H. D. (Hilda Doolittle): Das Ende der Qual – 16. März

 

»Leben Sie wohl, Dave, Sie kommen doch am Weihnachtstag herüber, nicht wahr?« Dieses Weekend with Ezra Pound von Rattray scheint mir die erste menschliche persönliche Darstellung Ezras zu sein, die ich gelesen habe. Ich hatte zwar die Verbindung verloren, ich »verbarg« etwas, aber ich hatte Zeitungen und Zeitschriften, die sich über die Jahre bei mir angehäuft hatten. Das Deutsche war zu schwierig, doch ich spürte, daß sie interessiert waren – aber war das ein politischer Schachzug? Ich fragte einen jungen Deutschen, den ich traf, als Erich Heydt seine Wohnung hier im Haus Geduld hatte. Der Junge sagte: »Nein – wir lesen ihn in Ost- und Westdeutschland um seiner selbst willen.« Ich war dennoch nicht zufrieden.
Erich sagte: »Ich war enttäuscht, daß Ezra Ratt nicht Ihre Adresse gab.« »Nennen Sie ihn nicht Ratt – aber vielleicht bedeutet Ratt in Ihrer Sprache nicht Ratte.« »Das ist leichter als Ratt-ray- doch, doch er gab ihm jedenfalls Richards Namen, obwohl er sagte, er solle sich lieber nicht auf E. P. berufen: ›Da machen Sie besser auf jeune homme modeste.‹ Warum erwähnt er Sie nicht?« »Er muß wissen, daß ich nicht viele Leute sehe –.« »Aber es heißt, Ratt-ray sei in Europa, als Fulbright-Stipendiat in Frankreich. Er könnte nach Zürich kommen. Oder haben Sie Angst, er könnte sich lustig machen über Sie? Über uns? Was dachten sie, das Mädchen mit dem Doppelkinn, dem Kinneskinn, das Skizzen machte, und der Junge mit den groben Zügen und der mit dem glitschigen, wie aus Seife modellierten Gesicht?« »Sie können den Artikel offenbar auswendig.« »Werden diese Besucher nicht gekränkt sein? Das Mädchen zum Beispiel – er schreibt, als er sie zum erstenmal sah, hätte er gedacht, sie sei eine Patientin von einer anderen Station.«
Ich höre gerade Solveigs Lied im Radio und werde daran erinnert, wie Ezra mich in Philadelphia zu Richard Mansfields Peer Gynt mitnahm. Solveig – Penelope – spinnend, webend. Ich konnte mich nicht erinnern, wie die Geschichte endete. Ich erinnerte mich an den Knopfgießer und Peers Flucht. Er löste sich nicht wieder in einem unerkennbaren Nichts auf. Er blieb ein Wesen, er ist erkennbar. Verrückt? Er war immer exzentrisch. »Ach, Ezra Pound ist verrückt«, war das Verdikt meiner Schulkameradinnen. »Er wollte, daß sie ihn in den Teich werfen.« So machte die Geschichte von Anfang an die Runde, aber ich hatte sie vergessen, bis sie nach dem Zwischenfall, der ihn seine Stelle gekostet hatte, wieder auftauchte. Spinnend? Webend? Dann erinnerte ich mich an den Schluß des Stückes, eine betagte Solveig mit weißer Perücke, ein hinfälliger Peer Gynt mit weißer Perücke treffen sich unter der Tür von Solveigs alter Hütte am Rande eines malerischen Pappwaldes. Nein, das ist etwas anderes.
Dr. Erich Heydt injizierte mir Ezra, als er mir die Nadel in den Arm stach: »Sie kennen Ezra Pound, nicht wahr?« Das war vor etwa fünf Jahren. Der Virus oder Antivirus brauchte lange, um sich bemerkbar zu machen. Aber die subkutane Spritze tat ihre Wirkung oder nicht? Da war ein unberechenbares Element. Da war etwas. Zu sagen, in Heydts Atelierwohnung sei nichts »passiert«, heißt, es sehr plump auszudrücken. »Müde? Ruhen Sie sich auf der Couch aus –.« »Nein.« Der bloße Gedanke an Couch und Weichheit brachte eine Wolke, nicht eine Woge von Erinnerungen mit sich. »Warum erzählen Sie mir nichts?« »Ich erzähle doch immer.« »Ja – aber Sie verbergen etwas.«
»Was ist es? Was ist es?« Wir liefen, um den Zug zu erreichen. »Was macht es denn schon, wenn Sie ihn verpassen – Sie können den nächsten nehmen –.« Ich war plötzlich stehengeblieben, an eine Mauer gelehnt, und winkte, als wollte ich ein Taxi rufen. Er ergriff mein Handgelenk: »Wir haben viel Zeit. Sie sind hysterisch. Etwas hat Sie aufgeregt –.« »Es erinnert mich daran, wie ich eine Straße hinuntergelaufen bin – in einer Stadt – Philadelphia –.« »Sie haben etwas, aber Sie wollen es mir nicht sagen –.« »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich weiß nicht, was es ist.« Man macht uns – gerade noch – Platz am Ende einer dichtbesetzten Bahnhofsbank. Er nahm meine Hände in seine. »Müssen Sie meine Hände so halten?« »Ja.« Um uns herum viele Menschen. »Da ist sicher jemand aus Küsnacht – und erzählt dann, daß Doktor Heydt und Madame A. aneinandergedrängt auf einer Bank saßen.« Nein. Da war niemand von irgendwo, wir waren eingeschlossen in einer anderen Dimension. Ein kleiner Junge mit kurzen rotgoldenen Locken stöberte im Einkaufskorb der Frau neben uns. Woher kam er? Wie kam er hierher? Es ist nur ein Augenblick. Der unvermeidliche Begleiter taucht auf, schiebt sich durch die Menge. Vater? Wächter? Er ist groß und hager. Ich kann es nicht durchschauen. Er ist nicht da, oder ich bin nicht da, aber der Einkaufskorb ist völlig real und auch die typische Hausfrau neben uns auf der Bahnhofsbank. »Es tut mir leid, daß ich gesagt habe, Sie seien hysterisch. Ich war nur beunruhigt.« Der Zug ratterte näher. »Sollten Sie zurückkehren?« »Nein.« Aber ich drängte mit der Menge vorwärts. »Morgen?« ruft er zum offenen Fenster des fahrenden Zuges hinauf.