W. H. Auden, Wahl-Kirchstettner und Weltliterat

W. H. Auden, Wahl-Kirchstettner und Weltliterat

– Vor 50 Jahren verstarb der kompromisslose Autor, der zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört. Eine Würdigung von Kurt Leutgeb. –

1. Der Rücken meines Exemplars der Collected Poems von Wystan Hugh Auden zeigt auf dem ersten Drittel vier feine Falten; das zweite ist von unberührter Glätte; und das dritte weist vier gewaltige Furchen auf, tiefer als jene auf der Stirn des Autors, kurz bevor er am 29. September 1973 in Wien starb. Voriges Jahr erschienen die beiden Bände Poems der Gesamtausgabe, und schon jetzt erkenne ich den zweiten Band von weitem an den stärkeren Gebrauchsspuren. Dabei ist die Meinung verbreitet, der 1907 in York Geborene hätte, nachdem er 1939 nach New York emigrierte, nicht mehr viel Großes geschaffen. Mein Auden hingegen beginnt erst so richtig mit dem 1958 geschriebenen »Good-bye to the Mezzogiorno«.

2. Das Gedicht ist die Danksagung eines in den Norden Zurückkehrenden an den Süden. Nachdem er 1956, »von der Vorsehung geführt«, zum ersten Mal Kirchstetten erblickt hatte, kaufte er dort ein Haus mit »drei Morgen Land«. Zwischen Nordlern, »denen das Leben ein Bildungsroman ist«, und Südlern, »für die Leben Jetzt-sichtbar-Sein heißt, gähnt ein Abgrund, den Umarmungen«, wie jene Goethes – mit dem Auden, der ein »kleinerer atlantischer Goethe« sein wollte, sich identifizierte – in den Römischen Elegien, »nicht überbrücken können«. Aber Auden ist dem Süden »dankbar; obwohl man sich nicht immer genau erinnern kann, warum man glücklich war, vergisst man nie, dass man glücklich war«.
Hier bringt Auden ein tiefes Verständnis für den schönen Gegensatz zwischen dem nördlicheren und dem mediterranen Europa zum Ausdruck. Anderswo vertrat er durchaus einen Chauvinismus des Nordens als »der guten Richtung, hin zu heldenhaften Abenteuern«, gegenüber »der unedlen Leichtigkeit und Dekadenz des Südens«. Die »ethnische Herkunft der Bewohner seines Eden« wäre »höchst verschiedenartig wie in den Vereinigten Staaten, aber mit einem leichten nordischen Überhang«. Seine sexuelle Präferenz galt blonden Jünglingen. Ein solcher war Chester Kallman, den er 1939 als Achtzehnjährigen kennenlernte. Die Beziehung endete erst mit Audens Tod, auch wenn Kallman bald den Sex verweigerte. Er bevorzugte nun seinerseits mediterrane Burschen.

3. Seine Kirchstettner Häuslichkeit profitierte von Kallmans Kochkünsten und von Emma Eiermann; in seiner Elegie auf die 1967 Verstorbene – »eine Sudetendeutsche, arm und heimatlos gemacht, als die Tschechen mit dem Brutalsein an die Reihe kamen« – schreibt er, »eine Haushälterin ist schwerer zu ersetzen als ein Liebhaber«. In seinem Kirchstettner Haus durfte man pro Klogang nur ein Blatt Papier nehmen. Alles andere wäre Verschwendung gewesen, und »Mutter – er selbst – hätte so was nicht gemocht«. Eines seiner »Hausgedichte« – »The Geography of the House«, nach der verschämten britischen Frage, wo das Klo sei – behauptet:

Alle Künste stammen von diesem Urakt des Machens.

4. In seinen Notizbüchern finden sich lange Listen seiner zumeist bezahlten Sexpartner. Einmal unterhielt er eine längere sexuelle Beziehung zu einer Frau. »The Platonic Blow«, vierunddreißig Strophen über einen Oralsexakt zwischen zwei Männern, veröffentlichte er zunächst ohne Nennung seines Namens. Unter den zahlreichen erzählenswerten Anekdoten aus Audens Leben ist jene vom »Strich« Hugerl, der des Dichters VW Käfer ausborgte, damit auf Einbruchstouren fuhr, auch Audens Haus heimsuchte, den Wagen mit bei seiner Festnahme erlittenen Einschusslöchern zurückgab, ins Gefängnis ging, danach die Beziehung mit dem früheren »Freier« und nunmehrigen Freund, der ihn und die Gattin auch zu sich nach New York einlud, wieder aufnahm, eine der verrücktesten. Das Gedicht »Glad« (1965), in dem Auden diese Liaison feiert, wurde erst posthum veröffentlicht.

5. Joseph Brodsky hat über viele Jahre hinweg immer wieder erzählt, wie er nach seiner Ausreise aus der Sowjetunion 1972 als Allererstes Auden in Kirchstetten besuchte. Bei der Lektüre seiner Interviews fasste ich die Grundidee zu meinem kleinen Roman Kirchstetten. Um Recherche zu treiben, unternahm ich 2008 mit meiner Freundin einen Ausflug in den Zweidichterort. Der Weg ins Audenhaus führte über das Weinheberhaus, welches direkt an der Westautobahn steht.
Dem Hausherrn war es peinlich, mir auf meine Nachfrage hin mitzuteilen, dass er die Frucht eines Gspusis des nazigehypten Dichters mit einer Dorfbewohnerin sei. Ich lobte Weinhebers volkstümliche Verse, konnte aber mein distanziertes Verhältnis zu seinem hölderlinesken Dunkelwerk auch dadurch nicht verleugnen, dass ich die deutschen Weinheber-Worte aus Audens Gedicht »Joseph Weinheber« wohlwollend zitierte.
Hätte Weinheber die Vorzüge seiner volkstümlichen und den Anspruch seiner ernst gemeinten Verse vereint, wäre er vielleicht ein erstrangiger Dichter geworden, sagte ich nicht. In der ganzen englischsprachigen Welt, sagte ich, gelte Auden als einer der bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts, doch der Sohn meinte, zum Audenhaus kämen jedes Jahr vielleicht drei, vier Leute, zum Weinheberhaus aber jede Woche mindestens ein ganzer Reisebus. Wir schauten eine Fernsehdoku über Weinheber und eine über Auden. Dann zu Fuß, an Weinhebers Grab vorbei – beim Herannahen der Roten Armee 1945 hatte er sich im Alkoholrausch mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen und war, so Auden, »wie ein geliebter/alter Familienhund« im Garten begraben worden –, zum Audenhaus und über die Außenstiege in die als Schauraum gestaltete »Höhle des Machens« mit ihrem Naturblick und Autobahnrauschen.

6. »Vier Meilen weiter ostwärts hörte an einer hölzernen Palisade das karolingische Bayern auf, jenseits davon unkennbare Nomaden« (The Cave of Making, 1964); und »neunzig Kilometer von hier enden unsere Gebräuche, wo Minenfeld und Wachturm sagen, KEIN AUSGANG aus der friedliebenden Krimtatarei« (Whitsunday in Kirchstetten, 1962). Das Thema der Grenze zwischen West und Ost zieht sich durch das gesamte Spätwerk Audens. An Encounter (1970) besingt die Rettung »der Hoffnung auf eine westliche und christliche Zivilisation« angesichts »Attilas und seiner schlitzäugigen, gelblichbleichen Hunnenhorde« durch uns unüberlieferte Worte des Papstes Leo im Jahre 452. Partition (1965) blickt auf die Teilung Indiens zurück. Die »beiden Völker«, womit die Hindus und die Muslime gemeint sind, »mit ihrer unterschiedlichen Ernährung und ihren unvereinbaren Göttern« streiten »fanatisch«; der ahnungslose Engländer zieht irgendwie Grenzen und macht sich schnell aus dem Staub.

7. Beide Großväter und vier Onkel Audens waren anglikanische Geistliche, seine Mutter zutiefst religiös. Der Dichter selbst legte den anerzogenen Glauben in jungen Jahren ab. Oft wird so getan, als habe er ihn durch »Marx und Freud« ersetzt, aber schon das und zwischen diesen beiden Personen sollte stutzig machen. Aufseiten der Republik im Spanischen Bürgerkrieg lernte er den Terror kennen, und wie George Orwell wurde er zum antirevolutionären »Arkadier«.
Dass er ins Christentum zurücksank, schrieb er nicht eigener geistiger und charakterlicher Schwäche zu, sondern »Hitler und Stalin« (das und stimmt hier). Ein Rekonversionserlebnis hatte er beim Besuch eines deutschsprachigen Kinos in Manhattan 1939; die dort gezeigte Wochenschau feierte die Besetzung Polens, und die deutschen New Yorker schrien laut, man möge die Besiegten abschlachten. In Whitsunday in Kirchstetten finden wir ihn »Canterbury gehorsam«; er genießt es, als anglikanischer Außenstehender der katholischen Gemeinde anzugehören und nicht den »Autoverehrern, die draußen ihren rituellen Exodus aus Wien aufführen«; wiewohl er auch Automobilist war.

8. Der frühe Auden erklärte in seinen Werken, auf willkürliche Typologien und Kategorisierungen rekurrierend, die Welt. Der späte tat dies in seinen Gedichten immer weniger, dafür im Leben – zum Leidwesen seiner Gesprächspartner, zumal er sich ab dem frühen Nachmittag oft wiederholte – umso mehr. Er bezeichnete sich als »der Alkohol-und-Zigaretten-Kultur« und »nicht der Drogen-Kultur zugehörig«. LSD nahm er nur einmal unter ärztlicher Aufsicht; Cannabis missfiel ihm, weil es seine Sprachfähigkeit beeinträchtigte. Aber er konsumierte jahrzehntelang Amphetamine, und wenn er Österreich als »rückständig im Drogennehmen« bezeichnet (Stark bewölkt, 1971), so aus eigener Erfahrung, da er die Benzos, von denen er abhängig war, hier nicht aufstellen konnte.
Neben dem Hotelbett, in dem er starb, fand man eine Flasche Wodka und eine Packung Schlaftabletten, jeweils zur Hälfte aufgebraucht. Er hatte oft unvermittelt gesagt, dass er sich nicht das Leben nehmen wolle. Das Motiv des Todes im Hotel kommt in seinem Werk vor. Doch die Teilautopsie ergab, dass er erst in den Morgenstunden einem Herzinfarkt erlegen war – weniger als zwölf Stunden nach der großartigen letzten Lesung, deren Audioaufnahme einen zwar etwas schweratmigen, aber klar artikulierenden und gut konzentrierten, keineswegs moribunden Auden festhält.

9. Hannah Arendt – der er nach dem Tode Erika Manns, die er geehelicht hatte, um ihr zur britischen Staatsbürgerschaft zu verhelfen, einen Heiratsantrag machte – schrieb, es sei die Unübersetzbarkeit eines Gedichts von Auden gewesen, welche sie von seiner Größe überzeugt habe. Die Engländer neigen dazu, den frühen Auden für den besten zu halten. Die New Yorker präferieren den mittleren. Für mich ist Audenus Austriacus der größte, weil er der klassischste ist.

Kurt Leutgeb, Der Standard, 24.9.2023

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Gedenktage

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Hannes Stein: Ein Ruhmeslied für W.H. Auden und seine Verse
Berliner Morgenpost, 20.2.2007

Die Wahrheit mit eigenen Augen
Die Welt, 21.2.2007

Jens Brüning: Marx und Freud zum Vorbild
Deutschlandfunk Kultur, 21.2.2007

Erich Klein: Wenn die Nacht am tiefsten ist: W.H. Auden
Der Standart, 17.2.2007

Rüdiger Görner: Denkspiele im Zauberkreis der Sprache
Neue Zürcher Zeitung, 17.2.2007

Andreas Brunner: Die Poesie kann nichts bewirken
Wiener Zeitung, 16.2.2007

Daniela Strigl: „Stop all the clocks“
Die Furche, 15.2.2007

 

Zum 50. Todestag des Autors:

Kurt Leutgeb: W.H. Auden, Wahl-Kirchstettner und Weltliterat
Der Standart, 24.9.2023