H. D. (Hilda Doolittle): Das Ende der Qual – 7. März 1958

 

[Küsnacht]1
Freitag
7. März 1958

Schnee auf seinem Bart. Aber er hatte keinen Bart damals. Schnee weht von Tannenzweigen, trockener Puder auf dem roten Gold. »Ich gewinne fünf Freunde meiner Haare wegen auf einen meiner selbst wegen!«
Oder trug er einen weichen Hut, eine über die Augen gezogene Mütze? Eine Maske, eine Verkleidung? Seine Augen sind sein am wenigsten eindrucksvolles Merkmal. Aber irre ich mich? Sie scheinen klein; Farbe? Kieselgrün? Sicher kein unbedeutendes Merkmal. Mondlicht flutet romantisch-schauerlich durch diese in Kupfer gestochenen Bäume. Kalt?
Eine Art rigor mortis. Ich bin in diesem Moment erstarrt.
Vielleicht behielt ich ihn mein ganzes Leben, es ist das, was sie meine imagery nannten; selbst jetzt sprechen sie noch von »Versen, so scharf geschnitten, als wären sie aus Stein«, und sie sagen: »Sie kristallisiert – das ist das richtige Wort.« Sie sagen: »Das ist das richtige Wort.« Dieser Moment mußte 50 Jahre auf das richtige Wort warten. Vielleicht hatte er es gesagt; vielleicht war das Wort in den Reif unseres vermischten Atems geschrieben. Er mag neunzehn gewesen sein, ich war ein Jahr jünger. Maßlos intellektuell, maßlos überlegen, maßlos ungeschliffen, ein Geschöpf, das keinem der Brüder und der Brüder Freunde und der Jungen glich, mit denen wir tanzten (und er tanzte schlecht). Mit ihm wollte man um dessentwillen tanzen, was er sagen würde. Es war unwichtig, ob eine Menge Leute ringsum waren. Hier im Winterwald schien es von Bedeutung.
Zugleich schien es unendlich trivial – prahlte er? Warum mußte er es sagen? Er sagte: »Sie hat gesagt: ›Hast du schon mal ein Mädchen geküßt‹: Ich habe gesagt: ›Unter dem Felsen von Gibraltar noch nie.‹«
Kein Grund damals, die Frage zu stellen. Erste Küsse? Im Wald, im Winter – was erwartete man? Das nicht. Elektrisch, magnetisch, sie wärmen nicht so sehr, sie magnetisieren, beleben. Wir brauchen nie mehr zurückzugehen. Uns unter die Bäume legen. Hier sterben. Wir frieren nicht mehr; ist das nicht ein erstes Symptom des rigor mortis?
Sie sagten immer: »Lauft herum, Kinder; solange ihr nicht aufhört zu laufen, ist es gut.« Hatte ich aufgehört zu laufen?
Hör einen Moment auf zu laufen, wenn du dich traust, ihn dir in Erinnerung zu rufen.
Es gibt nur noch sehr wenige, die wissen, wie er damals aussah. Etwas erinnert an einen jungen, robusteren Ignace Paderewski2 oder gar den rotblonden Swinburne,3 wenn sein zerbrechlicher Körper je die Reife erreicht hätte. Aber dieser junge (und schon) Bilderstürmer ist rauher und zäher als der polnische Dichter oder der englische Barde. Man munkelt bei uns, daß er »schreibt«, aber mit mir hat er noch nicht darüber gesprochen. »Wo seid ihr? Kommt zurück –«, ruft die Menge von der eisigen Rodelbahn. »Ruf zurück«, sage ich, und er parodiert einen heiseren Jodler, dann »Haie! Haie! Io« (das ist in seinen Gedichten zu lesen).4 Er scheint instinktiv in die Alltagsexistenz zurückgeschaltet zu haben. Er zieht mich aus dem Schatten.