Ich überlasse der Zukunft die Geschichte Apollinaires.
(XXVIII)

1899

Anfang Januar verläßt Madame de Kostrowitzki mit beiden Söhnen das Fürstentum Monaco. Das Leben ist zu kostspielig. Auch gesellschaftliche Mißerfolge veranlassen sie, ihren Wohnort nach Frankreich zu verlegen. Sie läßt sich mit den Jungen und Weil zunächst in Aix-Les-Bains und Charbonnières nieder, übersiedelt jedoch bald nach Lyon. Der kurze Aufenthalt in den südfranzösischen Bädern (die Wahl eines mondänen Ortes war stets für sie kennzeichnend) und die eintönige Industriestadt Lyon kann sie nicht befriedigen. Ihre weitere Übersiedlung nach Paris Anfang April ist nichts als ein Abbrechen der Brücken, eine Barrikade, die die schöne, temperamentvolle Emigrantin stets zwischen alter und neuer Umwelt, den Männern der Vergangenheit, der Gegenwart und der erhofften Zukunft errichtet.

In Lyon widmet sich Apollinaire vollständig der Lektüre und dem Studium der Literatur. Von der direkten Berührung mit den Denkmälern der Antike Südfrankreichs ist Guillaume übersättigt, was in den Versen der »Zone« zum Ausdruck kommt:

Du hast es satt in der Antike Roms und
Griechenlands zu leben.

Er spricht von seinem Aufenthalt in Lyon nur sehr nebelhaft. Das einzige Echo aus dieser Zeit ist die Erzählung »D’un monstre à Lyon ou l’œuvre« (Von einem Ungetüm in Lyon oder das Werk).

Der letzte April des alten Jahrhunderts verweht also Madame de Kostrowitzki nach Paris, Avenue Mac-Mahon, in ein kleines Hotel, das weder ihren verborgenen noch offen zugegebenen Sehnsüchten nach der großen Welt entspricht, in die sie beständig durch irgendeinen glücklichen Zufall einzudringen trachtet. Das größte Hindernis ist ewiger Mangel an finanziellen Mitteln. Der neunzehnjährige Guillaume aber gelangt nun – in der entscheidenden Zeit seines Lebens – zu tieferem Kontakt mit der Stadt, die sein Schicksal werden soll, mit dem Land, in dem das Leben schäumt, siedet und brodelt. Und nicht nur das Leben, auch die Kunst und die neuen Ideen, die über die Einfassung dieses Kulturbrunnens hinaussprudeln und in ihrem nie versiegenden Strom den künftigen Dichter mit sich reißen. Er läßt sich von ihm tragen, später wird er selbst einer der Steuermänner sein, die für Jahrzehnte die Richtung dieses Stromes bestimmen. Tiefe Erlebnisse hinterlassen ihre Spuren in Guillaumes Psyche und rufen in seiner künftigen Dichtung jene poetischen Bilder hervor, die Apollinaire zu Apollinaire machen. Schon damals scheinen sich erste Ansätze zu dem späteren »Flâneur de deux rives« (Bummler an beiden Ufern) formuliert zu haben. Im Mai lebt Madame de Kostrowitzki in gemeinsamem Haushalt mit Jules Weil, was nicht gerade zu einem harmonischen Familienleben beiträgt, denn den beiden Söhnen beginnen die Beziehungen „Onkel“ Weils zu ihrer Mutter klar zu werden. Es läßt sich schwer feststellen, wie Weils Zusammenleben mit Guillaume und Albert auf die beiden Brüder wirkte. Die Mutter scheint mit ihrem Liebhaber vereinbart zu haben, daß er Anfang Juni nach Stavelot bei Spa übersiedeln solle, wo er in der Pension des Herrn Constant Lequeux wohnte. Er meldet sich als ehemaliger Offizier und teilt dem Pensionsinhaber mit, daß er in nächster Zeit die Ankunft seiner beiden Neffen erwarte.

Einen Monat später kommt denn auch Mme. de Kostrowitzki. Die beiden Söhne läßt sie in der Obhut des »Onkels«, sie selbst wohnt in Spa im Hotel Clef d’Or in der Rathausstraße. Auch dort will sie ihr Glück im Spiel versuchen und bemüht sich um Aufnahme in den Ausländerklub im Kasino. Ohne Erfolg. Darum verläßt sie bald darauf Spa.

Weil reist mit ihr, die Söhne bleiben in Constants Pension. Sie hatten die Mutter während ihres Aufenthaltes in Spa von dort aus des öfteren besucht.

Für Guillaume ist der Sommer in diesem Städtchen der Ardennen zauberhaft. Die romantische Gegend, in der sich das wallonische und das flämische Element berühren, wirkt tief auf seine Inspiration. Die kleinen Cafés und Bierlokale, die er besucht, die Rundtänze, in denen sich blonde Mädchen in ernstem Rhythmus bewegen, die langen Spaziergänge, auf denen er die ganze Gegend bis Malmédy kennenlernt, erstes Entflammen des Gefühls – zu Marie Dubois, der Tochter des Cafetiers von der Place Vinaire –, die dichterische Sendung des aufkeimenden Gefühls, die volkstümlichen Erzählungen, die der künftige Dichter und gelehrte Bibliograph gierig in sich aufnimmt – all das sind Voraussetzungen für den »Verfaulenden Zauberer« und »Hérésiarque et Cie«. Es ist eine Zeit jugendlichen Glücks, das sich der Fesseln des beständigen Geldmangels nicht voll bewußt ist. Dieser wird Ende August, Anfang September kritisch, als die Brüder ihre Schuld in der Pension nicht bezahlen können.

 

Vladimír Diviš: Apollinaire. Chronik eines Dichterlebens. Deutsch von Aleš Krejča, Artia, 1966