem war da dasselbe habsburgische Auf und Ab, etwas Unverkennbares, Atmosphärisches; die Farbe dafür ist ein in vielen Schattierungen schillerndes Gelb, vom Prachtvollen zum Abblätternden, und dieser dunkle Ruch des Kaffeehauses, der bei aller äußeren Bewegtheit etwas zutiefst Melancholisches hat.

Das Wien dieser Tage ist am besten in Orson Welles’ Film Der dritte Mann aufgehoben, ein Wien in Schwarzweißformat und balkanischer Anarchie. Das Überwinden zweier Grenzen, der rumänisch-ungarischen und der ungarisch-österreichischen, wird in den Farben dieses Filmes vorstellbar. Auf die Nächte in überfüllten Bahnhöfen, in Budapest und anderswo, auf die Umstände dieses Sich-Durchschlagens von Bukarest nach Wien kommt Celan in einigen Gedichten zu sprechen (und auch in der Prosa »Gespräch im Gebirg«).

Im Dezember 1947 ist Celan in Wien angekommen. Es gibt eine Karte vom 21. Dezember an Alfred Margul-Sperber, wohl kurz nach der Ankunft geschrieben, mit der Adressenangabe »Severingasse 3«. Man kann nur spekulieren, worum es sich dabei handelt, die Adresse eines Bekannten, die ihm weitergereicht wurde, eine Pension – die Gasse liegt im neunten Bezirk, benachbart dem Viertel Brigittenau, in das bis in die dreißiger Jahre hinein die Ostjuden geströmt waren. Die Erinnerung daran, an den Massenmord an den Juden, der in diesem unscheinbaren Arbeitervorort unsichtbar weiterwirkte, muß Celan unmittelbar betroffen haben. Daß zwanzig Schritte weiter Heimito von Doderers Welt ihr Zentrum fand, seine letzte Behausung in der Währinger Straße 50, um die Ecke die Strudlhofstiege, stand für Celan vor allem in diesem Zusammenhang. Literarisch war dieser für ihn nicht.

Die Severingasse geht ziemlich steil bergauf, an der Stelle, wo die Währinger Straße einen Knick macht und in die Nußdorfer übergeht; ein Café ist an der Ecke, in dessen Fenster Zwillinge einander gegenübersitzen, zwei alte Frauen in gleichen Kittelschürzen, mit den gleichen Brillen aus den fünfziger Jahren, mit zwei Tassen Braunem. Und schräg gegenüber, hinter der vielbefahrenen Kreuzung, steht in einer Weindependance aus der Wachau noch ein alter »Doppler«, eine Zweiliterflasche Grüner Veltliner, im Schaufenster, wie wenn in der Zwischenzeit nichts gewesen wäre.

Der Severingasse 3, fast am Anfang der ansteigenden Straße, ist nichts anzumerken. Ein durchschnittliches Mietshaus, mit einem gefliesten Hauseingang und einem grauen Hof, neben der Tür zu demselben steht ein schäbiges, gepflegtes Kaktusgewächs. Dieses Haus wirkt dennoch individueller als dasjenige, in dem Celan die meiste Zeit während seines Wiener Aufenthalts gewohnt haben muß: »Hathausstraße 20, Pension Pohl« ist über mehrere Monate hinweg als seine Adresse nachweisbar. Die Rathausstraße befindet sich zwar im ersten Bezirk und hat nicht den Vorstadtcharakter der Severingasse, doch sie wirkt uniform, klobig. Gesichtslose Verwaltungs- und Dienstgebäude sind aneinandergereiht, nicht durchbrochen von kleinen Verrenkungen, überraschenden Einsprengseln wie sonst. Neben dem Haus Rathausstraße 20 zieht sich ein endloser, austauschbarer Neubau hin, die Rathausstr. 20 selbst gehört einer Bank: »Irish Austria Bank« steht groß an der Fassade, die zwar noch die alte ist, aber ein völlig anderes Haus hinter sich hat.

Der Eingang ist wie die Einfahrt zu einem Parkhaus, hinten sind auch schon die charakteristischen Fahrbahnen mit den glatten, grauen Rundungen. Kleine, funktionale Tafeln geben die Namen und die Stockwerke der Sachbearbeiter bekannt; bloße Stockwerke, kein Hochparterre und Mezzanin, keine Beletage. »Da war schon immer eine Bank herinnen!« sagt die pflichtbewußte, freundliche Angestellte, die uns im Eingangsbereich ertappt. Sie forscht hinter ihrer großen Brille, mit ihren jungen Augen, läßt sich aber nichts anmerken. Die Wohnungen im dritten und vierten Stock seien zwar dieselben geblieben, aber daß eine von ihnen einmal eine Pension gewesen sein könnte, sei nicht so recht vorstellbar.

Sie führt uns ins Treppenhaus, zeigt, vor den computergesicherten Türen links und rechts, stolz die Steinstufen und Geländer vor, blitzblank und ohne jegliche Patina. Dann meint sie, wir sollten bitte einen Moment hier warten, steckt ihr Plastikkärtchen in den Türschlitz und verschwindet in einem computerbewehrten, schreibtischdurchsetzten Raum. Nach einer Weile kommt sie lachend heraus, für einen Moment lugt etwas Mädchenhaftes, Persönliches durch: »Treffer!« ruft sie. In der Grundbuchliste ist tatsächlich eine Pension Pohl eingetragen, es sei die heutige Schalterhalle und die linke Hälfte des ersten Stocks gewesen.

Die Tür im ersten Stock ist vielleicht das einzige im Haus, was noch an die Pension Pohl erinnert. Milchiges Glas, mit schütter geschwungenen weißen Ornamenten. »Unsere meisten Kunden sind aus dem Ausland!« sagt die freundliche Dame uns noch nach.

Was sich von Czernowitz, von Bukarest unterschieden hat, war vor allem der Umgangston. Das Bewußtsein, der Mittelpunkt zu sein, Kaiser- und Hauptstadt, ist den Wienern eingegraben. In Czernowitz hingegen lebte man vom Rand her, auf etwas zu. Der servile Wiener Ton, der gerade in seiner Servilität die Verachtung des anderen mitschwingen läßt, das souverän Näselnde von Obern und anderweitig Bediensteten – wer die Zwischentöne nicht hört und beherrscht, wer das Unausgesprochene nicht kontert, ist in dieser Stadt noch verlorener als die Einheimischen.

Das Spitze, Scharfe, das in Wien immer mal wieder den süßlichen Grundduktus durchbricht, ist für Celan auch in einem ganz konkreten Sinn wahrnehmbar geworden. Der Geist im Land des »Anschlusses« war im Wien der Nachkriegszeit an allen Ecken und Enden zu spüren; hier war es noch leichter als in der Bundesrepublik, als Nazi unter- und dann wieder aufzutauchen. Die Alliierten richteten ihr Hauptaugenmerk viel eher auf Berlin, in die deutschen Kernlande, als auf den Wiener Staat. So konnte man sich hier viel unbesehener in den alten Rollen üben, sich hinter galanten und gelenkigen Wendungen verstecken und nichts sagen; das Deutsch in Wien war doch viel deutscher als das in Czernowitz.

Das halbe Jahr in Wien war die einzige Zeit, in der sich Celan in einem Land aufhielt, dessen offizielle Sprache deutsch war. Obwohl er einen Empfehlungsbrief von Sperber an Otto Basil dabeihatte, obwohl er in dessen »Plan« siebzehn Gedichte drucken lassen konnte und Kontakt zu literarischen Kreisen fand – Wien blieb fremd für ihn. Schon am 11. Februar 1948 schreibt Celan an Sperber:

(…) dann kam ein Stillstand, die Uhr war stehengeblieben, es war eine schlechte Uhr. Ziffern hatte sie schon vorher nicht gehabt, jetzt aber standen auch die Zeiger still. Ein paar Besuche bei Basils, Freunden, Geschwätz und Diskussionen, die mich nicht interessierten, sonst nichts. Basil wurde auch so ziemlich distant, ich sah ihn immer seltener.

Eine engere Beziehung entwickelte sich zu Edgar Jené, den Celan scherzhaft als den Wiener »Papst des Surrealismus« bezeichnet. Für einen Band mit surrealistischen Lithographien Edgar Jenés schrieb Celan einen literarischen Essay. Die Geschichte seines ersten Gedichtbandes jedoch ist eine typische Wiener Geschichte: Wie der Wiener Verleger Erwin Müller 2.000 Schilling Vorschuß verlangte und den von Celans Freunden aufgebrachten Betrag zuerst einmal zur Deckung von Verlagsschulden verwendete, wie im zweiten Anlauf der Band im Verlag A. Sexl von nicht auf den ersten Blick erkennbaren und sinnentstellenden Druckfehlern wimmelte und Celan die Auflage deswegen einstampfen ließ. Die Wiener Nationalbibliothek führte den Band noch lange in ihrem Verzeichnis.

Der mittellose Celan, Ostjude, im durchtriebenen Nachkriegswien: das Kaffeehaus Peter Altenbergs bildet hier nicht den zuständigen Assoziationsraum. »Das Erreichbare, fern genug, das zu Erreichende hieß Wien«, sagte Celan in seiner Bremer Rede und fügte gleich hinzu:

Sie wissen, wie es dann durch Jahre auch um diese Erreichbarkeit bestellt war.

Kurz zuvor war Ingeborg Bachmann nach Wien gekommen, und sie blickt mit ähnlichen Worten darauf zurück:

Als der Krieg zu Ende war, ging ich fort und kam voll Ungeduld und Erwartung nach Wien, das unerreichbar in meiner Vorstellung gewesen war.

Das ,,Unerreichbare« führte beide zusammen. Sie benutzen dasselbe Wort für das, was sie zusammenführte – zu einer Zeit, als sie noch beide in der literarischen Welt völlig unbekannt waren. Erst nachdem ihre Wege sich gekreuzt und in verschiedene Richtungen weitergegangen waren, würden sie, jeder auf seine Weise, in die literarische Welt vordringen, und dort wird dann gelegentlich ein Nachhall dieser frühen Zeit zu vernehmen sein. Das Unerreichbare, Wien: Für Celan war es der »Anschluß«, die unmittelbare Vergangenheit des Faschismus; für Bachmann war es vor allem die beherrschende Vaterwelt, die Grundlage für alles andere. Doch es gab eine gemeinsame Vorstellung von Wien, eine literarische Fiktion: für den einen die deutsche Sprache, für die andere den antinationalistischen Habsburgmythos.

In einer Behörde, im Internationalen Arbeitsamt, soll Celan Ingeborg Bachmann kennengelernt haben, die dort als Aushilfe arbeitete. In ihrer Erzählung »Drei Wege zum See« tauchen konkrete Erinnerungen an Celan auf – nicht in der Form aufgelöst, verschlüsselt wie in Malina, sondern mit dem Charakter des Unmittelbaren. Bachmann übersetzt Celan dabei in eine Person, die einen anderen literarischen Bezug ausstellt: Franz Joseph Trotta.

Trotta ist bei Bachmann der imaginäre Sohn der Hauptfigur in Joseph Roths Kapuzinergruft wie auch in Flucht ohne Ende – Trotta endet bei Roth in Paris, und so allein wie Trotta ist für Roth niemand auf der Welt.

Bachmann fragt mit ihrer Figur danach, was aus dem literarischen Habsburgermythos geworden ist. Aber sie legt durchaus Spuren dieses Mythos in ihr eigenes Werk. In Malina etwa taucht gelegentlich ein anderes Wien auf, das die Nationalitätenmischung unter Kaiser Franz Joseph meint: einmal, in einer Rückblende in den Sommer 1945, läßt sie sich mit der Ich-Figur gar in ihre utopischen Welten mitreißen:

in der Familie hieß es immer, wenn das vorbei ist, dann werden wir wieder nach Lipica fahren, wir müssen unsere Tante in Brünn besuchen, was mag aus unseren Verwandten in Czernowitz geworden sein…

Genau dieser Frage stellt sich Ingeborg Bachmann mit ihrer Figur des Franz Joseph Trotta: Der lebt nun im Exil in Paris, und er ist dazu geeignet, das mythisch literarische Habsburg in ein zeitgenössisch literarisches zu verwandeln:

und einmal sagte er zu ihr: Ich habe herausgefunden, daß ich nirgends mehr hingehöre, mich nirgends hinsehne, aber einmal hab ich gedacht, ich hätte ein Herz und ich gehöre nach Österreich. Doch es hört alles einmal auf, es kommt einem das Herz und ein Geist abhanden, und es verblutet nur etwas in mir, ich weiß aber nicht, was es ist.

»Drei Wege zum See«, erschienen 1972, ist ungefähr zur selben Zeit wie Malina entstanden, und wieder ist von den zwanzig Jahren die Rede, die zwischen der erinnerten Begebenheit und dem Augenblick der Sehnsucht liegen, von »zwei Jahrzehnten«. Auch auf dem »Höhenweg Nummer 1«, den die weibliche Hauptfigur in »Drei Wege zum See« geht, taucht eine reale Wiener Zeit von 1948 auf:

Die ersten Tage, in denen sie Trotta suchte und floh und er sie suchte und floh, waren das Ende ihrer Mädchenzeit, der Anfang ihrer großen Liebe, und wenn sie später auch, wie sie es aus dem jeweiligen Blickwinkel eben sah, meinte, eine andere große Liebe sei ihre große Liebe gewesen, dann war doch Trotta, nach mehr als zwei Jahrzehnten, auf dem Höhenweg Nummer 1 noch einmal die große Liebe, die unfaßlichste, schwierigste zugleich, von Mißverständnissen, Streiten, Aneinandervorbeisprechen, Mißtrauen belastet, aber zumindest hatte er sie gezeichnet, nicht in dem üblichen Sinn, nicht weil er sie zur Frau gemacht hatte – denn zu der Zeit hätte das auch schon ein anderer tun können –, sondern weil er sie zum Bewußtsein vieler Dinge brachte, seiner Herkunft wegen, und er, ein wirklich Exilierter und Verlorener, sie, eine Abenteuerin, die sich weiß Gott was für ihr Leben von der Welt erhoffte, in eine Exilierte verwandelte, weil er sie, erst nach seinem Tod, langsam mit sich zog in den Untergang, sie den Wundern entfremdete und ihr die Fremde als Bestimmung erkennen ließ.

Die Nähe zur konkreten Person Celans ist im Werk Ingeborg Bachmanns nie größer – seine »Herkunft« brachte sie »zum Bewußtsein vieler Dinge«. Sie transponiert das Celansche Schicksal dabei in jenen Habsburgmythos, der ihr zugehörig ist. Anknüpfend an Joseph Roth, ist Trotta eine literarische Figur. Doch von ihm aus liest sich die Nennung von Czernowitz in Malina anders – obwohl sie unscheinbar aufgehoben ist in den geographischen Perspektiven des Habsburgerreichs, ohne einen anderen Indikator.

Auch die Celan-Zitate in der »Kagran«-Legende weisen sich von vornherein als Momente in einem literarischen Vexierspiel aus, das mehr umfaßt als Celan-Zitate. Dennoch entsteht ein literarisch verdichteter Zusammenhang, dessen Pointe es ist, daß wir über Celans Wiener Zeit fast nichts wissen, aber doch etwas erfahren: in einem imaginären Raum, im Raum der Literatur.

Der Stadtpark mit der Paulownia, der angrenzende Heumarkt, eine kleine Welt: Das Haus Beatrixgasse 26, in dem Ingeborg Bachmann von 1946 bis 1949 wohnte, hat heute eine Gedenktafel. Doch es entpuppt sich als ein mehrfacher Hinterhofkomplex mit sechs Stiegen, der an der anderen Seite ebenfalls einen Zugang hat, und der liegt am Heumarkt. Das Haus ist in den fünfziger Jahren renoviert worden und zeigt sich wienerisch und ungreifbar. Im großen Innenhof, mit vielen Bäumen und Blumen, ist es seltsam ruhig, niemand ist zu sehen, doch aus vielen uneinsehbaren Fenstern kommen Lichtschimmer und verhaltene Laute.

Nicht nur der Stadtpark ist nah. Auch das »Ungargassenland«, der Fluchtraum des weiblichen Ich in Malina, hat hier seine Kernzone. Ein paar Schritte ist es von der Beatrixgasse 26 bis zur Ungargasse, bis zu den dortigen Häusern 6 und 9, in denen Ich/Malina und Ivan wohnen: reale Häuser, die größten und schönsten in dieser Gegend, mit vielen Wohnungen auch unter dem Dach. Eine literarische Projektionsfläche, die Personen, die zufällig dort wohnen, nicht sofort im Blickfeld hat. Das Haus Ungargasse 9, das ziemlich heruntergekommen war, ist jetzt renoviert worden – auf eine Bürgerinitiative hin, die die dort Wohnenden mit Hinweis auf die literarische Bedeutung ihres Hauses gegründet hatten. Ein paar Schritte weiter findet sich auch das Wirtshaus Zum alten Heller, das die Ich-Figur in Malina manchmal beschwört, um ihrer Sehnsucht nach Normalität, nach bürgerlicher Geborgenheit Ausdruck zu geben. Es ist jetzt auch von dem Gourmetreisenden Wolfram Siebeck in einem Bändchen über die »Beisln von Wien« entdeckt worden: wissend lächelt der Ober, schenkt uns einen zu süßen Grünen Veltliner ein und schlurft von dannen wie weiland Hans Moser, und im Nebenraum stehen fein säuberlich gruppiert die Herzerlstühle.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag, 1996