In Menschheitsgeschichte geprüft
– Der Nobelpreis brachte ihre Lebensplanung durcheinander, das Preisgeld hat sie gespendet. Zum Tod der großen polnischen Dichterin Wisława Szymborska. –
Sie hätte sich vielleicht das Glück gewünscht, ein ereignisloses Leben zu führen. Nämlich Gedichte zu schreiben, einen kleinen Ruhm zu genießen, Krakau möglichst selten zu verlassen. Doch Wisława Szymborska erhielt 1996 den Literatur-Nobelpreis, das änderte alles. Das hob sie aus ihren polnischen Dichterkollegen heraus, erhob sie auch über jene Ehrungen, die sie bereits erfahren hatte, etwa den Goethe– und den Herder-Preis.
Also ist sie nach Stockholm gefahren und hat die erwartete Dankrede gehalten. Man sagt, es sei die kürzeste seit langem gewesen. Gewiss die am wenigsten eitle. Sie sagte, der Satz »ich weiß nicht« sei ihr lieb und teuer. Sie rühmte den Prediger Salomo und sein Klagelied über die Eitelkeit allen menschlichen Strebens. Szymborska stiftete das Preisgeld für soziale Zwecke: Sie zog sich in ihre Stille zurück und hat weiter geschrieben. Wenige, doch großartige Gedichte. Aus dieser Stille erreicht uns nun die Nachricht ihres Todes.
Wisława Szymborska war durchaus keine Frau ohne Eigenschaften. Ihre Eigenschaften waren durchaus ausgeprägt, doch alle verzichteten auf Prätention. Sie waren diskret. Karl Dedecius, ihr deutscher Übersetzer, hat die Dichterin über die Jahrzehnte gekannt. Ihm verdanken wir diese schöne Definition ihrer geistigen Physiognomie:
Wisława Szymborskas feminine, feinsinnige Klugheit, selbstironisch und illusionslos, ist unverführbar, am wenigsten von der männlichen Vernunft.
Man darf hinzufügen, dass die Dichterin sich auch gegen zudringliche Klischees zu wehren verstand. Etwa gegen das der Dame, erst recht das der alten Dame. Sie hatte etwas wunderbar Altersloses. Was immer man zu ihrer Charakteristik anführt – es ist cum grano salis zu nehmen. Mit einem Körnchen Salz – attischem Salz, versteht sich. Nicht zufällig heißt einer ihrer wichtigsten Gedichtbände Sól (Salz); und Salz ist auch der Titel der ersten deutschen Ausgabe von 1973, mit der Wisława Szymborska in Deutschland bekannt wurde. Damals galt sie in Polen schon längst als die bedeutendste Lyrikerin des Landes, stand sie in einer Reihe mit den anderen Dichtern der oppositionellen Generation 56, mit Tadeusz Różewicz und Zbigniew Herbert.
Szymborska hat die wohl treffendste Formel für ihre Generation gefunden: Man wurde »in Menschheitsgeschichte geprüft«. Das Gedicht »Die zwei Affen von Breughel« träumt diesen Albtraum:
Ich werde in Menschheitsgeschichte geprüft.
Ich stottere und ich stocke.
Der eine der beiden angeketteten Affen hört ironisch zu, der andere, der sich schlafend stellt, sagt der Kandidatin vor »mit leisem Klirren der Kette«.
Das war 1957 geschrieben, da war sie vierunddreißig. Die junge, 1923 in der Nähe von Posen geborene Frau war 1931 nach Krakau gekommen. Während der deutschen Besatzung hatte sie ihr Abitur gemacht, auch einer Widerstandsgruppe angehört. Nach dem Krieg studierte Szymborska in Krakau Polonistik und Soziologie, heiratete und arbeitete ab 1953 für die Wochenschrift Literarisches Leben. Ihre poetische Arbeit dieser Jahre wurde zensiert, aber auch gefördert. Sie brachte ihr den Literaturpreis der Stadt Krakau ein sowie ein Goldenes Verdienstkreuz. Die Einsicht eines frühen Gedichts war auf die Gegenwart zu übertragen:
Die Geschichte hat uns keine Siegesfanfare geschmettert:
sie hat uns schmutzigen Sand in die Augen gestreut.
Sie rieb ihn sich ein für alle Mal aus den Augen. In klassischer Prägnanz formuliert sie ihre Konsequenz in »Ein Wort zur Pornographie«. Dieses Gedicht von 1986, aus der Solidarność-Ära, beginnt subversiv ironisch mit dem Satz: »Es gibt keine schlimmere Ausschweifung als das Denken« und endet mit einem Blick auf die Straße, wo die Macht lauert. Szymborskas Dichtung verdankt sich der illusionslosen Klarheit ihres Denkens. Ihre Poetik des Nichtwissens ist Überwindung von Orthodoxie und Dogmatismus.
Das bewährt sich auch in jenen Gedichten, die den Blick auf die globalen Erschütterungen der Welt richten. Wisława Szymborska schrieb Gedichte wie »Folter« und »Der Terrorist«, das einen Attentäter in den letzten Augenblicken vor der Explosion zeigt. Sie löste sogar die heikle Aufgabe, ein Gedicht über den 11. September zu schreiben und über die Bilder, die den Sturz der Menschen aus den Twin Towers zeigen. »Zwei Dinge nur kann ich für sie tun«, heißt es am Schluss, »diesen Flug beschreiben / und den letzten Satz nicht hinzufügen.«
Dieser Verzicht zeigt jenes Element Humaniät, zu der Poesie fähig ist. Dichtung transzendiert die erdrückende Bilderflut. Auch die Dichter sind durch Bilder nicht zu fassen. »Ihre Arbeit ist hoffnungslos unfotogen«, sagte Szymborska in ihrer Nobelpreis-Rede. Sie hielt nichts vom Biographismus, umso mehr vom gewöhnlichen Leben der Menschen. Sie sprach von den Platzkarten, die wir alle im Theater des Lebens haben. Ihre Geltungsdauer sei durch zwei willkürliche Daten begrenzt. Über das zweite Datum hat sie ein schlichtes und ergreifendes Gedicht geschrieben. Vielleicht das einzige, wo sie direkt von sich selbst spricht – in jener Demut, die zu ihr gehört. Es ist ihr eigenes Epitaph, das Gedicht einer Frau Ende dreißig, 1962 in Salz erschienen. Es heißt »Grabstein«:
Hier ruht, altmodisch wie das Komma, eine
Verfasserin von ein paar Versen. Die Gebeine
genießen Frieden in den ewigen Gärten,
obwohl sie keiner Literatengruppe angehörten.
Drum schmückt nichts Bessres ihre Totenstätte
als dieser Reim, die Eule und die Klette,
Passant, hol den Computer aus dem Aktenfach
und denk über Szymborskas Los ein wenig nach.
Wisława Szymborska ist am Mittwochabend im Alter von 88 Jahren in Krakau gestorben.
Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.2.2012
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