ORTE PAUL CELANS

 

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Die Zeit der Bukarester Boheme erscheint im Nachhinein als die glücklichste Zeit in Celans Leben. Petre Solomon, ein Freund dieser Bukarester Tage, zitiert in seinen Erinnerungen leitmotivisch aus einem Brief, den Celan ihm am 12. September 1962 aus Paris schrieb:

Ich habe eine Reihe großer französischer Dichter kennengelernt – und übersetzt. (Wie ich auch »die Blüte« der deutschen Dichtung kennengelernt habe.) Manche von ihnen haben mir durch Zueignungen und Widmungen ihre Freundschaft kundgetan, von der ich nur folgendes sagen kann: sie erwies sich als ausschließlich »literarisch«. Aber ich hatte, es ist lange her, Dichter-Freunde: das war zwischen 45 und 47 in Bukarest. Ich werde es nie vergessen.

Die Stadt, auf die Celan nach seiner Ausreise aus Czernowitz mit einem sowjetischen Militär-Lkw stieß, war immer seine Hauptstadt gewesen, rumänisch die offizielle Landessprache in Czernowitz. Bukarest galt als das »Paris des Ostens«, und auch im April 1945, als Celan ankam, muß in all den Zerrüttungen und Vernichtungen des Krieges der besondere Charakter dieser Stadt erkennbar gewesen sein: eine orientalisch-westeuropäische Durchmischung, ein Gewirr kleinerer Straßen mit Kirchen als Zentrum, das von wenigen großen Boulevards durchkreuzt wurde, französischer Eklektizismus vor 1914 neben nationaler Folklore. Prägend war jedoch die Moderne der Zeit zwischen den Kriegen: sachliche, funktionale Bauten, die das Stadtbild beherrschen und noch heute die zwanziger und dreißiger Jahre als bestimmendes städtebauliches Moment erscheinen lassen.

Paul Morand veröffentlichte 1935 in der Librairie Plon in Paris sein Buch Bucarest, in dem er diese Stadt als die »glänzendste, lebhafteste, eleganteste, westlichste unter den Kapitalen des Balkans« beschrieb und charakteristische, lyrische Bilder fand, etwa über die Gärten, das alles überwuchernde Grün und die »rumänischen Blüten, unbesiegbaren, die überall klammern und allem widerstehen, dem wirbelnden Staub wie der unablässigen Sonne«, und er faßt zusammen:

Was uns Bukarest lehrt, ist keine Lektion der Kunst, sondern eine Lektion des Lebens.

Petre Solomon zitiert die Eindrücke Paul Morands, um das Lebensgefühl der jungen Schriftstellergeneration, die nach 1945 hier auftrat, zu beschreiben: trotz der biographischen Erfahrungen, des Krieges, der überall seine Spuren hinterlassen hatte. Solomon, ein rumänischer Jude, war 1944 nach Palästina ausgewandert, um zwei Jahre später wieder nach Bukarest zurückzukehren. Im Verlag Das russische Buch, wo beide arbeiteten, lernte er Paul Celan kennen, und er wurde der engste Freund Celans in dieser Zeit.

Die sowjetische Hegemonie war schon kurz nach dem Krieg in Rumänien eindeutig, und für den Verlag, der für die Veröffentlichung russischer Literatur im Rumänischen zuständig war, übersetzte Celan mehrere Bücher, unter anderem Lermontows Ein Held unserer Zeit oder Tschechows Bauern. Hier durfte er sogar, entgegen der üblichen Praxis, als Übersetzer zeichnen: »Paul Ancel« oder »A. Pavel«. Marcel Marcus, ein anderer Kollege, erinnert sich an den kleinen Tisch Celans, der durchaus Anrecht auf einen normalen Schreibtisch gehabt hätte, an dessen graue Pullover und billige Zigaretten.

Der Dichter Alexandru Phillipide, den Celan später in Briefen wiederholt als »Meister Philippide« grüßen wird, war der literarische Berater in diesem Verlag. Die Besprechungen unter seiner Leitung fanden einmal in der Woche statt. Es war die Zeit vor dem endgültigen Stalinismus auch in Rumänien, eine Übergangszeit mit noch ungeordneten Möglichkeiten, die auch für Celan später gelegentlich ideale Züge annimmt. Celan übersetzte in Bukarest auch politische Texte für die Parteizeitung Scinteia – noch waren der von Stalin geprägte Kommunismus und gewisse anarchische Strömungen der Linken, denen vor allem Celans Sympathien galten, Bakunin oder Kropotkin, im zeitgenössischen Bewußtsein nicht völlig auseinandergerissen. Celans Flucht aus Rumänien hatte auch damit zu tun, daß der Stalinismus unausweichlich wurde.

Solomon erzählt von der Kantine in der Batiststraße, in der sich das Menü öfter auf eine klare Suppe und einen gekochten Maiskolben beschränkte, vom »Ökonomaten«, der in den früheren Ställen des alten herrschaftlichen Hauses des Verlags untergebracht war und wo man auf Karten zusätzlich Zucker, Öl oder Mehl oder auch ein Stück Stoff für einen Anzug kaufen konnte, und vom dortigen Hausmeister Gheorge Faghira, »einem Mann für alle Fälle, einem Trinker mit großem Herzen«.

Celan wohnte, nachdem er in Bukarest angekommen war, eine kurze Zeit bei Alfred Margul-Sperber, der damals 47 Jahre alt war, und er spielte später ein paarmal darauf an, wie er sich dort sein Bett auf dem Küchentisch Sperbers richtete – in der obersten Etage einer Bojardenvilla, die vor allem durch ihre große, efeuüberwucherte Terrasse in Erinnerung blieb. Sperber zog bald darauf um, in die Buzesti-Straße 98. Dort versammelte er jeden Sonntagvormittag Schriftsteller um sich. Celan erinnerte sich immer dankbar an Sperber als seinem ersten Mentor, die »L’heure de Sperber« wurde für ihn fast ein geflügeltes Wort. Und es war die Frau Sperbers, die aus dem Wort »Ancel«, der rumänischen Schreibweise von Celans Familiennamen Antschel, das Anagramm »Celan« bildete und damit das Pseudonym des Dichters schuf.

Sperber vermittelte ihm den Briefwechsel mit Max Rychner, der Redakteur der Zürcher Zeitung Die Tat war und dort am 7. Februar 1948 die ersten Gedichte Celans im Westen druckte; an Otto Basil, der in Wien den Plan herausgab, gab Sperber ein Empfehlungsschreiben mit, als sich Celan im Dezember 1947 nach Wien durchschlug. In Bukarest wurde Celan jedoch zum erstenmal überhaupt gedruckt: im Mai 1947 erschien in der Zeitschrift Contemporanul die »Todesfuge«, in der Übersetzung Petre Solomons, gleichzeitig waren in der einzigen jemals erschienenen Nummer der Zeitschrift Agora drei Gedichte Celans im Original, auf deutsch, zu lesen.

Bukarest war eine Art Befreiung – dort verbrachte Celan die ersten Jahre, in denen er als Erwachsener relativ frei von äußeren Zwängen, von Unterdrückung und Verfolgung war. Er bewegte sich unter Schriftstellern und Journalisten, und er hatte auch Kontakte zum sehr geschlossenen Kreis der Bukarester Surrealisten um Gherasim Luca. Eine Gruppe von Gleichaltrigen, vor allem um die Autorin Nina Cassian, war wohl die wichtigste: bei Nina Cassian, zwischen »bilderbedeckten Wänden« in der Poenaru-Bordea-Straße, war er oft mit Solomon zu Gast.

Schon im ersten Brief an Solomon aus Wien erinnert sich Celan an »die schöne Zeit der Wortspiele«. In Bukarest war der Surrealismus groß in Mode, und bei Nina Cassian spielte man da mit: »Frage und Antwort« hieß eines der poetischen Spiele, die man betrieb, »Joachim« ein anderes, eine Bukarester Variante des »cadavre exquis« von Breton. Solomon erinnert sich auch gern an die »unanständigen« Lieder, die man dort sang, obszöne oder einfach bloß lustvoll alberne Verse im Stil der Pariser Surrealisten der ersten Stunde. In einem Heft notierte Solomon im Frühjahr 1947 eigens Wortspiele, die Celan im Gespräch entwarf, und nannte es »Paul Celans Abendbüchlein«.

Celan schrieb Prosastücke auf rumänisch, die sichtlich vom Austausch mit den Freunden inspiriert sind: »Als Anhänger des erotischen Absolutismus, als sogar unter Tauchern zurückhaltender Größenwahnsinniger, als Botschafter gleichzeitig des Halos Paul Celan, rufe ich die versteinernden Erscheinungen des Luftschiffbruchs nur alle zehn (oder mehr) Jahre hervor –« so beginnt einer dieser Texte, die in Czernowitz nicht hätten entstehen können. Ein Prosastück, das einzige auf deutsch, scheint ein direkter Ausfluß der surrealistischen Praxis zu sein:

Geräuschlos hüpft ein Griffel über die schwärzliche Erde, überschlägt sich, wirbelt weiter über die endlose Tafel, hält inne, hält Umschau, nimmt niemanden wahr, setzt die Wanderung fort, schreibt.

Die gemeinsame, spielerische Erfindung poetischer Bilder ist die surrealistische Technik schlechthin; der »erotische Absolutismus«, den Celan hier lustvoll anruft, lag nahe. Die Silvesterfeier 1946/47 bei einem Italienischlehrer in der Boteanustraße ist ein Fixpunkt in Solomons Erinnerung: dort verließ ihn seine Freundin, und Celan schrieb ein Gedicht auf rumänisch über diesen Abend: »Reveion«. Bei einem anderen Fest jedoch, mit Theater- und Gesangseinlagen bei Solomons späterer Frau, soll Celan Ciuci, eine seiner Freundinnen, kennengelernt und spontan eine Klavier- und Tanznummer für sie aufgeführt haben. Ovid S. Crohmalniceanu, der eigentlich Moise Cahn hieß, erinnerte sich 1981 auf einem Bukarester Celan-Symposion an diesen Abend und an die Art, wie Celan sang: neben revolutionären Liedern aus dem Spanischen Bürgerkrieg konnte er auch alte deutsche Landsknechtslieder vortragen, und Crohmalniceanu nennt dasselbe Lied wie Edith Silbermann:

Paul sang »Flandern in Not« (…). Am Ende jeder Strophe stampfte er mit dem Fuß auf den Boden und nahm mit immer dumpferer Stimme den Refrain wieder auf: »Ge-stor-ben«.

Die »blumengeschmückten jungen Mädchen« spielen für Solomon in seiner Erinnerung an die Zeit mit Celan eine große Rolle, »elegant mit geringem Aufwand oder sogar nach der letzten Pariser Mode gekleidet«, und er nennt einige Namen von Freundinnen Celans: Viorica, Lia, Ciuci.

Lia Fingerhut war die Tochter eines bekannten Bukarester Arztes, und sie war die Begleiterin Celans, als eine Gruppe von Freunden am 12. April 1947, von Sinaia aus, zu einer Wanderung in die Karpaten aufbrach: mit einem Aufstieg zur Voevozi-Hütte, von dort zur Pestera-Grotte und zur Tataren- und Zanoaga-Schlucht. Man schlief in Schutzhütten, die überfüllt waren, und kehrte, wie Solomon schreibt, »nach ein paar glücklichen, also geschichtslosen Tagen vom Bahnhof Titu aus nach Bukarest zurück«.

Auch für Celan scheint es in den Bukarester Tagen manchmal die Möglichkeit der Geschichtslosigkeit gegeben zu haben, eine Zeitlücke. Die Schlüsselsituation seiner Biographie, die Ermordung der Eltern im Arbeitslager, hatte sich kurz davor ereignet – diese Katastrophe prägte jedoch noch nicht, wie aus den Erinnerungen der Zeitgenossen hervorgeht, den Alltag im Bewußtsein Celans. Die Spannung zwischen dem komödiantischen, theatralischen Talent Celans und der tragischen Grundierung seines Lebens war in Bukarest noch nicht eindeutig auf eine Seite verlagert.

Solomons Erklärungen, so irritierend sie auf den ersten Blick für das offizielle Celan-Bild wirken, treffen sicher etwas Richtiges:

Die Jugend kann nicht die einzige Erklärung für diese Jovialität sein, obwohl sie ganz sicher auch darin ihren Ursprung hatte; der Humor war organischer Bestandteil der intellektuellen Struktur des Dichters und sollte ihm auch in der tragischsten Phase seiner Lyrik (wenn auch in gequälten Formen) nicht abhanden kommen.

Und an anderer Stelle:

Die spielerische Seite von Celans Dichtung ist offensichtlich nur eine Komponente eines komplexen Systems, das sich aus zahlreichen Ingredienzen zusammensetzt; und sie annulliert nicht, im Gegenteil, sie bereichert dessen dominant tragische Gesamtheit.

Die surrealistischen Spiele, der schwarze Humor, das Singen des altdeutschen Landsknechtslieds »Flandern in Not« mit dem dumpfen Refrain »Ge-stor-ben« – an der Oberfläche standen Mechanismen zur Verfügung, das erlittene Schicksal zu überspielen, damit artistisch umzugehen. Diese, wie letztlich jegliche Form von Artistik wird von Celan später jedoch immer eindringlicher befragt und verworfen werden.

Celans Brief an Max Rychner vom 3. November 1946 hat etwas innerhalb der sonstigen Zeugnisse aus dieser Zeit ungewöhnlich Bekenntnishaftes – es ist die erste Kontaktaufnahme mit dem Westen, mit dem deutschen Sprachraum, und es ist hier etwas zu spüren, was von unter der Oberfläche herkommt: er schreibt, daß jedes seiner Gedichte »von dem Gefühl begleitet war, ich hätte nun mein letztes Gedicht geschrieben«, und er schreibt von einer Einsamkeit, in der er nur Alfred Margul Sperber als Pendant erkennen kann. »Flügelrauschen«, ein wichtiges frühes Gedicht, wird hier zu einem Bild für die Existenz – »die Mahnung des unsichtbaren Engels«, die Celan fühlt.

Die surrealistischen Sprachspiele, die in Bukarest ein Bindeglied zwischen den Freunden darstellten, sollte man in bezug auf Celans eigene Dichtung nicht überbewerten. Dem automatischen Schreiben, dem Bewußtseinsstrom stand Celan immer skeptisch gegenüber, und daß er Solomon auf Kafka hinwies, mag eine tiefere Bedeutung gehabt haben. Doch die Bukarester Jahre blieben ein eigenartiger Freiraum, ein Resonanzraum auch für den späten Celan. In den akuten Jahren seiner psychischen Krise nach 1960 griff Celan auf den frühen Raum des Ostens zurück, als mythenbildenden, bis hin zu Sätzen wie »meine Hoffnung liegt im Osten« und der Berufung auf »mein altes Kommunistenherz«.

Am 18. Februar 1962, schrieb Celan an Solomon aus Paris:

Ich weiß nicht, ob euch diese Nachricht erreicht hat. Lia ist im Mittelmeer ertrunken, weit, ach wie weit weg von alles, was unvergeßlich-nahe bleibt im Herzen und durchs Herz.

Celan fügt hinzu:

Gib Ciuci meine Adresse. Und sag ihr, ich bitte sie, mir ein Wort zu schreiben, zwei-drei Worte.

Ciuci war der Kosename für die Schauspielerin Corina Marcovici, die Freundin Celans in seiner letzten Bukarester Zeit.

Am 23. November 1967, seinem Geburtstag, zweieinhalb Jahre vor seinem Tod in der Seine, schrieb Celan wieder an Solomon – am Abend in seinem Zimmer in der Ecole Normale Supérieure:

Ich denke an unseren Ausflug in die Karpaten vor mehr als zwanzig Jahren. Lia, Lia, ertrunken, ertrunken, ertrunken. Nichtigkeit des Geschriebenen. Erinnerst du dich an die revolutionären Lieder, die ich euch bei der Rückkehr im Zug gesungen habe – mein Repertoire ist immer noch das gleiche, ich lehre sie auch Eric, der mich den vollständigen Text des Lieds der Partisanen, der Maquisards lehrt – Anachronismen, Catachronismen…

 

*

 

Daß Bukarest das Paris des Ostens ist, geriet seit Ende der vierziger Jahre in Vergessenheit. Es ist seltsam, wenn man nun auf eine romanisch geprägte Sprache und Mentalität trifft, die abgeschottet war. Keine aktuellen Berührungen mit dem Westen, aber an der Wurzel viele Gemeinsamkeiten: das hat etwas von einer kruden historischen Phantasie.

Der Flughafen glitzert in frühmodernen, blauen und roten Buchstaben, wie in einem Übungsheft. Vor dem zollfreien Laden stehen zwei Mädchen, die für eine amerikanische Zigarettenfirma Reklame machen sollen, in Jeans, die ein bißchen zu eng sind, und weißen T-Shirts – sie stehen herum und wissen nicht so recht was sie hier zu tun haben. Es wird abgewartet. Ein Heer von Taxifahrern, bei denen die Grenze zwischen lizenzierten und unlizenzierten schwer auszumachen ist, steht schon in den ersten Gängen, um die Neuankommenden abzufangen und für dreißig oder vierzig Dollar in die Stadt zu fahren – der Flughafenbus kostet ein paar Lei, die offizielle Taxifahrt nur ein bißchen mehr.

Es ist wieder Ruhe eingekehrt im Bukarester Stadtbild. Auf der Piata Romana wie auf dem Platz gegenüber vom Nationaltheater, wo zur »Revolutionszeit« nach dem Dezember 1989 die Massenkundgebungen stattfanden, sitzen jetzt die Verarmten und die Bettler. Was als Stigma des freien Markts eingezogen ist und alle Transparenttafeln und Plakatwände besetzt hält, ist so monolithisch wie früher: Coca-Cola und Pepsi-Cola liefern sich einen heftigen Kampf um die Quadratmeterflächen. Die Sonnenschirme über den Tischen im Freien, die Auslagen der Kneipenfenster, alles, was mit Folien zu bekleben ist: ein balkanisch überladenes Festival in Cola-Rot.

Mehr ist nicht zu sehen. Weder in den Geschäften noch auf den Speisekarten oder an den Umgangsformen in den gastronomischen Einrichtungen. Die alte, spezifische Mischung ist immer noch virulent: serviles, nahezu orientalisches Benehmen, das Einschenken jedes neuen Schluckes in die Gläser, und daneben eine unendliche Diskussionsbereitschaft – jedes Detailproblem kann so erörtert werden, daß es unübersehbar wird. Nur im Springtime scheint eine neue Zeit angebrochen zu sein, der rumänischen Antwort auf McDonald’s: zu Hamburger und Cheeseburger gibt es Iaurt, den Trinkjoghurt, der zur staubig kontinentalen Hitze Bukarests paßt.

Kulturminister ist mittlerweile Marin Sorescu, ein Lyriker, den man nicht so recht mit politischer Tätigkeit identifizieren kann. Der zwanzigste Todestag Tudor Arghezis wird gefeiert, im Garten der Villa Arghezis am Stadtrand unter Kirschbäumen, wo er auch begraben liegt – Sorescu erzählt in seiner Rede, wie er Arghezi einmal begegnet ist, ohne daß eine Anekdote dabei herauskäme.

In Bukarest wohnt aber auch der mittlerweile achtzigjährige Gellu Naum, der einzige noch lebende Surrealist der ersten Stunde; Zeuge jenes surrealistischen Aufbruchs in Paris, der auch Bukarest voll erfaßte. Naum spricht gelassen darüber, daß Rumänien sich in einer Art »Neolithikum« befinde: eine lang anhaltende Dürreperiode, die ein Licht weit in frühere Steinzeiten zurückwirft. Mit der zweiten Generation von Bukarester Surrealisten – Petre Solomon, Nina Cassian und andere –, zu denen auch Paul Celan gehörte, will Naum nichts zu tun haben.

Die wichtigsten Materialien aus Celans Frühzeit befinden sich im Bukarester Literaturmuseum, vor allem im Nachlaß Alfred Margul Sperbers. Jedes Schriftstück ist versehen mit dem länglichen Stempel der sowjetischen Militärbehörden, der zur Ausfuhr aus Czernowitz nötig war. In Czernowitz selbst befindet sich kaum mehr etwas. Als das Berliner Literaturhaus seine umfassende Bukowina-Ausstellung zusammenstellte, lebte sie deswegen von Bukarester Straßennamen und Adressenangaben, wichtige Briefe und Karten Celans an Sperber künden davon – das Gedicht »Auf Reisen« etwa, das er zwischen Wien und Paris auf eine Karte schrieb. Noch in den sechziger Jahren gibt es Briefe in die Maria-Rosetti-Straße, in der heute ein Denkmal des schlitzohrigen Dramatikers Ion Luca Caragiale steht. Und man sieht im Ausstellungskatalog auch das Bild des alten Sperber, eines rumänischen Nationalpreisträgers, der sich zu staatstragenden Hymnen geläutert hatte.

Im Keller des Verlags Das russische Buch in der Calea Victoriei 120, wo Celan arbeitete, ist heute ein Lokal mit »Pianno Jazz«. In den ehemaligen Verlagsräumen darüber sitzt heute die Gruppe Für den sozialen Dialog, eine Vereinigung von Intellektuellen, die sich in der Umbruchzeit nach 1989 bildete und in den ersten Monaten eine große Rolle spielte. Mittlerweile hat sich der Elan verflüchtigt, und in der angeschlossenen Buchhandlung Humanitas fällt eine Faszination für Mystisches und Theologisches auf; auch Heidegger scheint eine große Rolle zu spielen. In Rumänien hat sich im Vergleich zu Ungarn, Polen oder Tschechien am wenigsten verändert; aus den alten Eliten haben sich auch die neuen herausgebildet.

Auf den Straßen, am Platz der Revolution, wo immer noch die Einschüsse am Pallas-Athene-Hotel, dem Kunstmuseum und vor allem der Nationalbibliothek zu sehen sind, fallen vor allem die fliegenden Händler mit Toncassetten auf – Raubkopien der Stones, der Doors und allen möglichen, Hardrocktröten, für ein bis zwei Mark. Unbehelligt der Balkon, auf dem Ceaucescu stand, bevor er mit dem Hubschrauber zu fliehen versuchte – heute ist im ehemaligen ZK-Gebäude der Senat untergebracht.

Von Ceaucescu ist das Stadtbild Bukarests gezeichnet. Mitte der achtziger Jahre wurde eine »Allee des Sieges des Sozialismus« begonnen, nach einer gewaltigen Abrißaktion. Oft sind immer noch nur die Fassaden sichtbar, Wohnungen dahinter nicht bewohnbar, und in den künstlichen Kanälen neben den Straßen gibt es kein Wasser. In der Weite einer absolutistisch-sozialistischen Wüstenarchitektur prunkt der gigantische »Volkspalast«, dem eines der ältesten Stadtviertel zum Opfer fiel. Dieser sich ins Unendliche auswachsende kleinbürgerliche Protz, dieser Monumentalismus steht in größtem Gegensatz zur frühen Moderne in diesem Jahrhundert, die Bukarest geprägt hat – der totalitäre wie der urban-zivile Aspekt Europas stoßen wie in einer Theaterkulisse aufeinander. Ceaucescus Dracula-Schloß heißt heute Internationales Congress Centrum, und es wird damit geworben, daß man hier, in der »Repräsentation des rumänischen Volkes«, Sitzungssäle mieten könne.

Der Dramatiker Caragiale, dessen Denkmal heute in einem durchaus bürgerlichen Viertel der Zwischenkriegszeit steht, hat sich zur Zeit der Jahrhundertwende auf die Seite der Unterdrückten und Armen geschlagen und ist ins Exil nach Berlin gegangen. Er kehrte nie mehr nach Bukarest zurück:

Wenn ich in Berlin einen Wasserhahn aufdrehe, kommt Wasser heraus.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag, 1996