Wenn der Mond scheint

Wenn der Mond scheint

– Der Dichter und Dramatiker Tadeusz Różewicz profilierte sich in der Nachkriegszeit als eine der bedeutendsten lyrischen Stimmen Polens. Am 24. April ist er 92-jährig in Wrocław gestorben. –

In seinen jungen Jahren blieb Tadeusz Różewicz wenig Zeit, sich über die Welt und die Dichtung romantische Illusionen zu machen. Kurz vor Różewiczs 18. Geburtstag marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein und löste damit einen Krieg aus, der eine bis dahin ungekannte menschliche Barbarei entfesselte. 1941 schloss sich Różewicz der polnischen Heimatarmee (AK) an. Für diesen Widerstand musste sein älterer Bruder, ebenfalls ein AK-Kämpfer, mit dem Leben bezahlen – er wurde Ende 1944 von der Gestapo hingerichtet. Während des Krieges versuchte Różewicz, dem Schrecken mit satirischen Gedichten beizukommen, die er im Mitteilungsblatt der Untergrundarmee veröffentlichte. Die traumatisierende Wirkung der Kriegsgreuel ging allerdings tiefer: Nach 1945 erkannte Różewicz, dass alle ethischen Ideale nur noch als Sprachhülsen existierten. Nicht nur Häuser, Städte und ganze Landstriche lagen in Schutt und Asche, auch die Sprache selbst, mit deren Wörtern man gelogen, gehetzt und getötet hatte, war zerstört.

1947 erschien Różewiczs Gedichtband Unruhe, der in seiner nackten Sprachgewalt die Befindlichkeit einer ganzen Generation auszudrücken wusste. Das berühmteste Gedicht aus dieser Sammlung trägt den Titel »Gerettet« und tastet sich mit unsicheren Worten an ein zweifelhaft gewordenes Überleben heran:

Vierundzwanzig bin ich
gerettet
auf dem weg zum schlachten. [–]
Ich sah:
menschen wie tiere getötet
fuhren zerhackter menschen
ohne erlösung.
Begriffe sind nichts als worte:
verbrechen und tugend
wahrheit und lüge
schönheit und greuel
mut und angst. [–]

Różewicz schloss bewusst jedes Pathos aus seiner knappen Sprache aus. Nur die Ethik, nicht aber die Ästhetik liess er als Grundlage seiner Dichtung zu. In einem Artikel aus dem Jahr 1945 heisst es programmatisch:

Viele Dichter sollten anfangen, Schmetterlinge oder Briefmarken zu sammeln, weil sie nur Sammler von schönen Wörtern und seltenen Metaphern sind.

Damit stellte sich Różewicz explizit auf eine Gegenposition zur polnischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit, die eine hochfliegend eloquente Poetik zu virtuoser Perfektion ausgearbeitet hatte. Różewiczs nüchterne, in ihrer Strenge geradezu calvinistisch anmutende Reformierung der polnischen Poesie kann in ihrer Wirkungskraft schwerlich überschätzt werden. Kaum ein polnischer Dichter blieb in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unbeeinflusst von Różewicz. Besonders hellhörig reagierte der nachmalige Nobelpreisträger Czesław Miłosz auf die neue Stimme in der polnischen Literatur: Bereits 1948 beglückwünschte er in einem Gedicht das polnische Volk, dass es Różewicz habe und nicht schweigend in seinen Mühen einherschreiten müsse.

Allerdings stiess Różewiczs behutsame Rekonstruktion der zerstörten Sprache nicht überall auf Wertschätzung. 1949 unterliess es der Schriftstellerverband, Różewicz zu seinem Stettiner Kongress einzuladen, auf dem die polnische Literatur auf die sowjetische Generallinie des sozialistischen Realismus verpflichtet wurde. Man kann Różewicz jedoch nicht als Dissidenten bezeichnen – er hielt konsequent Distanz zum kommunistischen Regime und vermied jede Konfrontation. Seine Biografie lässt sich deshalb auch nicht in eindeutige politische Kategorien auflösen: Różewicz trat nie der Partei bei; einige seiner Texte wurden von der Zensur zurückgehalten. Gleichzeitig genoss er aber die Reiseprivilegien der Kulturelite, von denen er rege Gebrauch machte; ausserdem wurde sein Schaffen in den fünfziger und sechziger Jahren mit zahlreichen Staatspreisen ausgezeichnet.

Bereits 1958 bezeichnete ein Kritiker Różewicz als den jüngsten polnischen Klassiker. Diese Einschätzung definierte die Rolle des Schriftstellers präzis: Różewicz hatte der polnischen Dichtung nach dem Krieg bewusst eine neue, unprätentiöse Form des Sprechens verliehen. Theodor Adornos berühmte Formel von der Unvereinbarkeit von Auschwitz und Lyrik taucht in positiver Abwandlung auch bei Różewicz auf:

Zu hause wartete
eine aufgabe auf mich
gedichte zu schreiben nach Auschwitz.

Die Etikettierung Różewiczs als Klassiker implizierte allerdings auch einen Vorbehalt: In den späten fünfziger Jahren drohte seine Dichtung gerade wegen des unverkennbaren Tons ihre Entwicklungsfähigkeit zu verlieren. Der Autor suchte und fand eine neue Domäne, die ihm neue Ausdrucksmöglichkeiten für seine desillusionierte Weltsicht bot: das Theater.

1960 wurde in Warschau Die Kartothek uraufgeführt. In diesem Stück bricht Różewicz radikal mit der traditionellen Dramenpoetik und hält der Einheit von Ort, Zeit und Handlung die Disparatheit des traumatisierten Subjekts entgegen. Der Protagonist tritt im Dramentext zwar als »Held« auf, verbringt aber seine meiste Zeit im Bett. Er trägt verschiedene Namen, sein Lebensalter wechselt ständig, sein Bewusstsein springt von Thema zu Thema. Auf einer ähnlichen Figurenkonzeption beruht auch Różewiczs berühmtestes Stück, Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung (1963). Niemand verfügt über eine feste Identität, menschliche Gefühlsregungen sind in der starren Seelenmechanik gar nicht vorgesehen. Die Dialoge des Stücks erweisen sich konsequenterweise als ineinander verwobene Monologe der einzelnen Personen, die kein wirkliches Gespräch führen können.

Die Realitätsillusion wird bei Różewicz von der Bühne verbannt und durch die Visualisierung von literarischen Texten abgelöst. Er selbst bekannte einmal, dass er Jahrzehnte in der Gesellschaft von Mickiewicz, Dostojewski, Tolstoi, Tschechow, Conrad, Joyce, Beckett, Céline, Mann und Benn verbracht habe. Als wichtigstes Vorbild für Różewicz darf aber Kafka gelten. Bereits 1949 begann Różewicz mit der Arbeit an einem Essayband über Kafka, den er aber niemals abschloss; 1977 und 1983 entstanden die Dramen Der Abgang des Hungerkünstlers und Die Falle, in denen Różewicz Kafkas Lebensschicksal als Allegorie der postmodernen Befindlichkeit präsentiert.

Różewicz betrieb zeit seines Lebens etwas, das für ihn eigentlich nicht mehr existierte: Dichtung. Immer wieder unterstrich er, dass der Beruf eines Dichters nach dem Krieg unmöglich geworden sei:

Es gibt keine Poesie. Ich habe jahrelang Gedichte geschrieben. Habe ich Poesie geschaffen? Immer dieser in mir nistende Widerspruch. Seit 1945. Ich wollte zur Poesie gelangen und vor der Poesie flüchten. Die Poesie zerstören und die Poesie aufbauen.

Wie ein Text trotz diesem inneren Widerspruch überhaupt entstehen kann, hat Różewicz in einer kurzen autobiografischen Notiz beschrieben. 1948 traf er auf einem Kongress den jungen Schriftsteller Tadeusz Borowski, der als Lagerinsasse Auschwitz und Dachau überlebt hatte. Borowski fragte ihn, ob man in neuen Gedichten noch Wendungen gebrauchen könne wie »der Mond scheint«. Różewicz liess es auf den Versuch ankommen und verfasste ein Gedicht, in dem die romantische Weltsicht nicht einmal mehr als literarisches Zitat über eine Daseinsberechtigung verfügt:

Der
mond
scheint
leere
strasse
der
mond
scheint
ein
mensch
flieht
der
mond
scheint
der
mensch
fiel
der
mensch
erlosch
der
mond
scheint
der
mond
scheint
leere
strasse
gesicht
des
toten
wasserlache.

Ulrich M. Schmid, Neue Zürcher Zeitung, 24.4.2014