Die Sehnsucht des jungen W.

Die Sehnsucht des jungen W.

– Feen, Götter und Heroen: Sligo war die spirituelle Heimat des irischen Dichters William Butler Yeats. Eine Landpartie zum 150. Geburtstag. –

In London erlitt der irische Dichter William Butler Yeats mit 23 Jahren einen schweren Anfall von Heimweh. Im Schaufenster eines Getränkeladens sah er ein Reklamebrünnlein, auf dessen Fontäne eine kleine Holzkugel tanzte, und sofort zog es ihn an allen Herzbändeln fort. »Vom grauen Pflaster« flogen die Gedanken zur Grafschaft Sligo an der irischen Westküste, zu den plätschernden Wassern von Lough Gill und der kleinen grünen Insel Innisfree. Er träumte von einer Hütte dort – »neun Reihen Bohnen, ein Bienenvolk« – und vom Frieden, »der von des Morgens Schleiern tropft«.

So schrieb der junge Yeats sein berühmtestes Gedicht, „Die Seeinsel von Innisfree“. Und man muss Aufnahmen mit der Stimme des alten Yeats gehört haben, seinen atemlosen, orgelnden Singsang, in dem dieser Gedankenflug anhebt: »I will arise and go now, and go to Innisfree…, auf dass sich leis das Haar sträube und man ebenfalls eine Art Inselweh zu spüren beginne. Den Wunsch, vom grauen Pflaster abzuheben und dem Mann hinterherzufliegen – nach Irland und nach Innisfree.

Zwischenlandung in Dublin, kurz vor dem großen Jubiläum. Am 13. Juni vor 150 Jahren wurde im Vorort Sandymount W.B. Yeats geboren – Nobelpreisträger 1923, treibende Kraft der literarischen irischen Renaissance, Mitbegründer des Nationaltheaters, als junger Mann ein Revolutionär, als alter ein Senator des Freistaats und alles in allem so etwas wie Irlands Goethe. In Dublin, Galway und Sligo sind jetzt an den Stätten seines Wirkens die ernsten und die heiteren Würdigungen im Gange. Yeats’ Stücke werden in Theatern gespielt und getanzt, seine Gedichte im Freien und in Kneipen rezitiert und gesungen. Yeats-Fans aus aller Welt tragen im Internet ihre Lieblingsverse vor und erstellen ein Audioarchiv. Die National Library in Dublin zeigt eine Ausstellung über Leben und Werk: Zwischen Leinwänden, an denen Fotos der irischen Westküste aufscheinen, ist Yeats’ haarsträubende Stimme in einer knisternden, schleifenden BBC-Aufnahme von 1932 zu hören. Chanting nannte der Dichter die von ihm entwickelte Vortragsweise, eine musikalische Rede zwischen Sprechen und Singen, von der er glaubte, die keltischen Barden hätten so ihre Lieder und Legenden deklamiert. »Die Betonung der Rhythmen mag Ihnen eigenartig erscheinen«, sagt er, aber »diese Verse haben mich höllisch viel Arbeit gekostet, und deshalb werde ich sie nicht wie Prosa lesen – I will arise now…«

Also, aufstehen. Von Dublin nehme ich den Zug nach Sligo. Kein Frieden an Bord. Eine »Hühnerparty« steigt zu, ein Dutzend Mädels, die Junggesellinnenabschied feiern. Die zukünftige Braut trägt über der Jeans ein rosa Tutu, Schleier und Diadem im Haar und eine rosa Trillerpfeife um den Hals. (Ja, sie trillert.) Eine der Jungfern hilft der Braut, nacheinander in die Brautgeschenke – ein Dutzend Schlüpfer – zu steigen. Große Begeisterung. Sekt perlt um rosa Trinkröhrchen. Zwei Stationen vor Sligo fällt die ganze Gesellschaft unter dem Geschepper leerer Flaschen aus dem Zug.

Nach einer strapaziösen Reise mit seiner Muse Maud Gonne, einer leicht entflammbaren Kämpferin für Irlands Freiheit, war der Dichter einmal vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen, als sie den englischen Zoll ohne Skandal passiert hatten. Oh, Mr. Yeats, hätten Sie diese Damen erlebt! Auch bei mir löst sich nun eine gewisse Starre. Draußen zieht das friedliche Irland vorbei, Moor und Binsen, nasse Kühe auf der Weide, von Efeu erdrosselte Bäume, das Rhododendrongärtchen eines Eisenbahners. Stechginster blüht; sein Gold brennt Löcher in die graue Luft. Nach drei Stunden wird die letzte Station auf Englisch und Gälisch angekündigt: Sligo – Sligeach, eine vieltürmige Stadt an der Mündung des Garavogue River, der sich schnell, glatt und torfdunkel unter den Steinbögen der Hyde Bridge hindurchwälzt. Möwen, dick wie Pinguine, werfen sich vom Geländer. Vor der Ulster Bank steht ein bronzener Yeats und hebt die Hand in künstlerischer Geste, sein geblähter Mantel ist bedeckt mit Worten. So war der Dichter einst auch durch die Straßen geweht, in schwarzem Umhang und mit flatternder Halsschleife, den Kneifer am silbernen Kettchen – ein Wortzauberer, ein Tonsetzer, in Träume von Irlands mystischer Vergangenheit gehüllt.

Sligo mit seinen umliegenden Bergen und Ufern, Wäldern und Wasserfällen war seine spirituelle Heimat. Als Kinder hatten er und seine Geschwister die Sommerferien bei der Familie der Mutter, wohlhabenden Schiffseignern, verbracht. Hier wurden ihm die alten Geschichten erzählt, die sein frühes Werk und seine politische Richtung prägten: Märchen von keltischen Göttern und Heroen, vom Volk der Feen, das Kinder entführt, und von dessen Königin Maeve, die mit den Wolfshunden jagte und auf dem Zauberberg Knocknarea südwestlich von Sligo begraben liegt. Auch als er sich später literarisch und politisch für die Unabhängigkeit engagierte, blieb Irlands sagenumwobene Geschichte für ihn der Humus, aus dem ein neues Nationalbewusstsein sprießen würde.

Als junger Mann kehrte er nach Sligo zurück und fand in Innisfree sein Aussteigerparadies. »Nein, er hat dort keine Hütte gebaut«, sagt Martin Enright, aber er sei oft hinübergerudert und habe im blühenden Heidekraut gelegen und vom einfachen Leben geträumt, »in des Mittags Purpurschein«. Der stämmige kleine Herr mit weißem Backenbart und Tweedmütze ist Präsident der Yeats Society. Was der Poet zu Fuß abschritt, will Martin mir auf einer Autotour rund um Sligo zeigen. Von der CD, die er einschiebt, ertönen keine Gedichte – der Präsident kennt seinen Yeats auswendig –, sondern Vogelstimmen. Noch sind nicht alle Vögel da, aber im Auto herrscht schon akustischer Frühling, und bald wird Martin Grasmücke, Fitis und Hänfling bestimmen können.

Werden wir auch nach Innisfree fahren, Martin? Da würde ich schrecklich gern… »Mal sehen«, sagt er.

Das Ausflugsboot dort kreuzt eigentlich nur auf Lough Gill herum. Innisfree hat keinen Steg zum Anlanden; es ist wirklich nur ein Inselchen.

Unter dem klirrenden Lied des Rotkehlchens fahren wir erst einmal nach Rosses Point, einem Vorland an der Mündung des Garavogue. Hier wohnte der kleine Willie bei seinen Vettern im Sommerhaus Elsinore, wo nachts die Gespenster verschimmelter Schmuggler an die Fensterscheibe klopften und alle Hunde in der Nachbarschaft zu rasen begannen. Der Wind weht frisch; das Meer blitzt wie gehämmertes Silber. Mittendrin zeigt eine riesenhafte Metallskulptur in weißen Hosen und blauer Matrosenjacke den Schiffen die Fahrrinne zum Hafen von Sligo.

An Elsinore gibt es nichts mehr zum Anklopfen. Von Efeu vermummt, schaut nur noch das Dach der Ruine aus dem dicken grünen Pelz. Fast wäre es Lissadell, dem Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert, das man von Rosses Point an der Sligo Bay liegen sieht, ebenso ergangen. Vor 30 Jahren war es so gut wie zugewachsen, und die letzte Miss Gore Booth lebte im Erkerzimmer, während ihre Welt zusammenbröckelte. Die Gore Booths waren einmal steinreiche Landbesitzer; mit den Schwestern Constance und Eva war Yeats von Jugend an bekannt. An einem linden Abend wie diesem las er ihnen im Salon aus seinen Werken vor.

Lissadell im Licht der Abendhelle,
Die großen Fenster öffnen sich nach Süden,
Im Seidenkimono zwei Mädchenblüten,
Beide schön, die eine ganz Gazelle…

Lissadell ist heute wieder zugänglich, der Rasen geschoren, der lichte Wald steht voller Narzissen und Hasenglöckchen, und der kirchenschiffhohe Ballsaal mit den Gaskandelabern ist picobello restauriert.

Die Abendhelle weicht der Dämmerung, als Martin Enright und ich am Lough Gill eintreffen. »Sehen Sie diesen kleinen Streifen, der hinter der großen Insel rausguckt?«, fragt er. »Das ist Innisfree.« Ich sehe nichts. Das große Eiland in Ufernähe sei Yeats’ Sehnsuchtsort ohnehin zum Verwechseln ähnlich, sagt Martin: ein bewaldeter Buckel, ein heller Ufersaum. Zweifellos ein nettes Fleckchen, aber nicht das Original.

Dem kommen wir auch am folgenden Tag nicht näher, als wir auf den Knocknarea steigen. Weithin sichtbar wie ein riesiger Pickel auf einem Rücken, liegt dort eines der größten Ganggräber der Jungsteinzeit – Legenden zufolge der Grabhügel der Feenkönigin Maeve. Der strömende Regen hat den Weg in ein Bachbett verwandelt. Martin stapft vorneweg, Yeats-Verse zitierend:

Der Wind, er ballt die Wolkenschar hoch über Knocknarea
Und schleudert Donner auf den Fels zum Lobe von Queen Maeve.

Hinter Feldsteinmauern liegen im hohen Gras die Reste eines Dorfs, das die Bewohner während der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts verlassen haben; geduckte Giebelwände, darin ein Fensterloch. »Gerade mal 150 Jahre her«, sagt Martin, »und schon fast versunken.« Da hat sich die Steinpyramide auf dem Knocknarea in 5.000 Jahren besser gehalten, ein umwitterter, magischer, mächtiger, zehn Meter hoher Geröllhaufen, dessen Geheimnis von Archäologen unangetastet ist. Der »grimme schwarze Wind« schlägt mir die Kapuze um die Ohren. Dunkle Wolken schleifen über die Berge. Unter einem entzündeten Saum bricht eine Sonnenbahn hervor und fliegt über das weite grün und braun karierte Land. »Martin – Innisfree?« Ah ja. »Dort hinten im Osten ist Lough Gill, sehen Sie, und wenn Sie diesen Punkt am Ufer hinter dem hellen Einkaufszentrum anpeilen…« Nein, echt nicht, tut mir leid.

Nach dem Abstieg brauche ich dringend eine Aufwärmung. Drumcliffe am Fuß des Tafelbergs Ben Bulben ist nicht nur die Stätte, an der Yeats unter seinem eigenen Grabspruch liegt, es gibt dort auch eine Teestube, wo alles Yeats ist: Tassen, Kissen, Schals, Seife, sogar Bücher. Im Auto schlägt die Nachtigall, draußen schreien die Dohlen um den Kirchturm und flattern durch die Wipfel der großen Ahornbäume. An dem würzigen Wind würde man Irland auch im Dunkeln erkennen: Torfrauch. Das Grab liegt am geteerten Vorplatz neben dem Kirchenportal, ein Monument von beispielloser Dürftigkeit. Die flache Grabumrandung aus Beton umschließt nichts als grauen Splitt, die große Tafel mit Yeats’ Epitaph und die kleine mit dem Namen seiner Frau. Aber der Dichter wollte hier auch gar keinen Besuch:

Reiter, schau kalt
Auf Leben, auf Tod.
Mach hier nicht halt!

Nach Tee und Scones reiten wir deshalb weiter zum Lough Gill. Jetzt gilt’s. Heute Abend wird in Slish Wood am Seeufer – mit Blick auf Innisfree! – ein Harfenkonzert gegeben. Es findet im Rahmen des Harp-Moon-Festivals statt, das zu jedem vollen Mond einen Ort mit Bezug zu Yeats bespielt. Der Dichter war durch Slish Wood auf der Suche nach dem Sagenhaften gewandert. Er wollte eigentlich unter den Bäumen übernachten, fürchtete jedoch, vom Waldhüter aufgestöbert zu werden, und marschierte nach Sligo zurück.

Vielleicht war es ihm auch zu feucht. Wie heute mir; es regnet. 30 wasserdicht verpackte Konzertbesucher haben sich auf dem Waldparkplatz versammelt. Der Solist Michael Rooney wartet im Auto.

Ich habe nur eine Harfe, und die darf nicht nass werden.

Also gehen wir erst einmal spazieren. In Slish Wood treibt es der Lenz grün und weiß, mit aufspringenden Blattfächern und flatternden Buschwindröschen. Knorrige Bäume breiten ihre Äste über das Wasser. Bächlein brausen vom steilen Hang in felsige Klüfte. Weit im Westen lagert Ben Bulben kieloben wie ein gesunkener Ozeandampfer. Wir stehen herum und schauen auf den See, in dem sich Abendhelle spiegelt. Wer kennt ein Gedicht? Eine Französin im roten Anorak tritt vor und rezitiert »Innisfree« auf Französisch, dann eine kleine Tschechin auf Tschechisch, die Füße beieinander, die Hände gefaltet. Martin Enright schiebt seine Mütze zurück und deklamiert das Gedicht vom entführten Kind, das mit den Feen in Slish Wood tanzt. Unterschiedlich beherzt fallen wir in den Refrain ein:

Come away, o human child,
to the waters and the wild,
with a fairy hand in hand…

Nur ein paar Wegbiegungen voraus, nahe am Ufer, liegt Yeats’ grüner Seelenort: Innisfree. »Wir müssen umkehren!«, ruft der Präsident. »Es wird dunkel.« Außerdem nieselt es nur noch sacht, und Michael Rooney ist bereit, am Waldrand unter einem großen Regenschirm Harfe zu spielen: tropfende, perlende, rieselnde Wassermusik im Feenwald.

Ich werde einfach glauben, dass es Innisfree gibt. Yeats ist mein Zeuge – für die Insel, den See, den Wald und die vielen anderen magischen Orte, die er als junger Poet bedichtet und besungen hat. Er behielt sie in Erinnerung. Doch als alter Herr wurde er ein wenig kantiger und schrieb an eine Verehrerin:

Bitte denken Sie nicht, dass »Die Seeinsel von Innisfree« besser ist als alle meine übrigen Gedichte, denn der Meinung bin ich nicht.

Elsemarie Maletzke, Die Zeit, 12.6.2015