Bernharddistel,

Bernharddistel,

die graue (Wiesenfrost, Totenblume, Nichterl, Bleichdistel, Trauerling) ausdauernd bis austrocknend. Familie der Tristizeen. Friedhofsblume.

Die graublauen Blüten einzeln, hängend bis herablassend, langgestielt. Die handförmigen, gezinkten Blätter ballen sich bei Kritik leicht zur Faust. Blattstiele ranken.

Die zierliche Pflanze, die immer ein wenig so wirkt, als würde sie sich ihrer Eloquenz schämen, wächst auf Friedhöfen, in alten Urnen, in angereicherten Beziehungslosigkeiten, in Österreich und im Nichts. Sie blüht im Nebel auf und trägt noch im Frost Blüten, die von Dissertationen und Kulturkritikern bestäubt werden. Sie ist selbst in 1000 Meter Höhe noch anzutreffen, behauptet sich jedoch auch in Niederungen und auf den Brettern, die nicht immer die Welt bedeuten. Ihre Widerstandskraft ist sprichwörtlich, ebenso ihre Blütefreudigkeit. Fritz J. Raddatz schreibt in seinem von ihm selbst als fundamental eingestuften Werk ›In der Natur geblättert‹: »Die graue Bernharddistel überrascht mich immer wieder. Ihre augenfällige Gebrechlichkeit steht in einem krassen Gegensatz zu ihrem Behauptungswillen. Sie macht das Nichts direkt heimisch.«
Als Viehfutter taugt die Pflanze wenig. Sie ist zäh und nachgerade unverdaulich. Der Duft der Blüten soll den Tränenfluß erleichtern, weswegen sie wohl von Klageweibern als Trauerelixier gesammelt wird. In der Homöopathie wird der Saft der grauen Bernharddistel als ein sicheres Mittel gegen ins Kraut schießende Lebensfreude benutzt. Rolf Michaelis schreibt in seinem Aufsatz ›Was uns noch im Winter blüht‹ (In: ›Zeitschrift für Pflanzenfreunde‹, I, 1; mehr nicht erschienen): »Die Bernharddistel vollendet sich im Frost. Ihre amethystblauen Blüten werden zur Chiffre des Winters: der Triumph der Form über das Verwelken.« Chemische Untersuchungen haben ergeben, daß Kälte bei der Pflanze einen verschönernden Mumifizierungsprozeß auslöst. Sie kann dann geradezu mit den Eisblumen am Fenster der Innerlichkeit konkurneren.
Die Suhrkamp-Universalgärtnerei hat sich diesen Umstand zunutze gemacht und verkauft tiefgefrorene graue Bernharddistelblüten an Sammler und anderweilig Verzweifelte. »Was dem einen schöne Trauer, füllten den anderen die Kasse«, sagte schon Heinrich Heine.

Fritz Schönborn aus Deutsche Dichterflora, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983