ORTE PAUL CELANS

 

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Es war der gelbe Einband des edition-suhrkamp-Bändchens – ein dunkleres Gelb, ins Orange gehend. Das schmale Taschenbuch mit Ausgewählten Gedichten erschien 1968, und es war diese Farbe, die sich mit den Gedichten verband. An jedem verkaufsoffenen Samstag versuchten wir, in die nächstgelegene größere Stadt zu trampen, nach Würzburg mit seinen Buchhandlungen, und es gab in dieser Zeit eine studentisch-alternative namens Colibri, in deren dunklem Gelaß all das konzentriert war, worum es Anfang der siebziger Jahre ging – Velvet Underground und U-Comix, Wagenbachs Quarthefte und Walter Benjamins Über Haschisch, und letzteres war in der edition-suhrkamp.

Es war jenes Gelb, das mir einmal zufällig in die Augen fiel – in der edition suhrkamp waren Bände Über Peter Huchel und Über Günter Eich erschienen, und in den schwarzen »Quartheften«, die an der sichtbarsten Stelle des düsteren Colibri lagen, gab es Gedichte von Johannes Bobrowski – von Paul Celan hatte ich noch gar nichts gehört. Mein Freund Norbert bekam jedesmal Geld, um ein Buch zu kaufen, und wenn es um Gedichtbände ging, konnte ich sie kurz mit nach Hause nehmen, um sie mit der Schreibmaschine abzutippen. Als ich das gelbe Bändchen abtippen wollte, merkte ich plötzlich, daß ich es hier nicht beim Abtippen belassen konnte. Beim nächsten Mal hatte ich das Geld zusammen, um es mir zu kaufen: 5. Auflage, 29.–36. Tausend 1972.

Es war etwas Unbestimmtes, etwas, das ich noch nicht kannte. Die Gedichte von Huchel glaubte ich zu verstehen. Diese Gedichte hier verstand ich nicht, aber es war eine Sprache, die mich nicht mehr losließ. Es gab Bilder in diesen Gedichten, Gebilde aus Worten, die einen suggestiven Ton hatten, einen Rhythmus entließen, den ich zu kennen glaubte, und ich wollte ihn mit diesen Worten zusammenbringen, die ich nicht verstand. Man konnte das nicht übersetzen. Das stand für sich, und es gab nur diese eine Sprache dafür.

Es war die Universität Freiburg, mit dem Elsaß direkt gegenüber, in dem der Büchnersche »Lenz« durchs Gebirg gegangen war. Es war die Zwischenprüfung an der Universität. Sie war mündlich und sollte eine halbe Stunde dauern. Der Prüfer war ein Assistent, der kurz danach die Universität verlassen würde. Von den drei Celan-Gedichten, die ich ihm nennen mußte, wollte er eines auswählen, und darüber sollte ich sprechen. Die halbe Stunde dauerte lange, viel zu lange, viel zu viel für die wenigen Zeilen dieses Gedichts. »Es herrschte Lichtzwang.« Darunter konnte ich mir schon etwas vorstellen, aber je mehr ich mir darunter vorstellte, desto behutsamer fragte der Dozent zurück.

 

*

 

Es sind immer noch dieselben, kleinen Veranstaltungsplakate des Studium Generale, die den Vortrag »Paul Celan. Dasein zur Sprache« des emeritierten Germanistikprofessors Gerhart Baumann ankündigen. Gelb sind sie, nur Schrift, in unscheinbaren, von Typographie nicht angetasteten Lettern. Der Hörsaal 1015 ist beileibe nicht der größte, nicht der Heidegger-Hörsaal nebenan, nicht einer der mehrere hundert Zuhörer fassenden aus der großen Zeit der Lehrstühle, bevor an den Universitäten alles ganz anders wurde. Gerhart Baumann ragt aus einer anderen Zeit herüber; aus einer Atmosphäre, in der man dämonisch hinter das Pult trat, als die Literaturwissenschaft noch etwas galt und die Auditorien sich sensitiv auf die Stimme des Vortragenden einschwangen.

Schon in den siebziger Jahren verhedderten sich bei Baumann nur verquere älteste Semester, wenige verstreute Verlorene. Baumann war fast der einzige, der noch Vorlesungen hielt, und die Studenten waren alle bei den Haupt- und Proseminaren mit ihren diversen Arbeitsgruppen und den »Koordinierten Lehrveranstaltungen«, die die Form der Vorlesung von vornherein als undemokratisch ausschlossen. Manchmal machten wir uns einen Spaß daraus, uns bei Baumann in die hinteren Reihen zu setzen und programmatische Wendungen wie die über Goethes »Dauer im Wechsel« anzuhören. Aber man war zu müde, um hier noch provozieren, um so etwas, wie die 68er, noch ernsthaft stören zu wollen. Das »Bleibende im Flüchtigen«, das Baumann rituell beschwor, schien nur noch etwas Pittoreskes zu sein.

Jetzt, im Februar 1995, ist auch das überlebt. Im Raum sitzen ein paar Dutzend ältere Menschen, die wohl irgendwann einmal bei Baumann studiert haben. Die paar wenigen aktuell Eingeschriebenen, die sich diesen Vortrag angekreuzt haben, schauen nach ein paar Minuten immer irritierter drein, wissen nicht mehr so recht, was sie mit sich anfangen sollen; manche schließen verstohlen die Tür hinter sich.

Um Baumann war immer ein Raunen: er habe Paul Celan gut gekannt, sei gar mit ihm befreundet gewesen, und Celan habe ihn mehrmals einige Tage lang besucht. Mit akademischen Lehrveranstaltungen über Celan hielt sich Baumann aber sehr zurück. Das wirkte beabsichtigt, denn es intensivierte die Fama. 1986 endlich veröffentlichte er, in ebenjenem klassischen Weiß der Celanschen Gedichtbände, Erinnerungen an Paul Celan. Doch die verstärkten das Raunen eher noch, als ihm deutlichere Konturen zu verleihen. Persönlich gefärbte Assoziationen gingen einher mit dem germanistischen Andeutungsverfahren, einem an den Kreis um Stefan George gemahnenden Wörtergebinde.

Baumann ist keineswegs eine ätherische, weltentrückte Erscheinung; der Anzug ist grau und unauffällig, aber durchaus korrekt. Er ist nicht sehr groß, aber vermittelt sofort etwas Wendiges, etwas Pochendes auch. Er eilt zum Pult, rückt es mit ein, zwei mächtigen Handbewegungen nach unten, so daß die Scharniere laut krachen, und er verkündet stolz, daß Paul Celan, was überall große Verblüffung ausgelöst habe, gleich zweimal für Lesungen im Freiburger Studium Generale eigens aus Paris angereist sei.

Die Brillenenden sitzen weit über dem Ohr, der Bügel steil vorn auf dem Nasenrücken. Der Blick, der von hinten schräg über die Brille kommt, geht in dieser Schräge weiter, trifft nie das Publikum direkt. Dennoch wirkt das Professorale bei Baumann eher schleichend, mischt sich erst untergründig, dann immer bestimmender in seine stimmhafte, nordbadische Tonmelodie. Obwohl diese Melodie durchaus mundartlich durchdrungen ist, mit einem etwas harten, kantigen Duktus, kommt es ihm besonders darauf an: es ist eine Melodie, die sich aus den Worten und ihrem Gesetztsein selbst ergibt. Baumanns Vortrag hebt auf etwas Rhythmisches ab; es erscheint ein Spannungsbogen, der nicht primär auf dem Inhaltlichen beruht, sondern auf der Vortragsweise, und daß diese Vortragsweise die eigentliche Aussage birgt, ist bald zu ahnen.

Aufzählungen spielen eine große Rolle, den charakteristischen Baumannschen Spannungsbogen aufzubauen. Er bevorzugt dabei vor allem Namenslisten, es sind dies Anrufungen von Namen. Namen allein, stakkatohaft nebeneinander gesetzt, stellen eine eigentümliche Suggestion her, es wird etwas hergestellt, was aus dem Ungesagten kommt, aus einem Assoziationsraum, den aber beliebig zu nennen jeder sich scheuen muß.

Baumann nennt anfangs eine Reihe von Personen, die mit Celan zu tun hatten und mittlerweile verstorben sind – Bachmann, Nelly Sachs, Mandelstam, Huchel, Heidegger, Erich Einhorn. Die Literaturgeschichte ist ihm kein linearer Prozeß. Sie bildet ein beständig in sich schwingendes Geflecht, aus dem man immer neue Verknüpfungen herstellen kann. So ruft Baumann einige Persönlichkeiten auf, von Jacob Burckhardt bis Rilke, und versetzt dann: alle seien sich geflohen, Dante allein habe sich gesucht. Wenige Minuten später werden geistige Bezugsgrößen Celans zitiert, von Mallarmé bis Mandelstam, und bald ist Baumann bei der ihn am prägnantesten bestimmenden rhetorischen Figur angelangt. Er nennt ein paar Titel Celans, wieder mit dem großen Gestus dessen, der aus dem Vollen schöpft, ein Namenssog, ein Titelsog: In memoriam Paul Eluard, Zürich Zum Storchen, Tübingen Jänner, Gespräch im Gebirg, Todtnauberg. In all diesen Gedichten Celans spielen andere Autoren eine Rolle, es sind »Stimmen, die ihm leben«. Baumann fügt hinzu, und dabei kommt er ganz zu sich selbst: Celan sage »mit fremden Stimmen das Eigenste«.

Mit fremden Stimmen das Eigenste. So etwas hat Baumann am liebsten. Er lebt in Gegensätzen und verbindet diese, und er unternimmt unendlich viele und langanhaltende Anläufe, um zu immer neuen Gegensatzpaaren vorstoßen zu können. »Im Gespräch wurde Paul Celan sich seiner Einsamkeit bewußt«, erinnert er sich, und zwei Verhaltensweisen Celans hätten sich dabei unmittelbar ergänzt: dem »Sich auf Sich-Zurückziehen« seien »schlagschnelle Erwiderungen« gefolgt. Am interessantesten seien »Bekenntnisse« gewesen, »die man bis weit ins Unausgesprochene verfolgen« müsse. Baumann sucht im Laufe des Vortrags immer prägnantere Formeln für sein Modell und findet sie auch: »Aus solcher Nähe spricht bedrohliche Ferne, und solcher Ferne fühlte er sich nah«, faßt er einmal zusammen, und an anderer Stelle bemerkt er aphoristisch:

Alles Anwesende verweist auf etwas Abwesendes.

Baumann erhebt den Chiasmus zur Existenzform, das Widersprüchliche ineins, ein Anheben und Verschwinden, etwas Anschwellendes und Versiegendes. Das ist eine seltsame, eine deutsche Vorform des Strukturalismus, auf jeden Fall ein Zug in ferne Vorstellungen. Wörter wie »einläßlich« und »rückhaltlos« ergänzen den Fluß des Geschehens, sie sind wie Beschleunigungspole, frei schwebende Ruhepartikel.

Dabei wirkt alles schwer von Bedeutung. Trunken davon. Der gesamte Vortrag handelt vom Nichtfaßbaren – etwas, das alles beinhaltet, aber durch die Konnotation der Worte, vor allem denen eines solchen Vortrags, nur erahnbar wird. Es ist die Musik der Worte, der Rhythmus, in dem sie schwingen, in dem das Unerhörte, das Unausgesprochene anwesend ist. Eine ständige Beschwörung dessen durchpulst deswegen das rhetorische Muster der Vereinigung von Gegensätzlichem, die Beschwörung des ganz Anderen. Höchstens in solcher Wiederkehr wird das Geheimnis beredt: Celan, so erfahren wir, »entbindet Gesichte, die bewußt an vorangegangene erinnern«. Baumann fragt, »wie weit er sich selbst erreichen konnte zwischen Sprechen und Schweigen«, und hält fest:

Er setzte sich aus. Eine Preisgabe ohnegleichen!

Celan habe, so teilt Baumann aus seiner unmittelbaren, privaten Erfahrung mit, »Hinweise« nur gegeben, »um sie unverzüglich ins Mehrdeutige zurückzunehmen«; er beruft sich, einen Arm steif ans Pult gerichtet und den anderen ruhig angewinkelt lassend, auf Celans »Vermögen, Unerklärliches mit Gelassenheit vorzutragen«. Baumann verwandelt sich den Celanschen Gestus an, er versucht nicht, etwas zu erklären. Er, der angetreten ist im Zeichen dessen, was man mittlerweile pragmatisch als »Sekundärliteratur« zu bezeichnen gewohnt ist, will beständig ins Primäre hinüberschillern. Den immer vergeblichen Anstrengungen der gemeinen Literaturwissenschaft, die von Erkenntnisinteresse und Textsorten und mittlerweile auch von »Dekonstruktion« spricht, Lyrik also in prosaische Prosa übersetzen will – all dem hält Baumann fast verschmitzt entgegen:

Mit Ironie und delphischen Hinweisen entzog sich Celan allen Nachstellungen.

Baumann spricht nicht von Celans biographischem Fixpunkt, dem Judentum, der wechselnden Bedrohung von Faschismus und Stalinismus in Czernowitz, der Ermordung der Eltern im Arbeitslager; Baumann spricht auch nicht über die Entwicklung in Celans Lyrik, von symbolistischen, surrealistischen Traumbildern des Anfangs zu Wortverkarstungen am Ende. Baumann spricht über die Lyrik an sich. Die sei der Prosa deswegen überlegen, »weil die Prosa nicht in der Lage ist, das Verschwiegene aufzunehmen«.

Das Gedicht steht da wie ein Fels, als Fertiges. Baumann teilt mit:

Einer kritischen Ausgabe seiner Gedichte hätte Celan nie zugestimmt. Das Gestrichene und Verworfene wollte er im Vergessen haben!

Dabei lächelt er beinahe so versonnen wie vorher, als er, in einem angedeuteten Anflug von Jugendlichkeit, die »Zungenspäße« Celans zitiert – ein Wort, mit dem der Lyriker seine Neigung zu Wortspielen umschrieb. Doch im selben Ton, im schwungvollen Anheben und Vergehen des Satzbaus, haben wir Gelegenheit, teilzuhaben am Gespräch über Gedichte: »In zahlreichen Gesprächen erhob er kenntnisreiche Fragen, er erbat Auskünfte«, erinnert sich Baumann, und er setzt nach:

Daß er bereitwillig nach Freiburg kam, bestätigt dieses.

Im letzten Satz nimmt er plötzlich die Brille ab, hält sie, als bedeutsame Geste, vor sich in der Hand, und schaut für zwei, drei Sekunden diametral ins Publikum. Während er diesen Satz sagt, verstaut er das Manuskript schon in der schmalen schwarzen Aktentasche, und als er mit diesem Satz zu Ende kommt, ist er schon fast auf dem Weg zur Tür. In diesem letzten Satz, in den letzten Worten taucht zum erstenmal der Titel des Vortrags auf, er ist wie eine Coda, und als Baumann diese Worte ausspricht – »ist er mit seinem Dasein zur Sprache gegangen« –, ist er schon an der Tür, hat sie schwungvoll aufgemacht und ist darin verschwunden. Man sieht ihn rasch entfliehen, so, als würden die Ovationen ihn überholen.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag, 1996