Ilma Rakusa: Sonntagsrede an mich selbst
Sonntagsrede an mich selbst
sorgsam Schubladen öffnen
(sie sind voller Bodenschätze)
dem Kind beim Fabulieren zuhören
(es weiß um die Welt)
die Angst ins Bockshorn jagen
(dort gehört sie hin)
die Wut wegwispern
(leise und geschwind)
an Träume glauben
(auch wenn sie utopisch sind)
Bücher küssen wie Freunde
(sie haben es verdient)
die Trägheit überwinden
(dieses lahme Gespinst)
die Minuten beim Schopf packen
(dass sie ausscheren aus der Zeit)
die Stille marmorieren
(sie klinge farbig-fein)
Erinnerungen abstauben
(sie brauchen Glanz)
den Sohn auf Händen tragen
(er ist krank)
die Vögel lieben und ihre Lieder
(sie sind Himmelskraft)
an Grenzen zweifeln
(sie vermehren die Gewalt)
Machtkämpfe meiden
(ihr stures Gewicht)
Briefe schreiben
(ein Zeichen von Zuversicht)
Anstand wahren
(er hat ein untrügliches Gesicht)
mit Anmut reden
(alles andere zählt nicht)
Pausen verschwenden
(in ihnen ist Licht)
Schattenmuster entziffern
(eine Zauberschrift)
an Gott denken
(wo immer er ist)
das Erwachen streicheln
(ins Kissen gedrückt)
und so weiter
weiter
23. Januar 2022