Wind aus der Bibliothek des Meeres

Wind aus der Bibliothek des Meeres

– Ihm galt das Gedicht als Kommunikationsknotenpunkt. Er war ein Meister der Metapher. Jetzt ist der schwedische Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer im Alter von 83 Jahren gestorben. –

In einer lauten Welt können nur die leisen Worte berühren. Das wusste Nelly Sachs, als sie 1965 Gedichte Tomas Tranströmers erstmals ins Deutsche übertrug. Sie ahnte wohl, dass keiner die Sprache der Dichtung im 20. Jahrhundert so verändern würde, wie der am 15. April 1931 in Stockholm geborene Tranströmer. Seine in 15 schmalen Bänden aufgehobenen Gedichte sind in mehr als sechzig Sprachen übersetzt worden. 2011 ehrte ihn das Stockholmer Komitee mit dem Nobelpreis für Literatur.

In der Begründung hieß es:

Durch seine dichten, durchlässigen Bilder verschafft er uns einen frischen Zugang zur Realität.

Was auch immer man unter »frisch« verstehen mag – der Geschwätzigkeit des Zeitgeistes setzte er immer knapper, klarer und präziser werdende Gedichte entgegen. Bereits sein noch an den Surrealismus anknüpfendes Debüt 17 Gedichte (1954) wirkte wie ein Affront gegen eine Poetologie, die sich dem Tagesgezänk verschrieben hatte.

Tranströmers bildhafte Welt-Momente brauchten keine Argumentation. Auch in allen folgenden Büchern, von Geheimnisse auf dem Weg (1958) über Klänge und Spuren (1966) bis zu Das große Rätsel (2004) bietet seine natürliche, von der Natur und den Gegenständen ausgehende Sprechweise Menschheitsentwürfe. Sie schließen konkrete Dinge und Verhältnisse ein, benennen die Risse der Zeit und strahlen dennoch eine große musikalische Ruhe aus. Alle Widersprüche sind in ein glasklares System gebracht. In ihm vereinte Tranströmer äußerste Gegensätze wie Begrenztheit und Unendlichkeit, Hell und Dunkel, Freude und Trauer, ohne die Konturen zu verwischen.

Er hat das Gedicht als »Kommunikationsknotenpunkt« entworfen, als zwischen zwei Begriffen schwebendes »Drittes, für das es kein Wort gibt« und als Balanceakt in einem Boot:

Nichts in den Taschen, keine großen Gesten, jegliche Rhetorik muss unterbleiben.

Tranströmer war ein Meister der Metapher. Er sah den Dichter als »Drehkreuz« zwischen Vergangenheit und Zukunft und als Durchgangsstation für eine Menschenmenge. Spezialwissen braucht es für die Lektüre nicht, wohl aber Offenheit, Sinn für mehrdeutige Sprachbilder und Liebe zu allem Lebendigen.

Tranströmers Verse halten in einer als klirrend kalt empfundenen Welt den Wert jedes Einzelnen – ungeachtet seiner Herkunft – hoch. Die Schweden haben das lange vor dem Nobelpreis für einen der Ihren erkannt. Sein Buch Sorgogondolen (1996) verkaufte sich auf dem kleinen schwedischen Buchmarkt in einer Auflage von 30.000 Exemplaren, für einen Lyrikband ein beachtlicher Erfolg.

Das Geheimnis der Wirkung Tranströmerscher Verse liegt nicht zuletzt im hohen Identifikationsgrad für den Leser. Selten spricht – darin ist er ein Protagonist der Moderne – ein fest umrissenes monologisierendes lyrisches Ich, und wenn doch, dann als ein Suchender und Fragender: »Was bin ich«? »Wo bin ich? Wer bin ich«?

In einem New-York-Gedicht scheint das sprechende Ich dem des Autors sehr nah zu sein:

Ich, der ich es liebe, umherzuschlendern und in der Menge zu verschwinden, ein T in der unendlichen Textmasse.

1983, im Band Der wilde Marktplatz schrieb er noch umfangreiche erzählende Prosa-Gedichte in daktylischen Langversen Später wurden sie immer kürzer und schrumpften schließlich zum Dreizeiler, in dem die einzelne Metapher triumphiert.

Zahlreiche archetypische Figuren bevölkern die Verse: Reisende, Wanderer und Träumende. Manche sind geografisch und sozial geerdet: Männer in erdfarbenen Overalls, Bettler auf einer Straße in Izmir, im Nildelta verhungernde Kinder. Tranströmer hat Augenblicke seine Begegnungen mit Menschen in fließenden Assoziationsketten verdichtet: ein Jude aus Portugal, ein russischer Komponist. Und ganz früh schon, 1959, während seiner Tätigkeit als Psychologe in Roxtuna skizziert er Insassen eines Jugendgefängnisses. Hier spricht der Autor von »falsch buchstabierten Leben«.

Er moralisiert nie, ist vielmehr ein genauer Beobachter von Personen im Kontext von Staat und Geschichte. Seine Wahrnehmungen fasst er in Sentenzen zusammen. Die Zeit- und Gesellschaftskritik des Tomas Tranströmer, konzentriert sich in den Figuren des Zensors und des Büttels:

Wenn der Büttel sich langweilt, wird er gefährlich.

Manchmal gleicht seine Perspektive der des Piloten, der im Nachtflieger aus großem Abstand »einen Flecken / unwirklichen Lichts« sieht.

Aus der Distanz heraus gelangen ihm treffende Worte, auch über das seinerzeit geteilte Deutschland und das geteilte Berlin:

die Weltgeschichte, die an der falschen Stelle lacht.

Die meisten Miniatur-Szenerien, die der Dichter entwarf, kommen geradewegs aus dem Alltag. Sie sind konkret und zeitlos allgemeingültig zugleich:

Eine Frau hängt Wäsche auf im Schweigen (»Der Adlerfels«).

Solche Sinnbilder unscheinbarer und doch unbeirrt lebenserhaltender Gesten grundieren Tranströmers Verse. Sie weisen auf große Zusammenhänge. Hinter jeder Metapher steht die Vision. Das Schweigen des Universums klingt an, aber auch die Einsamkeit und Zerrissenheit des Einzelnen, ob allein oder in einer – hier vielleicht dissonanten – Zweisamkeit. Wie Kleinodien leuchten die wenigen erotischen Liebesgedichte des Schweden: »Das Paar«, das sich im wiederholten Augenblick der Begegnung der anonymen Menge entzieht, das Glück der körperlichen Liebe, das in »C-Dur« als eine göttliche Musik erklingt und in »Feuergekritzel« als Überlebensmittel wirkt.

Nicht erst seit seinem 1990 erlittenen Schlaganfall hat Tomas Tranströmer vom Tod als der dunklen Seite des Lebens geschrieben. Der »Tod, das Geburtsmal«, wie er ihn einmal nannte, tritt seit den frühen Gedichten in Begräbnis-Szenen und Traum-Sequenzen auf. Fast scheint es, als wäre Tranströmers Leben und Schreiben ein einziger Dialog über den Tod gewesen: »Auf wen warte ich? Einen Freund. Warum kommt er nicht? Er ist schon hier« heißt es in einem von Hanns Grössel, seinem bereits 2012 verstorbenen kongenialen Nachdichter, übertragenen Vers.

Nicht minder wirklich als das Klopfen des eigenen Herzens waren Tranströmer die Schatten. Erst die Allgegenwart des Todes macht die im Gedicht festgehaltenen Augenblicke kostbar. So sind die Gedichte des Schweden Momentaufnahmen von heftigen oder sanften Bewegungen auf eine Grenze zu zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt. Oder es ist, vor allem in den späteren Gedichten aus »Das große Rätsel« von einer »Brücke« die Rede, die sich »langsam gerade hinaus in den Raum« baut, oder von einer »dunklen Schwelle«.

Erst in den späten Haikus kommt Entsetzen ins Bild: als alptraumhafte Fratze, die durch das sich auflösende Dach des Hauses blickt oder den Sprechenden als »geräuschloser Schuss« von hinten ereilt. Der Tod tritt als Schachspieler auf, der die finale Partie gewinnt und letztendlich als einer, der auf die Meeresfläche schreibt:

Großer und langsamer Wind
aus der Bibliothek des Meeres.
Hier darf ich ruhen.

Jetzt ist Tomas Tranströmer im Alter von 83 Jahren gestorben.

Dorothea von Törne, Die Welt, 27.3.2015

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