Kempowskeritze,

Kempowskeritze,

die (Zettelkasterl, Alleskleber, Souvenirwana, Mittelstandsstern) ausdauernd. Familie der Memorizeen. Futterpflanze mit gelegentlicher Heilwirkung.

Dottergelbe Blüte in einem großen, alphabetischen Zettelkasten. Fruchtknoten mit Haarkrone, rechts gescheitelt. Blütenstengel blattlos und stark klebrig (Insektenfalle). Die Blätterstengel breiten sich suchend über dem Boden aus.

Die Kempowskeritze, die von Pedanten bestäubt wird, wächst in alten Familienerinnerungen und zieht aus ihnen den Sinn der Geschichte. Seine Blüten haben Ähnlichkeit mit den Augen traumwandlerischer Tanten, die alles haben kommen sehen. Die Wurzeln der Pflanzen wühlen den Boden auf und fördern alle festen Gegenstände nach oben. Die Kempowskeritze ist derart wachstumsfreudig, daß sie auf sich selbst Wurzel fassen kann. Walter Jens schreibt in seinem Buch ›Rhetorik der Blüten‹: »Die Pflanze wächst nicht, sie wuchert, und wo sie wuchert, sieht es wie nach einem Hausputz aus.« Die Kempowskeritze kommt zweimal jährlich zur Blüte und zwar mit einer Pünktlichkeit, nach der Gärtner ihre Uhren stellen können. Ihre fetten Blätter geben ein nahrhaftes Futter ab, vor allem für Wiederkäuer. Die deutsche Bildungsfutterstelle hat die Pflanze in ihr Angebot aufgenommen. Sie erhofft sich dadurch, das Wachstum in gesicherte Bahnen lenken zu können, anstatt durch Reizfutter gefahrvolle Auswüchse zu fördern.
Die Kempowskeritze ist das Universalmittel des Mittelstandes, der in der Tragödie immer auch das Heitere sieht. In der Volksmedizin gilt das Öl aus der Wurzel als ein sicheres Mittel gegen Gedächtnisverlust und Verdrängung der Jugendtorheiten. Es tritt eine Mitteilsamkeit ein, die bei stärkerer Dosierung zu einer regelrechten Erinnerungsflut führt. Menschen die man in diesem Zustand antrifft, können zu einer Plage werden. Sie sind ein Faß ohne Boden, aus dem die Vergangenheit rhapsodisch herausrinnt. Wolfdietrich Rasch stellte diesen Zustand einmal an sich selbst fest. Er schreibt in seinem Buch ›Blüten einst und jetzt‹: »Ich war plötzlich ganz Vergangenheit und bin mir auch jetzt nicht sicher, ob ich ihr ganz entronnen bin. In der Doppelbödigkeit dieser Erfahrung liegt der Wert der Kempowskeritze: nämlich in der Gegenwart Vergangenheit zu sein.« Reinhard Baumgart dagegen resumiert in seinem Buch ›Botanik für Zeitgenossen‹: »Ich bin gegen solche totale Entleerungen. Sie machen aus der Vergangenheit eine Klatschbörse.«

Fritz Schönborn aus Deutsche Dichterflora, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983