
Ein Mann, ein Kosmos: An Selbstbewusstsein fehlte es dem Lyriker Walt Whitman nicht
– Eine »neue Bibel« sollte es werden, zugleich ein »Gesang meiner selbst«: Der Gedichtband, dessen Parameter Walt Whitman so kühn gesetzt hatte, erschien dann unter dem bescheideneren Titel Leaves of Grass – aber er hat dem vor 200 Jahren geborenen amerikanischen Dichter dauerhaften Ruhm eingebracht. –
Als Walt Whitman am 31. Mai 1819 in dem kleinen Ort West Hills auf Long Island geboren wurde, bestanden die Vereinigten Staaten nach ihrer Unabhängigkeit offiziell gerade einmal dreiundvierzig Jahre. »Er ist Amerika«, urteilte Ezra Pound neunzig Jahre später über ihn und meinte dies, entsprechend seinem eigenen Bild der Nation, nicht unbedingt positiv, bekannte jedoch schon bald:
Wir haben einen Saft und eine Wurzel.
Tatsächlich hat wohl kaum ein anderer amerikanischer Dichter den Nerv des 19. Jahrhunderts mit seiner Aufbruchsstimmung, dem Vertrauen in eine unerforschte Zukunft und dem individuellen Freiheitsdrang so stark getroffen wie Whitman.
Mit den Leaves of Grass schenkte er den Staaten auch eine Art dichterischer Gründungsurkunde. Beim Erscheinen der ersten, noch recht schmalen Ausgabe jenes Buchs, das ihn weltberühmt machen sollte, im Juli 1855, war Whitman sechsunddreissig und hatte sich bereits in verschiedenen Berufen mit mal mehr, meist weniger Ehrgeiz versucht, unter anderem als Schriftsetzer, Zimmermann, Dorfschullehrer und Journalist. Viele hielten ihn für einen Müssiggänger, weil er sich den bürgerlichen Idealen verweigerte.
Dabei war er alles andere als untätig. Zwei dicke Bände füllen heute die journalistischen Arbeiten. Diese kurzen Texte für verschiedene Zeitungen sind literarisch nicht selten belanglos, bekunden aber bereits Whitmans soziales Engagement und weitgespannte Interessen. So schrieb er etwa einfühlsam über Waisenhäuser, plädierte für freie Fahrten auf der Fähre für Arbeiterinnen und mokierte sich über die schlechte Strassenbeleuchtung, die das Verbrechen begünstigte.
Daneben entstanden Erzählungen und andere Prosastücke. Der jüngst wieder aufgefundene Roman Jack Engle von 1852 stellt ein verblüffendes Kompendium seinerzeit beliebter Literaturformen dar. Virtuos und raffiniert setzt er auf begrenztem Raum die Elemente von Familien-, Kriminal- und Liebesgeschichte ein, die neben lyrischen Beschreibungen einer Flussfahrt, einem dokumentarischen Friedhofsbesuch und Schnappschüssen aus der fortschrittlichen Stadt New York mit ihren unterschiedlichen Berufen, sozialen Schichten und Religionen stehen.
Nicht alle frühen Prosaversuche sind gleichermassen gelungen, doch Jack Engle beweist aufs Schönste, dass aus Whitman auch ein bedeutender Romanautor hätte werden können, wäre er diesem Weg nur ein Stück weiter gefolgt. Stattdessen entschloss er sich, wie ein auf den 21. Juni 1856 datiertes Fragment im Nachlass belegt, alle Kräfte nur auf das eine Gedichtbuch zu konzentrieren, das von Auflage zu Auflage anwuchs.
Dass der grosse »Gesang meiner selbst« mühsam erarbeitet wurde und ein bedeutender, kühner Schritt nach vorne war, zeigen die erhaltenen Skizzen in den Notizbüchern. Rhetorisch fragte Whitman Ende der 1850er Jahre im Gedichtentwurf »An die Zukunft«:
Soll ich das idiomatische Buch meines Landes schreiben?
Im Juni 1857 hatte sich Whitman allerdings noch weit mehr vorgenommen: »Die Grosse Gestaltung der Neuen Bibel«, die aus 365 Gedichten bestehen sollte, weil der Dichter, wie er später triumphierend verkündete, »der wahre Sohn Gottes« ist.
Die Erstausgabe der Grasblätter war anonym erschienen, sie zeigt der Titelseite gegenüber nur ein Bildnis des Autors. Das Hemd aufgeknöpft, die Ärmel lässig, der Hut schräg zur Seite, in Jeans, den typischen Arbeiterhosen. Ein Mann aus dem Volk, der sich als Nonkonformist gebärdete. Whitman liess sich zeitlebens gerne fotografieren, inszenierte sich selbst in diesem modernen Medium, handelte aber durchaus lebensnah. Viele Menschen aus seinem Umfeld sollen überrascht gewesen sein, als sie erfuhren, dass »ihr Walt« ein Lyriker war.
Wahrscheinlich hat nie zuvor ein Dichter mit solchem Selbstbewusstsein von sich und seinem Werk gesprochen. »Walt Whitman, ein Kosmos«: Mit diesem Gestus fühlte er sich berechtigt, »im Namen Amerikas« die gesamte Welt zu grüssen und zu wünschen, dass sie eines Tages an dessen Seite stehen würde. Whitman betrachtete das eigene Ich zwar als Kosmos und die Seele als Zentrum des Alls, er sah sich aber auch bescheiden irdisch als »Sohn Manhattans«.
Die Beziehung des Dichters zum Volk bestimmt wesentlich seine Aufgabe. So schrieb Whitman im Entwurf zu einem Vorwort:
Er schenkt euch nicht die gewöhnlichen Gedichte und Metaphysiken. Er schenkt euch den Stoff, damit ihr euch selbst Gedichte, Metaphysiken, Politik, Haltung, Historien, Romane, Essays und alles weitere bildet.
Die Rolle des Dichters besteht darin, Impulse zu stiften, die der Mitarbeit der Leser und der weiteren Umsetzung in deren Leben bedürfen.
Den institutionalisierten Religionen erteilte Whitman eine deutliche Abfuhr. Seine Metaphysik ist die Verherrlichung der Wunder des Daseins, die auf jedem Quadratmeter zu finden sind. Er staunt über eine Maus genauso wie über die sphärischen Weiten des Weltalls. Der Mensch hat sich von den Göttern emanzipiert:
Nichts ist göttlicher im Universum als der Mensch.
Whitmans neue Religion ist die Realität der Phänomene.
Octavio Paz hat deshalb enthusiastisch geurteilt:
Zwischen seinen Glaubensüberzeugungen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt es keinen Bruch.
Dem war allerdings nicht so. Die Grasblätter dokumentieren nicht die erlebte Gegenwart des Dichters, sie sind der utopische Entwurf eines Staates, wie er sein sollte: eine demokratische Union mit gleichberechtigten Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihrer Hautfarbe, in einem Amerika, das alle Einwanderer willkommen heisst.
Whitman wurde von der politischen Realität oft enttäuscht. In der postum veröffentlichten Rede »The Eighteenth Presidency!« sprach er von der »Verknöcherung des Geistes«, von einem »kadaverhaften« Zustand, in dem sich die ganze Gesellschaft befinde. Das Lavieren der Parteien, die Korruption (die vor dem Bürgerkrieg gewaltige Ausmasse angenommen hatte) und die Unfähigkeit des Präsidenten geisselte Whitman mit übelsten Beschimpfungen, nannte ihn gar einen Dreck- und Exkrementenfresser.
Die Grasblätter waren ein »work in progress«, das nur durch den Tod seines Autors zwangsläufig abgeschlossen wurde. Die nicht ausgeführten, meist mit wenigen Sätzen notierten Gedichte zeigen Whitmans allhungrigen Blick, so finden sich Entwürfe unter anderem über Stadtspaziergänge, Architektur, das Dasein, Weisheitsbücher, Kriminelle, Namen, Nationalhymnen, den Indian Summer, Sprache, das Banjo, die Ehe, Blumen und Früchte, Farmer, Küsse, schwarze Personen, Insekten, Licht, Wälder, die einzelnen Bundesstaaten, die Erde und den Himmel der Alten. Es scheint, nichts war ihm zu klein oder zu gross.
Keinem Phänomen sich zu verschliessen und alles auf die eine oder andere Weise bedeutsam zu finden, lautet die Lehre Whitmans. Viele dieser Fragmente und Entwürfe beanspruchen mehr als nur philologisches Interesse, sie sind integraler Bestandteil der unabgeschlossenen Lebensmitschrift der Grasblätter und müssten in einer Gesamtausgabe ebenso enthalten sein wie die verschiedenen Vorworte, die Auskunft erteilten über die gesellschaftliche Position des Dichters, die ihm wichtiger war als Statements zu formalen Aspekten.
Der nachhaltigste Einbruch der Wirklichkeit in die literarische Utopie geschah durch den Bürgerkrieg. Whitmans Lieder beschwören den Krieg, der erneut zur Einheit der Staaten führen soll, und gedenken trauernd der Gefallenen auf den Schlachtfeldern. Allerdings war Whitman nicht patriotisch verblendet, er verteilte in den Spitälern Washingtons kleine Geschenke an die Genesenden, tröstete die Kranken und sass bei den Sterbenden. Hunderte von Namen hat er minuziös notiert und sich beinahe so aufgeopfert, wie es ihm in der frühen Erzählung »Rache und Vergeltung« als Ideal vorschwebte.
Whitman verteidigte die Würde der Sklaven dichterisch vehement, wollte die Sklavenfrage jedoch nicht auf Kosten der zerstörten Einheit der Staaten gelöst wissen. In den Jahren nach dem Bürgerkrieg mischten sich tiefgreifendere Vorurteile in seine Skepsis und Enttäuschung über die Politik, die sich zumindest teilweise aus den Zeitumständen erklären lassen: So lehnte Whitman das Wahlrecht für Schwarze ab, bis sie einen gewissen Bildungsstand erreicht hätten. Zum Vergleich: Sein Vorbild R.W. Emerson hätte es auch ungebildeten Weissen am liebsten verweigert.
Der zweite Einbruch war die nachlassende Gesundheit. Mehrere Schlaganfälle machten Whitman frühzeitig zum Invaliden. Nun musste er sesshaft werden. Doch mehr als ein winziges, zweistöckiges Haus in Camden konnte er sich nicht leisten. Schon damals machte das Haus einen heruntergekommenen Eindruck und stand nicht in einer bevorzugten Wohngegend. Heute wird es von einer Organisation gepflegt, die Gegend wirkt jedoch leer, die Bäume vorm Haus sind verschwunden, auf der anderen Strassenseite befindet sich das Bezirksgefängnis von Camden.
Es gehört zu den tragischen Ironien der daran nicht eben armen Literaturgeschichte, dass der Mann, der die Freuden des »elektrischen Leibs« in einer bis anhin ungekannten Sinnlichkeit beschrieben hat, vom eigenen Körper im Stich gelassen wurde. Horace Traubel, Nachlassverwalter und ihm verpflichteter Dichter, hat mit dem neunbändigen Werk With Walt Whitman in Camden ein faszinierendes Gesprächs- und Lebenszeugnis der letzten Jahre hinterlassen. Er zeichnete auch minuziös Whitmans Ende auf, das er in quälender Monotonie, gepeinigt von Schmerzen, verbrachte.
Mehr als tausend Menschen sollen in der Mickle Street innerhalb von drei Stunden Abschied genommen haben. Doch sein literarischer Ruhm ging wohl stärker noch von Europa aus, die Expressionisten lasen ihn, erste Vertonungen folgten. Whitmans Leben bleibt in vielem ein Rätsel, sein Werk ist nicht zu Ende gelesen. Gerade jetzt wirkt es besonders aktuell und erinnert an die demokratischen Wurzeln der Nation, ohne die es nicht entstanden wäre. Whitman zu lesen, bedeutet, seine nach wie vor utopische Vision einer geschwisterlich zusammenlebenden Menschheit zu teilen.
Jürgen Brôcan, Neue Zürcher Zeitung, 1.6.2019
Lebenslauf
Porträtgalerie
Gedenktage
Zum 125. Todestag des Autors:
Christian Lindner: Tod des amerikanischen Lyrikers Walt Whitman
deutschlandfunk.de, 26.3.2017
Zum 200. Geburtstag des Autors:
Oliver vom Hove: Walt Whitman: „Ein Yankee, der seiner Wege geht“
Wiener Zeitung, 26.5.2019
Florian Baranyi: Der Dichter der Demokratie
orf.at, 31.5.2019
Manfred Orlick: „O Captain! My Captain!“
literaturkritik.de, Mai 2019
Hannes Stein: Der Mann, der die richtigen Worte für Amerika fand
Die Welt, 31.5.2019
Erwin In het Panhuis: „O Captain! My Captain!“
queer.de, 31.5.2019
Ulf Heise und Torsten Kohlschein: Dichter Walt Whitman: „Den Neuen Menschen singe ich“
Freie Presse, 31.5.2019
Jürgen Brôcan: Ein Mann, ein Kosmos: An Selbstbewusstsein fehlte es dem Lyriker Walt Whitman nicht
Neue Zürcher Zeitung, 1.6.2019