ORTE PAUL CELANS

 

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Selbst das Grab scheint noch konsequent zu sein. Pariser Friedhöfe sind sonst von einer individuellen Atmosphäre bestimmt; der Tod hat etwas Pittoreskes, Ritualisiertes und läßt sich auf ein Lebensgefühl beziehen. Paul Celans Friedhof hat nichts davon. Er ist der, der sich am radikalsten zurücknimmt, radikal alle Attribute des vorgängigen Lebens abgestreift hat. Nichts vom wollüstigen Schwelgen in Gruft und Prunk wie auf dem Père-Lachaise, dem stillen, glattglänzenden Pathos Marcel Prousts. Auch kein elegantes In-den-Hang-Schmiegen wie am Montmartre, wo Heine im Zuckerbäckerstil des späten 19. Jahrhunderts verfremdet wurde; und schon gar nicht die Feierlichkeit des Montparnasse, wo die historische Gloire der französischen Nation in geometrischer Wucht aufscheint und frühreife Mädchen dennoch nonchalant ihre Poesiealben und Metrofahrkarten auf dem noch frischen Grab von Serge Gainsbourg anordnen.

Der Cimetière parisien de Thiais liegt außerhalb der Stadtgrenzen. Von der Metroendhaltestelle Villejuif muß man einen Bus nehmen, der schnurgerade durch die nicht endenden Vororte fährt, durch die dahingestreckten Flachbauten, Fabrikgebäude und weiße Reihenhäuser, eine anonyme Endlandschaft. Die Mauer des Friedhofs verläuft parallel zur Straße. Man kann mit dem Auto hineinfahren, bis vor die Abteilung, in der das gewünschte Grab liegt. Eingeteilt in genau gleich große Abteilungen mit derselben Grabanordnung, mit dem Rechenschieber ausgemessen, zieht sich der Friedhof unter dem Lärm des nahe gelegenen Flughafens Orly hin, schüttere Baumreihen markieren die Hauptstraßen, an denen man sich orientieren kann. Auch die Ästhetik der Gräber wirkt übersichtlich bis ins Unendliche: flache Platten, in die die Namen der Verstorbenen eingraviert sind; meist ist ein kleines Beet für Immergrünes in das Fußende eingelassen.

Die Liste der Berühmtheiten, mit der dieser Friedhof sich schmückt, ist sehr kurz. Ein Sohn Trotzkis liegt hier, ein französischer Innenminister. Joseph Roth, nach den letzten verzweifelten Jahren im Pariser Exil, war einer der ersten, die hierher überführt wurden, und dann gibt es noch den »poète autrichien« Paul Celan. Armengräber auf dem Weg dorthin: Vergessene Erdaufschüttungen, in die unregelmäßige, verwitterte Holzkreuze gesteckt sind, notdürftig und grob Vornamen eingeritzt.

Die einunddreißigste Abteilung ist so wie die anderen auch: nackte Steine, nebeneinanderliegend. Und doch ist das Grab Celans, trotz der Überschaubarkeit und Regelmäßigkeit der Gräberreihen, nicht leicht zu finden. Auf den ersten Blick sieht es wie einer der Müllhaufen aus, auf den alte, verdorrte Kränze wandern, welke Blumen, Distelgestrüpp. Ödplätze, Schutt:

Lichtgewinn, meßbar, aus
Distelähnlichem: einiges
Rot, im Gespräch
mit einigem Gelb.

Während die Gräber ringsum bloßliegen, verschwindet die Grabplatte Celans unter den welken Blumen einiger Jahre. Manch graues Gebinde, manch alte Blüte steckt noch im angegammelten Plastikschaft. Wenige sind es, die im Lauf der Zeit hierhergekommen sind, doch diese Wenigen hinterließen immerhin eine kniehohe Schicht ausgedörrter Vegetation.

 

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Das deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar wird immer neu erweitert. Unter dem Hof, der sich vor dem klassizistischen Schiller-Nationalmuseum erstreckt, gibt es viele undurchsichtige Gänge, betoneingefaßt, lange Zeit wurde geweißelt und mit Plastikfolien verhüllt. Vom Katalograum geht es hinunter, von einer Treppe aus, die »Nur für Mitarbeiter« ist, und nach einigen Windungen und Stahltüren steht man plötzlich davor. Metallregale, nackte Wand. Der Nachlaß Paul Celans ist in 65 der üblichen Archivkästen versammelt, ihre grüne Kunststoffolie ist durch die Zollaufkleber bei der Reise über die Grenze von Frankreich nach Deutschland an immer derselben Stelle abgerissen. Auf allen Kästen klebt ein roter Punkt: »Gesperrt«, bedeutet das. Kleine hellblaue, rechteckige Aufkleber weisen mit schwarzen Computerzahlen auf die innere Archivzählung hin, völlig unabhängig vom Inhalt: bei »54« fängt Celan an.

Als die Marbacher Anfang 1990 den Erwerb des Celan-Nachlasses bekanntgaben, war eine Zeit langwieriger Prozesse abgeschlossen. Mitte 1987 begann das Gespräch mit Gisèle Celan-Lestrange, der Witwe, in Paris: es gab komplizierte Verhandlungen mit ihr, über die Modalitäten des Ankaufs und die Möglichkeiten wissenschaftlichen Arbeitens, und daneben mußte man sich mit der Bibliothèque Nationale in Paris über die Freigabe ins Ausland einigen. Die Auflagen, die die Witwe machte, sind für einen Dichternachlaß in einem öffentlichen Archiv einzigartig. Mehrmals fuhr der Leiter der Marbacher Handschriftenabteilung, Jochen Meyer, nach Paris – nachts hin, tagsüber verhandeln, nachts zurück – in die Rue Montorgueil in der alten Hallengegend, in das Landhaus in Moisville in der Normandie.

Ein geheimnisvoller Schleier ist um Celans Biographie gelegt. Was sich nach 1948, dem Umzug des Achtundzwanzigjährigen nach Paris, in seinem Leben ereignete, steht vielen Spekulationen offen: die Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, die sich in den sechziger Jahren, im letzten Lebensjahrzehnt, häuften, die immer stärker werdende Sensibilisierung des Juden, der in den alltäglichsten Dingen um ihn herum das Weiterwirken des Faschismus erkannte; die Affäre um die unhaltbaren Anschuldigungen Claire Golls, Celan habe von ihrem Mann Yvan Goll abgeschrieben. Gisèle, die Witwe, die in den letzten Jahren von Celan getrennt lebte und ihn fast nicht mehr sah, legte großen Wert darauf, daß von den privaten Zeugnissen des Dichters so wenig wie möglich ans Licht der Öffentlichkeit gelangte, daß es im Idealfall von Celan nur den reinen Text gebe und sonst nichts.

Steht man vor den grünen Kästen des Celan-Nachlasses in Marbach, ahnt man, daß sich hinter den dünnen Gedichtbänden des Autors ein ganzes Netz von Ungedrucktem, von vielerlei Geschriebenem verbirgt. Den weitaus größten Teil nimmt die Korrespondenz Celans ein: mehr als ein Drittel des Nachlasses besteht daraus. Auffallend ist der große Anteil nicht abgeschickter Briefe, die Celan aber ebenso gewissenhaft verwahrt hat wie sämtliche Fassungen seiner Gedichte. Außerhalb des alphabetischen Briefwechsels sind eigene »Standortkonvolute« angelegt, die besonders umfassend sind und den vorgegebenen Rahmen sprengen: es sind die drei großen Korrespondenzen mit Franz Wurm, Ingeborg Bachmann und mit Nelly Sachs, die viele Manuskripte und Bücher enthalten.

Im Gegensatz zur üblichen Benutzung von Dichternachlässen mußte bis zum Tod von Gisèle Celan-Lestrange Ende 1991, mit Ausnahme des engen Kreises von Germanisten, der mit der historisch-kritischen Ausgabe zu tun hat, jede einzelne Anfrage an die Witwe direkt gerichtet werden. Der Briefwechsel war ganz gesperrt, und auch sonst wurden nur solche Anfragen positiv beschieden, die sich in überschaubarem Rahmen hielten und sich am besten auf ein einzelnes Gedicht und seine verschiedenen Fassungen beschränkten – da ist die wissenschaftliche Methode, die in der Celan-Philologie erwünscht ist, bereits nahegelegt. Die Witwe war in den letzten Jahren zwei Drittel des Tages mit dem Beantworten von Nachlaßwünschen beschäftigt – eine unheimlich anmutende Energie, die da ge- und wieder entfesselt wurde.

Nach dem Tod Gisèles kam auch das Intimste nach Marbach: »Carnets«, Notizbücher, Tagebücher, vor allem aus dem letzten Lebensjahrzehnt: die Auseinandersetzung mit, die Angst vor dem Wahnsinn. Diese Blätter sind nicht, wie sonst, in den gewohnten Marbacher Archivmappen geordnet, sondern mit Packpapier umwickelt und versiegelt. Hier ist das Jahr 2020, das als Sperrfrist generell festgelegt wurde, von besonderer Tragweite. Gisèle Celan-Lestrange hat immer mal wieder Ausnahmen gemacht. die Briefwechsel mit Nelly Sachs und mit Franz Wurm konnten gesondert erscheinen, Bertrand Badiou wird alle unveröffentlichten Nachlaßgedichte herausbringen. Durch den Tod von Celans Witwe schweben die Nachlaßangelegenheiten etwas im Ungewissen. Wie der Erbe, der 1955 geborene Eric, verfährt, ist etwas unsicher. Daß sich an den strengen Vorschriften der Nachlaßbenutzung prinzipiell etwas ändern könnte, scheint ausgeschlossen zu sein, wiewohl Eric dem Leben seines Vaters ferner gestanden haben muß und gewisse Ängste wohl nicht mehr teilt. Von Beruf ist er Equilibrist, Zauberer, und der Marbacher Handschriftenchef Jochen Meyer erzählt, daß es ihm passiert ist, wie Eric Celan vorbeiging und ihm dabei ein Kartenspiel aus dem Ärmel zog. Er sieht seinem Vater sehr ähnlich.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag, 1996