Ich überlasse der Zukunft die Geschichte Apollinaires.
(LVIII)

Januar 1902.

Zu Beginn des Jahres veröffentlicht Apollinaire in der Revue La Grande France einen noch mit seinem vollen Namen W. Kostrowitzki gezeichneten Artikel über die Berliner Aufführung von Hauptmanns Rotem Hahn. Apollinaire war bei dieser Aufführung nicht persönlich zugegen, er stützt sich auf ein Referat, das in der Kölnischen Zeitung erschien.

Er ist noch immer stark in Annie verliebt, die seine dauernde Werbung erschreckt. Sie will diese Liebe nicht, die mit der puritanischen Erziehung im Elternhause und den ihr vom Vater eingeprägten Grundsätzen nicht im Einklang steht. Zwischen ihren und Apollinairs späteren Erinnerungen bestehen gewisse Widersprüche.

In einem Brief an den belgischen Dichter Robert Goffin schreibt Annie:

Ich lernte Guillaume im Jahre 1901 kennen, als ich bei Frau C. Holterhöff, ihrer Tochter, der Vicomtesse de Milhau, und deren Töchterchen Gabrielle lebte.
Ich war Gabrielles Gouvernante und Kostro (so wurde Guillaume allgemein genannt) der Sekretär der verwitweten Vicomtesse de Milhau. Es ist schon viele Jahre her, daß ich mit ihm keinerlei Verbindung mehr habe.

Ich weiß noch, daß Kostro einer der besten französischen Dichter wurde, und es würde mich unaussprechlich glücklich machen, wenn ich sein Werk lesen könnte, das Sie mir in Ihrem Brief zu schicken versprechen. Guillaume schrieb ein Gedicht über mich, aber ich habe es leider – längst vernichtet. Nur einige Geschenke von ihm habe ich aufbewahrt.

War er verheiratet? Hatte er Familie?…

Wie haben Sie von unserer Jugendliebe erfahren?

Wenn Sie so freundlich sein wollen, mir diese Frage zu beantworten, will ich Ihnen gerne alles erzählen, woran ich mich erinnere…

In einem weiteren Briefe entschuldigt sich Annie, daß sie so spät antworte, aber sie sei den ganzen Sommer über fort gewesen und habe sich nicht genügend konzentrieren können. Jedesmal, wenn sie zurückdenke, tauchten in ihrem Gedächtnis Dinge auf, die sie längst vergessen geglaubt hätte.

Die Andenken und Briefe, die ich von Guillaume erhielt, sind im Hause meiner Eltern in Landor Road geblieben. Als meine Mutter vor vierzehn Jahren starb, wurde alles vernichtet, was ohne Wert erschien.

Ich nahm nach Amerika einige Schmuckstücke mit, die ich von ihm erhalten hatte, aber ich bin um alles gekommen, als in mein Haus eingebrochen wurde; nur zwei Dinge sind erhalten geblieben, ein Amethyst, der – wie Guillaume sagte – aus der Halskette irgendeiner Fürstin stammte, und eine goldene, mit Barockperlen verzierte Halskette, die, wie es scheint, in Paris gekauft ist. Das ist alles, was ich von Guillaume noch habe.

Seit Sie die Erinnerungen in mir erweckt haben, möchte ich gern sein Gesicht wiedersehen…

Ich war sehr jung und unschuldig, oft hatte ich Angst vor ihm. Oft glaube ich, daß ich eigentlich einen anderen Guillaume gekannt habe als den Dichter, wie Sie ihn sehen.

Als ich ihn kennenlernte, war ich zwanzig Jahre alt. Er liebte mich wahnsinnig, und ich war eine dumme Gans, die es nicht über sich brachte, seine Liebe zu erwidern. Daran trug meine puritanische Erziehung die Schuld und der Einfluß der Vicomtesse de Milhau. Er hatte oft Augenblicke, wo er gewalttätig bis zur Brutalität war, und zugleich konnte er bezaubernd und ganz vernünftig sein. Er wollte, daß ich ihn heirate, und war krankhaft eifersüchtig.

Auch trennte uns die Sprache. Wenn ich so gut Französisch gekonnt hätte wie Englisch, hätte die Sache vielleicht eine andere Wendung genommen, selbst wenn wir uns nicht ganz verstanden. Die Stärke seiner Liebe mußte jedenfalls auf meine Einfalt und Naivität einen faszinierenden Eindruck machen.

Unsere Beziehungen endeten tragisch, wenigstens was mich betrifft. Ich verließ mein Elternhaus und ging nach Amerika, um zu vergessen und ein neues Leben zu beginnen. Guillaume suchte mich davon abzubringen, aber vergebens.

Die, die seine Dichtung kennen, sollten mir dankbar sein, daß ich ihn nicht geheiratet habe. Wer weiß, ob sonst diese Verse entstanden wären. Es kommt selten vor, daß ein Dichter seiner Frau ein solches dichterisches Monument errichtet wie in diesem Falle einer verlorenen Liebe…

Soweit Annie Playden in ihren Briefen an Robert Goffin. Ihre Erinnerungen sind wahrheitsgetreu, denn sie erzählte sie auch, mit anderen Worten, Francis Steegmuller, der sie am 21. September 1963 in den New York Times – International Edition abdruckte. Er besuchte Annie mit Le Roy Breunig und Norbert Guttermann.

Nach diesem Artikel lebt Annie mit ihrer jüngeren Schwester, Frau Vockins, im Bezirk Westscher im Staate New York, sie züchten Hunde.

Sie ist noch immer überrascht über den Ruhm, der ihr zuteil geworden ist. Mit dreiundachtzig Jahren erinnert sie sich an den Dichter, den sie inspirierte.

Der Autor schildert dann den Eindruck, den sie auf ihn machte.

Ihre Schwester rief sie auf die Veranda des Hauses. Sofort erschien eine Frau von einer Anmut, wie man sie sich kaum vorstellen kann – volle Gestalt, schneeweißes Haar, rosige Wangen. Sie lächelt nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen, die kornblumenblau und viel leuchtender sind als die Blumen auf ihrem Kleid.

Hier hatten wir also die ›Blaumeise‹ vor uns, die Apollinaire in seinem Gedicht »La Tsigane« (Die Zigeunerin), der lyrischen Geschichte von einem Mann, einem Mädchen und einer Wahrsagerin, besingt.

Die drei Besucher unterhalten sich über die Geschehnisse der Jahre 1901, 1902, 1903 und 1904. Von Zeit zu Zeit erinnern sie Annie Playden – die inzwischen geheiratet hatte und Witwe geworden war – an einige Details oder Ereignisse:

Sie müssen begreifen, Frau Postings, daß Annie unsterblich ist.

»Sie werden sicher verstehen, wie sonderbar mir jetzt zumute ist,« antwortet sie dann.

Ich wußte wohl, daß Kostro in seinem Zimmer im Schloß der Gräfin etwas schrieb, aber ich hatte keine Ahnung, was. Ich habe überhaupt, seit wir beide 1904 von London abreisten, nichts über ihn gehört. Er hatte mich die ganze Zeit derart verfolgt, daß ich meine Mutter bat, mir seine Briefe überhaupt nicht nachzusenden, falls welche kämen… Das bißchen Französisch, daß ich als junges Mädchen konnte, habe ich fast ganz vergessen. Die Gedichte, die mir Herr Breunig schickte, verstand ich nicht. Ich begreife überhaupt nicht, daß all die Dinge, von denen Sie sprechen, etwas mit mir zu tun haben. Schon deshalb, weil ich damals ein so dummes englisches Gänschen war. Ich war ja noch nicht einmal zwanzig. Und Kostro fertigte ich so kurz ab!… Heute tut es mir leid, daß ich so ablehnend war, aber was hätte ich tun sollen? Kostro konnte mir keinen Heiratsantrag machen, weil ich zu wenig Französisch verstand, und er wieder konnte fast kein Wort Englisch. Und sonst durfte ich ihm ja nichts gestatten. Davor war ich gewarnt worden, bevor ich von zu Hause wegging. Meine Schwester und ich waren die strengst erzogenen Mädchen in Clapham. Mein Vater war sehr engherzig, und er war sich dessen bewußt, denn er gab sich selbst den Spitznamen ›Erzbischof von Canterbury‹. Nur weil der Londoner Arzt der Gräfin ein Freund meines Vaters war, wurde mir erlaubt, eine Stellung auf dem Kontinent anzunehmen. Der Arzt bürgte meinem Vater dafür, daß ich in eine Familie von gutem Ruf käme. Ich glaube, daß keinem von uns damals auch nur im entferntesten einfiel, bei der Gräfin könnte auch ein junger Mann leben.

Kostro war von einer Wildheit, die mich entsetzte. Er führte mich etwa auf einen schmalen Pfad in den Bergen und erklärte, er sei durchaus fähig, mich in den Abgrund hinabzustoßen, wenn ich es ablehnte, ihn zu heiraten. »Denn jeder tötet, was er liebt«, sagte er.

Dann springt das Gespräch auf die beiden letzten Jahre über, in denen Apollinaire London besuchte. Wir werden an entsprechender Stelle darauf zurückkommen.

Apollinaire spricht nicht viel von Annie. Im Jahre 1915 schreibt er Madeleine Pages über den »Chanson du mal-aimé«, daß er sich »auf meine erste Liebe, ich war ungefähr zwanzig, bezieht, eine Engländerin, die ich in Deutschland kennenlernte – es dauerte ein Jahr. Dann mußten wir beide zurück nach Hause und schrieben einander nicht einmal mehr. Vieles in den Ausdrücken dieses Gedichtes ist hart und verletzend für ein Mädchen, das mich nicht verstand, das mich liebte und das dann die Liebe zu so einem phantastischen Wesen wie einem Dichter verwirrte. Ich liebte sie sinnlich, aber unsere Seelen waren einander fern. Sie war fein und fröhlich. Ich war wider alle Vernunft eifersüchtig, ihre Abwesenheit beeinflußte meine Dichtung, die meinen damaligen Gemütszustand eines unbekannten Dichters unter anderen Unbekannten widerspiegelt. Sie war weit fort und konnte nicht nach Paris kommen. Ich besuchte sie zweimal in London, aber eine Heirat war nicht möglich, und durch ihre Abreise nach Amerika kam alles wieder ins Geleise, aber ich hatte sehr gelitten… Davon zeugt dieses Gedicht. Ich glaubte damals, ich würde nicht geliebt, aber ich war es, der nicht wahrhaft genug liebte – und auch ›L’Emigrant de Landor Road‹ ist eine Erinnerung an diese Liebe…«

Das also sind zwei Stimmen – die Stimme des Dichters und seiner Muse, der wir auch später noch begegnen werden.

Die komplizierten und explosiven Gefühle des Dichters lassen sich nicht lange verheimlichen.

Sie lasten auf ihm, treiben ihn fort von der geliebten Frau und der aristokratischen Abgeschiedenheit des Schlosses. Auch um das Gefühl der Abhängigkeit von seinem Präzeptorsposten zu verdrängen, durchwandert er die Gegend, besucht ländliche Weinstuben, trinkt mit den Leuten aus der Umgebung reichlich den köstlichen Rheinwein.

 

Vladimír Diviš: Apollinaire. Chronik eines Dichterlebens. Deutsch von Aleš Krejča, Artia, 1966