Überlebenskünstler Pablo Neruda
Der amerikanische Traum hat sich nie auf die nördliche Erdhalbkugel beschränkt. Auch die Südamerikaner haben, genau wie die Yankees, die gringos, ihre eigenen Wunschträume gehegt und unter ihren Albträumen gelitten.
Ich gebe zu, daß ich mich als Student von ihnen anstecken ließ. Ich bildete mir ein, daß ich sie, anders als die Asiaten, verstehen konnte. Hatten wir nicht mit dem Spanischen eine gemeinsame Sprache?
Damals, in den farblosen deutschen fünfziger Jahren, traf ich in Freiburg bei einem Professor Szilasi, der mit Heidegger nichts zu tun hatte, ein chilenisches Paar, das deutsche Philosophie studierte. Carla und Roberto Torretti, die bis heute in Santiago leben, schenkten mir zwei kleine nußbraune Oktavbände, die 1947 in Chile erschienen waren: Pablo Nerudas Residencia en la Tierra.
Diese Gedichte haben mich sofort betört. Obwohl mein Spanisch erbärmlich war, beschloß ich, es zu halten, wie einst die deutschen Dichter. Sie lernten im 18. Jahrhundert anhand der Odyssee Griechisch. So versuchte ich damals, mehr schlecht als recht, Pablo Nerudas Gedichte ins Deutsche zu übertragen. Die schlimmsten Fehler bügelten meine Freunde aus, so daß mit der Zeit ein paar brauchbare Versionen entstanden sind. Auf Anhieb gefiel mir auch seine Poetik, die er in einem programmatischen Essay formulierte:
So soll die Dichtung aussehen, die wir suchen… unrein wie ein Anzug, wie ein Körper, von Speisen befleckt, der die Handlungen der Scham und der Schande kennt, Träume, Beobachtungen, Runzeln, schlaflose Nächte, Ahnungen; Ausbrüche des Hasses und der Liebe…, Behauptungen, Zweifel, Steuerbescheide.
Überschrift: »Für eine unreine Poesie.« Das war im Deutschland der fünfziger Jahre ein ganz neuer Tonfall, der mich faszinierte.
Ich wollte wissen, wer dieser Neruda war. Aber schon bei seinem Namen fielen mir ein paar Merkwürdigkeiten auf. Warum hat der Dichter statt seines Geburtsnamens Neftalí Reyes Basualto ein Pseudonym gewählt, das sich eher tschechisch anhört? Niemand weiß es. Wie hat er es geschafft, im diplomatischen Dienst zu überleben? In Ceylon, Burma, Indonesien und Singapur war er allerdings nur Honorarkonsul. Dieser Titel bedeutet bekanntlich, daß man nie einen Pfennig Gehalt bezieht. Neruda war bettelarm und deprimiert. Damals hat er Residencia en la Tierra geschrieben, wahrscheinlich sein bestes Buch, von dem er später nichts mehr wissen wollte, weil es so schwermütig ist.
Besonders gebildet war er nicht. Am liebsten las er Kriminal- und Spionageromane. Eric Ambler und Dashiel Hammett gehörten zu seinen Lieblingsautoren.
Als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, hielt er sich in Barcelona und in Madrid auf. Obwohl er sich eher für die Poesie interessierte als für die europäischen Machtspiele, hat ihn diese Katastrophe nachhaltig politisiert. Glücklicherweise hat niemand auf ihn geschossen. Nach dem Sieg Francos konnte er nach Paris reisen und in sein Heimatland zurückkehren. 1945 trat er in die Kommunistische Partei ein, die ihn zum Senator machte. Dort hat er sogar etwas Gutes getan: Er organisierte einen Transport für ein paar hundert spanische Flüchtlinge und sorgte dafür, daß sie in Chile bleiben konnten. Einmal trug ihm die Partei die Kandidatur zum Amt des Präsidenten der Republik an. Daraus ist zum Glück nichts geworden. Er verzichtete zugunsten von Salvador Allende.
Kurz darauf führte ein Regimewechsel zum Verbot der Kommunistischen Partei und zu den üblichen Haftbefehlen gegen störende Oppositionelle. Neruda konnte unterschlüpfen und nutzte die Zeit in seinem Versteck, um ein ausuferndes Versepos zu schreiben, den Canto General. Dieses Buch wurde von den Genossen als sein Hauptwerk gefeiert. Mir waren diese 700 Seiten ein bißchen zuviel.
Mit Hilfe seines Freundes Miguel Asturias, der ihm seinen Paß lieh, konnte er über Argentinien nach Paris reisen. Erst nach einer Neuwahl kehrte er als Parteigenosse nach Chile zurück. Ein Strom hemmungsloser Parteilyrik aus dieser Zeit beweist allerdings, daß er politisch nicht ganz zurechnungsfähig war. Mit Ideologien und anderen Abstraktionen hat er nie viel anfangen können. Wie weit er unter sein poetisches Niveau gehen konnte, ist an einem Gedicht aus dem Jahr 1952 abzulesen:
Menschen Stalins! Wir tragen mit Stolz diesen Namen.
Menschen Stalins! Das ist die Rangordnung unserer Zeit!
Gelehrte, Studenten und Bauern Stalins!
Handwerker, Angestellte und Frauen Stalins!…
Das Licht ist nicht entschwunden,
das Licht, das Brot, das Feuer und die Hoffnung
der unbezwinglichen Stalin-Epoche!
Nun gehörte es damals zum guten Ton, zu den jeweiligen Führergeburtstagen ein Gedicht zu schreiben. Es war ungehörig und anstrengend, nichts dergleichen zu liefern. Prompt verlieh man Neruda einen nach Stalin benannten Preis (der freilich später rückwirkend zugunsten Lenins umgetauft wurde). Seitdem ging der Dichter als Repräsentant auf Tournee und reiste überallhin, wo es Weltfriedenskongresse, Weltjugendfestspiele und Weltfriedenspreise gab.
Auch auf internationalen Poesie-Festivals war Neruda ein hochgeschätzter Gast. Sogar ich gehörte, wer weiß warum, jenem unsichtbaren Dichterclub an, der sich pünktlich in Amsterdam, Mexiko oder Kapstadt traf, um etwas vorzulesen. So hatte ich das Vergnügen, den Dichter 1967 in London näher kennenzulernen. In der Queen Elizabeth Hall, einem bunkerartigen Neubau, trug er seine Gedichte vor, laut, langsam, priesterlich und, wenn seine Rede stockte, mit von Tränen fast erstickter Stimme.
Abends war eine Schar von Poeten auf ein Hausboot auf der Themse eingeladen. Nach dem Mahl fragten sie sich, wo der Stargast geblieben war. Man fand ihn schließlich in einem Winkel, das Ohr an ein Radio gepreßt. Er hatte auf eine Botschaft aus Stockholm gewartet. Aber die Schwedische Akademie hatte ihn übergangen und ihren Preis nicht ihm, sondern Miguel Asturias verliehen, einem Dichter aus Guatemala, demselben, der ihm einst seinen Reisepaß ausgeliehen hatte, um ihm die Flucht nach Europa zu ermöglichen. Diesen fauxpas haben die Schweden nach ein paar Jahren wiedergutgemacht.
Unterdessen hatte ich Neruda eines Tages in Moskau wiedergetroffen. Er pflegte dort im besten Zimmer im besten Stockwerk des Hotels National abzusteigen, gleich in Sichtweite des Kremls. Er lud mich sofort zum Frühstück ein.
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Leider aber war dieser Band so groß, daß er in keinen Koffer paßte. Auf die erste Seite schrieb er eine großspurige Widmung.
Er hielt gerne hof in seiner Suite. Er dachte, ihm stünde alles zu, weil er doch ein Dichter war. »Wann kommst du nach Chile?« fragte er. Dort hatte er eine Villa auf der Isla Negra gebaut, die einem Museum glich. Er war nämlich ein gieriger Kunst- und Trophäensammler, der vor nichts zurückschreckte, um sich Galionsfiguren mit Drachen- oder Löwenköpfen oder eine barbusige Sirene anzueignen.
Dann siegte Salvador Allende in Chile und ernannte Neruda zum Botschafter in Paris, und so schien es, als sei der kleine Junge, geboren in einer unscheinbaren Kleinstadt, mit 67 Jahren endlich dort angekommen, wo er immer schon hinwollte. Aber als der widerliche Augusto Pinochet die Macht ergriff, nahm seine Glückssträhne ein Ende. Zwölf Tage nach dem Putsch ist Neruda gestorben.
Ja, er war ein Trickster, ein Bonvivant und ein Kindskopf. Es nimmt also nicht wunder, daß sein abenteuerliches Leben nicht bloß in Büchern verewigt worden ist, sondern auch in Spielfilmen, Oratorien, Rock-Alben und Kriminalromanen. Aber unter seinen Tausenden von Gedichten gibt es mehr als ein Dutzend, die schwer zu vergessen sind.