Eine abwesende Stimme

für Patrice de Montmollin,
zu seinem Klangraum für »Blinde Distanz«

Wenn die Dichtung eine marginale Sprache ist, am weitesten entfernt von jedweder Situation des Kommunizierens, mit ihren eigenen Wegen – oder dem Fehlen von Wegen –, mit ihrer Eigenbewegung, ohne Gesprächspartner (ohne ein du, das, ganz Leser, im Herzen des Gedichts Platz greift, wo es sich wiederfindet, ganz Bewusstsein, ertüchtigt, uneindeutig), nicht weniger abgewandt von dem Ersatz des Dialogs, der der innere Monolog ist (denn es stimmt auch nicht, dass ich zu »mir« spreche, da, wo die Worte von sich aus zu den Lippen gelangen sollten), wenn sie also nichts anderes ist als eine abwesende – sicherlich nicht abtrünnigen – Stimme, wie könnte sie sich einem Publikum anpassen, einer Bühne, auf deren Unmittelbarkeit das Theater sich gründet?

Gleichwohl ist die Seite oder ist das Buch nicht ihr ausschliesslicher Ort. Mehr Gesang denn Sprache (selbst heute, unter einem stummen Himmel, selbst in der Alltagssprache) sind die Worte, die hier, am häufigsten noch immer innerlich vernommen, ihren Reiz wiedergewinnen, vorab Wirrnis, Echo, unordentliche und geordnete Regungen, langsam oder überstürzt, widersprüchlich, einvernehmlich, verflochten.

Mysteriös doch, dass die Dichtung gleichermassen durch ein inneres Ohr in ihren feinsten Nüancen erfasst und, kraft ihres Willens zur Verkörperung, gesprochen werden will; Lesarten, die sich nicht ergänzen, da ja jede für sich genügsam ist, wenn auch beeinträchtigt durch das Fehlen der andern.

In diesem Zwischenbereich entfaltet sie sich.

Übersetzung von Felix Philipp Ingold

Textfolge aus dem Band »Distance aveugle« (Éditions Robert, Moutier 1974; Éditions José Corti, Paris ²2000). 
Der Mikroessay des Autors, »Eine abwesende Stimme« (Une voix absente, 1983), entstammt dem Band Le biais des mots (Paris 1999).