ORTE PAUL CELANS

 

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Der Pont Mirabeau, den Apollinaire so sprachbewegt besungen hat, liegt in einer austauschbaren Stadtlandschaft, ein paar Schritte weg von den eingeschworenen Bürgerbezirken von Paris. Links und rechts von der Brücke zieht sich die Seine an Industriebauten vorbei, wie ein zitierter Schatten legt sich der Eiffelturm über das Bild. Der Pont Mirabeau ist keine romantische Brücke, er hat kein südliches Flair. Er schmiegt sich nicht heimelig über dunkles Gewässer und verbindet kein unabsehbares Häusergewirr – sachlich ist er, in Beton gemeißelt, eine sehr gerade Linie über einen weiten grauen Fluß. Der Pont Mirabeau endet bei der Place André Citroën, ein hektischer Kreisverkehr, ein Verkehrsknotenpunkt, auch die Vorortbahn hält hier. Hochhäuser schwenken in der Ferne ab.

Von dieser Brücke aus muß sich Paul Celan Ende April 1970 in den Tod gestürzt haben. Seine Leiche wurde einige Kilometer abwärts, ziemlich weit abgetrieben, bei Courbevoie, gefunden. Bis zum Pont Mirabeau sind es nur zwei, drei Fußminuten von Celans letzter Wohnung in der Avenue Emile Zola – ein anonymes Appartementhaus aus den zwanziger Jahren. Unendlich viele Namensschilder hängen im Flur, wenn man die Glastür mit dem Digicode hinter sich gelassen hat. Eine Absteige, nahezu unmöbliert, Celan hat hier die letzten eineinhalb Jahre seines Lebens in einer Art Durchgangsstation verbracht.

Wie anders das bürgerliche Haus im 16. Arrondissement, in der unangetasteten Rue de Longchamps, in dem Celan mit Frau und Sohn seit den fünfziger Jahren gewohnt hatte – eine intakte Bürgerlichkeit mit fünf Stockwerken, in der ganzen engen Straße stolze glatte Fassaden, die die Wärme nach innen hinter die Fassaden zu ziehen scheinen und nichts nach außen an die Oberfläche dringen lassen – ein feines Restaurant an der Ecke; in diesem Viertel ist nichts vom flirrenden Paris des interkontinentalen Wirbels zu spüren, des afrikanischen und asiatischen, des Lebens auf der Straße. Hier ist alles ruhig und zurückgezogen, eine Bastion des Alteingesessenen. Links und rechts von Celans Haus unterstreichen noble Firmenvertretungen mit hinter gefiltertem Glas aufgebahrten Autos dieses Milieu und konterkarieren es zugleich seltsam.

Zwischen diesen Polen hat sich Celans Leben bewegt: die langanhaltende, scheinbar geschützte Bürgerlichkeit, mit dem Atelier der bildenden Künstlerin und Großbürgerin Gisèle in der Wohnung; und die unbehausten Behausungen daneben, das Büro in der Ecole Normale Supérieure, in der er als Lektor für deutsche Sprache arbeitete, das Zimmer in der Rue Tournefort Ende 1967 und die Avenue Emile Zola am Ende. Celan war ein Wanderer in der Stadt, er wohnte oft bei Freunden, und er blieb auch oft nachts in der Ecole Normale Superieure, im Quartier Latin.

 

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Es gibt einige diffuse Hinweise auf Celans »Freunde« in Paris. Daß es sehr wenige waren, bei denen er sich in den letzten Jahren aufhalten konnte und auch lange allein in Nebenzimmern blieb, ist jedoch bekannt. Diese sehr wenigen Freunde waren jüdisch, deutschsprachig, im Exil wie er: bei ihnen waren die Gespenster des Faschismus nicht zu vermuten, hier war die Verfolgungsangst zum Teil auffangbar. Solche Freunde waren der aus Ungarn gebürtige Peter Szondi, der Verlagsmann Edmond Lutrant, und in Zürich der Briefpartner Franz Wurm, ein pragerdeutscher Jude.

Der Altphilologe Jean Bollack, ein elsässischer Jude, der in den letzten Jahren viel über Celan gearbeitet hat, weist darauf hin, daß das »Pariser Leben« Celans dem bundesdeutschen Blickwinkel weitgehend entzogen sei. Doch hier sei sein Alltag gewesen, und die Reisen in den deutschsprachigen Raum führten in Ungewisses:

Zwischen Metz und Saarbrücken wurde er ein anderer Mensch.

Während Celan eigentlich »schlichte, einfache Umgangsformen« gehabt habe, sei er in Deutschland »förmlich« gewesen.

Dieses Förmliche entsprach vor allem einer Abwehrhaltung. Klaus Wagenbach, der beim S.-Fischer-Verlag Ende der fünfziger Jahre Celan als Lektor betreute, hat eine Szene in Frankfurt noch genau vor Augen: Celan wollte in einem Frankfurter Blumengeschäft einen Blumenstrauß kaufen. Als er mit Wagenbach hineinging, hörte er die Verkäuferin, die ihn nur kurz angesehen hatte, sagen:

Ei guck mal, jetzt sieht man auch schon wieder die Juden.

Die Verhältnisse in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, das stellt Wagenbach auch heute noch heraus, waren für Celan einfach nicht zu ertragen – mit »Verfolgungswahn« hat das nichts zu tun.

Celan lebte vom deutschen Sprachraum getrennt, er nahm aktuelle Tendenzen durch Zeitungen wahr, durch Briefe, manchmal durch Besuche. Einmal, 1952 in Niendorf an der Ostsee, hat er bei der Gruppe 47 gelesen und blieb unverstanden. »Die haben da einfach nur gelacht«, erzählt Wagenbach und weist auf die »Landsersprache« hin, die damals in der Gruppe 47 noch überdeutlich war – »die sind ja fast alle im Krieg gewesen.« Celans Lyrik, vor allem seine Art des Vortrags, war mit den Interessen der Gruppe 47, der radikalen Ausnüchterung, überhaupt nicht zu vereinbaren. Wagenbach gegenüber sprach Celan von einer «Katastrophe«.

Walter Höllerer, der ihn öfter besuchte und später auch nach Berlin einlud, hielt jedoch weiter Kontakt zu ihm. Und manche Lyriker fuhren nach Paris, um Celan kennenzulernen. Johannes Poethen beschreibt suggestiv, wie Celan Gedichte schrieb: beim Spazierengehen im nahen Bois de Boulogne, beim Ergehen der Worte – mit den Schritten sei der Rhythmus in die Worte gekommen, und das Gedicht sei vollständig schon während dieses Gehens entstanden. Angelangt in der Rue de Langchamps, habe Celan das Gedicht dann geschrieben – direkt in die Schreibmaschine. Dann begegnete Poethen Celan erst wieder anläßlich der letzten Lesung Celans, im März 1970 in Stuttgart: In einem schwarzen, bis an die Knöchel reichenden Mantel sei ihm Celan auf der Königstraße entgegengekommen, etwas Düsteres habe ihn umgeben.

Günter Grass lebte von 1956 bis 1959 in Paris und lernte Celan dadurch näher kennen. »Von jeder Reise in die Bundesrepublik kehrte Celan beschädigt zurück«, erinnert sich Grass. Und er hat das Bild vor Augen, wie Celans Frau Gisèle einmal zu Grass kam und ihn bat, er möge mit in Celans Wohnung kommen – »Paul geht es sehr schlecht« –, Grass sah Celan auf dem Sofa sitzen, mit einer Kompresse auf dem Kopf, die Zeit in der Hand, die am Sofarand herunterhing, und Celan sagte nur:

Lies das!

Für Grass ist entscheidend, daß Celan von der deutschsprachigen Presse, der Hauptverbindung zur Sprache seiner Gedichte, meist absolutes Unverständnis entgegenschlug – »da hatte wohl der Hühnerfeld wieder was geschrieben«, meint Grass. Der damalige Feuilletonchef der Zeit gehörte zu denen, die Celans Ästhetik völlig hilflos gegenüberstanden, die politische Dimension ignorierten und sich in eine diffuse Ablehnung flüchteten.

Grass stellt die Empfindlichkeit Celans, was seine Gedichte anbelangt, besonders heraus – seine Inszenierungen, wenn er Gedichte vortrug, bei Kerzenlicht und in einer weihevollen Stimmung, er habe den Dichter als einen Seher verstanden und das auch so vermittelt. Nur seine Übertragungen von Mandelstam-Gedichten habe Celan anders vorgelesen:

Da bekam man das Gefühl, daß er sich von seiner Existenz erholt hat.

Die erste Begegnung mit Celan schildert Grass so: Christoph Meckel sei bei ihm in Paris gewesen und habe sich auch bei Celan angemeldet. Grass begleitete ihn. Celan legte ihnen einen Gedichtband vor, und Meckel blätterte ein bißchen darin herum.

Da nahm er ihm den Band aus der Hand und sagte: „So liest man nicht meine Gedichte!“

 

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Die Germanistik kann sich Paul Celan schwer vorstellen, wie er etwa in der »Chope« an der Place de la Contrescarpe sitzt und Wein trinkt: auf der Place de la Contrescarpe stehen Paulownien, aus der Familie der Fingerhutgewächse – ein Baum, den er mit sich selbst identifizierte; dieser Platz war für ihn ein Fluchtpunkt. Die Germanistik hat Paul Celan zu einem mythischen Text gemacht, in dem nur Höheres zur Sprache findet und nur Tiefes aufscheint. Theologisches, Philosophisches, Sprachmystisches förderte die Celan-Exegese gemeinhin zutage, in letzter Zeit dann verstärkt linguistisch und strukturalistisch determinierte Bruchstücke. Celan ist eine germanistische Paradedisziplin. Es gibt einen Wettlauf verschiedener Forschungsgruppen, und neben der historisch-kritischen Gesamtausgabe ein Nebeneinander von Projekten, die unübersehbar werden.

Daß Celan kein »reiner Ästhet« war, sondern daß seine Dichtung unmittelbar mit biographischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Zurichtungen zusammenhängt, ist in der Germanistik an den Rand gedrängt worden. Celan mußte, inmitten einer Inflation von schalen Reimereien und der Suche nach Alltagserfahrungen in den siebziger Jahren, als Kronzeuge dafür herhalten, Literatur als höhere Sinngebung zu retten und von der Politik zu trennen – dies scheint fast eine Konsequenz seines persönlichen Schicksals zu sein.

Daß seine Biographie, die Entwicklung seiner Person in den fünfziger und sechziger Jahren, in unvergleichlicher Weise der Öffentlichkeit verborgen worden ist, hat etwas mit den konkreten Prägungen seines Lebens zu tun: die Erfahrung der Judenermordung und die Restauration in der Bundesrepublik der Adenauerzeit. Es ist eine vertrackte Ironie der Geschichte, daß das derart auf das Historische verweisende Verschwinden von Celans Biographie zu einer Blüte der textimmanenten, sprachexegetischen Wissenschaftsmethodiken geführt hat, von der Staiger-Schule in den fünfziger Jahren über die linguistischen Leerläufe der Siebziger bis zu den postmodernen und dekonstruktivistischen Fingerübungen danach. Und heute scheinen gerade auch die Germanisten, die im Zuge einer Politisierung begonnen haben, Celan als Zeugnis höhrerer Wahrheiten zu entdecken. Derlei Textbeschwörungen gingen dabei immer eine ideale Verbindung ein mit den strengen Vorkehrungen, die Celans Witwe für den Umgang mit den Werken ihres Gatten traf.

Daß die Gedichte Celans nichts mit Zeitlosigkeit zu tun haben, hat er selbst des öfteren betont. Seine Gedichte versuchen, so sagte er es in der Dankesrede zum Bremer Literaturpreis 1958, »durch die Zeit hindurchzugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg«. Die Radikalisierung, die im Weg von Celans Gedichten zu verfolgen ist, eine Gratwanderung hinein in die Sprache, wo nichts mehr auf sich selbst verweist und doch einen geheimen Horizont eröffnet, in dem die Bezüglichkeiten wieder neu zusammentreten könnten – diese Radikalisierung ist zutiefst historisch. Der biographische Ausgangspunkt war dabei die Ermordung seiner Eltern und ein lebenslanges Schuldgefühl, überlebt zu haben. Es ist von den Texten nicht zu trennen – dennoch sind sie in ihrer Gestalt weit mehr, als es dieser konkrete politisch-biographische Hintergrund vermuten ließe.
Celan machte die Erfahrung, daß die »Todesfuge« mit ihrer Benennung des Grauens in den Konzentrationslagern »lesebuchreif gedroschen« wurde, mit der scheinbar stimmigen Übersetzung von Leid in Betroffenheit; in Fernsehfeatures wird dieses Gedicht gern mit Fotos und Filmen aus Konzentrationslagern unterlegt. Diese Erfahrung führte Celan bis in die unheimlichste Konsequenz. Er trieb seine Gedichte immer weiter von dieser einlinigen Übersetzbarkeit weg, vom Einverständnis. Celans Gedichte sind von allen Seiten gesellschaftlich durchwirkt, aber sie haben dies nicht zum Thema. Die Radikalität dieser Gedichte liegt in ihrer Sprache selbst.

 

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Es gibt aber auch eine andere Seite Celans. Grass und Höllerer erinnern sich gleichermaßen an eine bezeichnende Geschichte. Celan führte einmal eine Gruppe von deutschen Autoren durchs Marais, wußte von jedem Haus, wer darin gewohnt hatte, vor allem vor und nach der Revolution, und rauchte sehr viel. Er sprach und rauchte und zündete sich eine neue Zigarette an – und steckte offenbar das flammende Streichholz zurück in die Streichholzschachtel. Als sie entflammte, hatte er sie noch in der Hand, er blies sie aus, aber alle sahen, daß die Haut rot war und zu schwellen begann. Celan schaute das an, sprach aber weiter, er wollte seine Erklärungen nicht unterbrechen. Grass, Höllerer und die anderen sahen, wie die Schwellung immer größer wurde, aber niemand wagte, ihn darauf anzusprechen. Man ging weiter durch das geschichtsträchtige Viertel, bis Celan eine Apotheke sah und sagte:

Einen Moment bitte – ich glaube, ich muß nun diese Hand doch ein wenig versorgen!

Grass sagt:

Es war eine richtige Darbietung. Das konnte er. Er war ein Schauspieler.

Und er setzt zwei irritierende Seiten Celans nebeneinander: das höchst Verletzliche, Unansprechbare, und »seine immer wieder ansteckende Lebenslust – er trank gerne einen, fing dann sofort an zu singen. Russisch meistens. Steckte dann auf einmal voller Revolution.«

Ab und zu muß etwas durchgebrochen sein, da rissen die Wolken vorübergehend auf. Trauer und Sinnlichkeit, Depression und Rausch flossen ineinander über, die Anstrengung der Gedichte ist auch ein Kampf um die Sinnlichkeit der Worte. Die Entwicklung vom ersten Gedichtband Mohn und Gedächtnis bis zu Lichtzwang und Schneepart zeigt, wie sich die Worte immer stärker dagegen sperren; der blühende Garten des Surrealismus geht in den Steinbruch der Wortbrocken über. In einer kurzen Skizze Friedrich Dürrenmatts taucht ein ungewohnter Celan zwischen den Worten auf:

Der Tag war heiß, schwül, kein Wind, lastendes Blei. Wir spielten stundenlang Tischtennis, er war von einer ungeheuren, bärenstarken Vitalität, er spielte meine Frau, meinen Sohn und mich in Grund und Boden. Dann trank er zu einer Hammelkeule eine Flasche Mirabelle, einen starken Schnaps, seine Frau und wir tranken Bordeaux, er trank eine zweite Flasche Mirabelle, Bordeaux dazwischen, in der Pergola vor der Küche am Himmel die Sommersterne. Er dichtete in das bauchige Glas hinein, dunkle, improvisierte Strophen, er begann zu tanzen, sang rumänische Volkslieder, kommunistische Gesänge, ein wilder, gesunder, übermütiger Bursche.

Das Balkanhafte, so sagt auch Jean Bollack, war bei Celan unverkennbar. Er spricht von einem »Habitus« im Sinne Pierre Bourdieus, dem Habitus der rumänischen Intellektuellen und Dichter, deren Exil Paris war – Paris lag nahe, eine romanische Verbindung. Ab und zu brach etwas hervor, aus einem verschütteten Leben vor der biographischen Katastrophe: doch diese war der Fixpunkt, wurde bestimmend.

Das Balkanhafte, das man Celan auch in den letzten Lebensjahrzehnten in Paris anmerkte, war durch die Erfahrung der Judenermordung, der Ermordung auch seiner eigenen Eltern hindurchgegangen: sie prägte seine Dichtung, die ihren Ausgang in den ersten beiden Lebensjahrzehnten in Czernowitz in der Bukowina genommen hatte. Der Quell dieser Dichtung, das Rauschhafte, Sinnliche der Worte liegt hier: in diesem Land, »in dem Menschen und Bücher lebten«, wie sich Celan erinnerte, in dieser »nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie«.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag, 1996