»Wie die junge Frau auf einer Kochreklame«

»Wie die junge Frau auf einer Kochreklame«

– Am Ende war sie ein Schatten ihrer selbst: Im Februar 1963 hat sich die Autorin Sylvia Plath selbst getötet. Ihr Roman Die Glasglocke wurde erst posthum zum Klassiker, weitere Werke zensierte die Familie jahrzehntelang. Über das Doppelleben einer großen Schriftstellerin – und Hausfrau. –

Der Tag, an dem Sylvia Plath sich das Leben nimmt, ist ein eisiger Montag im Februar. Seit 150 Jahren ist es in London nicht mehr so kalt gewesen, selbst die Wasserleitungen der kleinen Wohnung in der Fitzroy Road 23 sind eingefroren.

Sylvia Plath ist 30 Jahre alt. Vier Wochen zuvor ist ihr Buch Die Glasglocke erschienen, auf ihren Wunsch unter dem Pseudonym Victoria Lucas, aus Rücksicht auf die eigene Familie. Vier Jahre später wird es unter ihrem echten Namen erscheinen – und den Status des Literaturklassikers erlangen.

Als das Buch 1971 in den USA erscheint, steht es ein Jahr auf der Bestsellerliste: »Ein feiner Roman, bitter und unbarmherzig«, schreibt Robert Scholes in seiner Buchkritik für die New York Times. Die Glasglocke handelt von den Erlebnissen der 20-jährigen Esther Greenwood, einer talentierten Nachwuchsautorin, die nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie behandelt wird. Scholes ist überzeugt: Das Publikum liebe das gnadenlos realistische Werk, »geschrieben zwischen zwei Selbstmorden«, weil in ihm Fiktion und Realität miteinander verschmelzen würden.

Denn es ist auch die wahre Geschichte von Sylvia Plath, einer Frau, die bis zu ihrem letzten Tag zwischen zwei Welten gefangen war: die der fleißigen Ehefrau und fürsorglichen Mutter – und die der schonungslosen Dichterin.

Plath wurde am 27. Oktober 1932 in der Nähe von Boston, Massachusetts, geboren. Die Tochter eines deutschstämmigen Professors verliert früh ihren Vater und wächst mit ihrem Bruder bei ihrer Mutter auf. Sylvia ist etwas Besonderes: Als Dreijährige lernt sie Hunderte lateinischer Insektennamen auswendig, als Teenager publiziert sie Gedichte in Mädchenzeitschriften. Das »Sprachwunderkind« erhält ein Begabtenstipendium und erlangt am College einen Abschluss mit besonderer Auszeichnung für ihre Lyrik.

Mit ihrem glänzenden blonden Haar, dem hübschen, weichen Gesicht und ihrer sportlichen Figur erfüllt Sylvia zu der Zeit alle Klischees der amerikanischen Traumfrau: »Adrett, strahlend sauber und tüchtig wie die junge Frau auf einer Kochreklame«, erinnert sich der mit der Autorin befreundete Lyrik-Verleger Al Alvarez. Doch Sylvias Äußeres täuscht.

Immer wieder leidet die junge Frau an schweren Depressionen. Nach einem kurzen Volontariat beim New Yorker Mädchenmagazin Mademoiselle versucht sich die 19-Jährige zum ersten Mal das Leben zu nehmen – sie überlebt.

Sylvia wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und mit Elektroschocks behandelt – der Grund, aus dem sie ihr Leben lang Therapien meiden wird. Die Erinnerung an den düsteren Sommer 1953 verarbeitet sie ein Jahrzehnt später in ihrem Roman Die Glasglocke.

Außerdem bringt sie ihre Selbstzweifel, aber auch Momente des Glücks in ihren Gedichten und zahlreichen Tagebüchern zu Papier. Sie erhält ein Stipendium für die Elite-Hochschule Cambridge und geht nach England. Dort verliebt sie sich in den berühmten englischen Dichter Ted Hughes, den sie im Februar 1956 in einem Literaturzirkel an der Universität kennenlernt und drei Monate später heiratet. Doch auch ihre leidenschaftliche Liebe ändert nichts an Sylvias Schwermut. Im Oktober 1959 schreibt sie in ihr Tagebuch:

Gestern total bedrückt. Schwerer Himmel, grau ohne Aufhellung.

Sätze wie diese wiederholen sich in unzähligen Variationen.

Das Paar bekommt zwei Kinder und zieht in eine Villa in der Grafschaft Devon im Südwesten Englands. Im Laufe der Ehe gerät Sylvia immer mehr in den Schatten ihres berühmten Mannes. Die einst so emanzipierte Dichterin gibt nun die perfekte Hausfrau, die mit großem Eifer Rotwein zu Roastbeef und zum Nachtisch Erdbeeren mit Schlagsahne serviert. Wie sehr Plath dieses Dasein hasst, verrät ihr Alter Ego Esther Greenwood, die Protagonistin der Glasglocke: Esther glaubt, »es sei vielleicht wirklich wie Gehirnwäsche, wenn man verheiratet war und Kinder hatte, und man lief dann nur noch dumpf wie ein Sklave in einem privaten, totalitären Staat herum«.

Sylvia schreibt immer weniger – im ganzen Sommer 1962 nur zwei Gedichte. In einem davon, »Mohnblumen im Juli«, geht es um das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit:

Ich halte meine Hände über Feuer. Nichts brennt.

Im Herbst 1962 steht die Ehe vor dem Aus: Ihr Ehemann Ted betrügt sie. Sylvia tobt. In einem Anfall von Eifersucht vernichtet sie alles, woran Hughes gerade arbeitet: Manuskripte und Notizen reißt sie in kleine Fetzen – ebenso wie seine Shakespeare-Sammlung. Im Oktober setzt sie ihn vor die Tür.

Von nun an lebt Sylvia mit den Kindern allein in dem großen Landhaus. Die beschwerliche Haus- und Gartenarbeit macht ihr Mühe: Wäsche waschen, Windeln wechseln, Äpfel sammeln. Ein immer wiederkehrendes Grippevirus nagt an ihrer Gesundheit. Sylvia wird immer dünner, verliert in einem Herbst neun Kilo.

Aber sie schreibt wieder: dreißig Gedichte in einem Monat. Im Fieberrausch verfasst sie die bitteren Verse, die sie später berühmt machen werden. Darunter »Lady Lazarus«, das ihre schreckliche Entscheidung vorwegnimmt. Darin heißt es:

Sterben. Ist eine Kunst wie alles. Ich kann es besonders schön.

Trotz dieser Einsicht, gelingt es der Schriftstellerin nicht, sich Hilfe zu holen.

Stattdessen spielt Sylvia ihrer Mutter weiterhin die starke, aktive und unabhängige Frau vor. In einem Brief vom 21. November schreibt sie:

Mann, wenn ich erst einmal 50 und berühmt bin, gibt es keine Widmung dem »lieben Gatten, ohne dessen Hilfe ich es niemals geschafft hätte etc.«

Anfang Dezember hält Sylvia es auf dem Land nicht mehr aus und zieht mit ihren Kindern in die Londoner Fitzroy Road 23. In der karg möblierten Wohnung soll alles anders werden. Sie kauft neue Kleider und Schmuck, lädt Gäste zum Tee ein, schreibt ein paar hübsche Kindergedichte. Doch auch in der Großstadt bleiben ihre Freundschaften so oberflächlich und die Besuche so selten wie im isolierten Devon. Sylvia und die Kinder kränkeln, der Winter setzt ihnen zu, die Heizung fällt aus, das Telefon wird abgestellt. Sylvia nimmt Antidepressiva und Schlafmittel.

Wieder schreibt Sylvia einen Brief an ihre Mutter:

Ich kann ehrlich sagen, dass ich in meinem Leben noch nie so glücklich gewesen bin. Ich sitze nur und denke vor mich hin: Puh! Ich hab’s geschafft!

Von dieser Euphorie bemerkt Verleger Alvarez wenig, als er Sylvia an Weihnachten einen kurzen Besuch abstattet. »Ihr Haar (…) hing lose, wie ein Zelt bis zu ihrer Taille herab«, schreibt er in seinen Erinnerungen, »sie ähnelte einer von den Riten ihrer Religion erschöpften Priesterin.«

Wie Sylvia sich zu diesem Zeitpunkt tatsächlich fühlt, ist nicht überliefert. Nach ihrem Tod vernichtet ihr Ehemann Ted, der den Nachlass regelt, Sylvias Tagebuch der letzten drei Monate. »Es war einfach traurig«, rechtfertigte Ted Hughes seine Tat in einem Interview.

Ich wollte nicht, dass die Kinder das lesen müssen.

Zudem zensiert Hughes ihre Tagebucheinträge, streicht die für ihn unangenehmen Passagen heraus, ebenso wie einige Sexstellen. Er verlegt ihre Gedichte neu, verändert die Zusammenstellung und veröffentlicht die Glasglocke unter Sylvias echtem Namen – vor allem, weil er sich davon einen finanziellen Erfolg verspricht. Aurelia Plath, die Mutter, reagiert auf den halbautobiografischen Roman so bestürzt, dass sie posthum die Briefe ihrer Tochter veröffentlicht. Um der Welt die »wahre« Persönlichkeit ihrer Tochter zu zeigen, die doch immer so positiv und fröhlich gewesen sei. Tatsächlich belegte sie damit nur die gestörte Beziehung zwischen Mutter und Kind.

Auch wenn sie vor ihrer Mutter bis zuletzt versucht, den Schein zu wahren, sind die letzten Tage der Schriftstellerin von Verzweiflung geprägt. Sie unternimmt jedoch auch einen Versuch, Rettung zu finden: An einem frühen Sonntagmorgen Ende Januar, klingelt es an der Wohnungstür des Kunsthistorikers Trevor Thomas, der die Parterrewohnung unter ihr mietet. Mit roten, geschwollenen Augen steht Sylvia im Türrahmen, Tränen laufen über ihr Gesicht. Sie sagt mit zitternder Stimme:

Ich werde sterben. Und wer wird sich um meine Kinder kümmern?

Der Nachbar ist überfordert: »Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte«, erzählt er später. Als er sie hereinbittet, verwandelt sich Sylvias Hilflosigkeit in Zorn: Plötzlich ballt sie wütend die Fäuste und schreit Anschuldigungen gegen ihren untreuen Ehemann durch die Zimmer.

Wenige Stunden vor ihrem Tod erscheint Sylvia Plath ein zweites Mal vor der Tür des Nachbarn. Es ist kurz vor Mitternacht, sie will ihm ein paar Briefmarken abkaufen, da sie sofort Briefe nach Amerika abschicken müsse. Thomas wundert sich über die Frau, die minutenlang wie in Trance im Hausflur verharrt, und will einen Arzt rufen. Sie aber sagt:

Nein, tun Sie das bitte nicht. Ich habe nur einen wunderbaren Traum, eine ganz wunderbare Vision.

Trevor Thomas geht zu Bett, er muss morgens immer früh raus.

Am nächsten Morgen ist Sylvia Plath tot. Trevor Thomas macht das wenig aus. Ohnehin sei ihm die Frau aus der oberen Wohnung eher gleichgültig gewesen, sagt der Professor für Kunstgeschichte Jahre später in einem Interview. Auch habe sie ihn nie nach ihm oder seinem interessanten Beruf gefragt. Auf die Gegenfrage, ob er wisse, was denn seine Nachbarin beruflich gemacht habe, antwortet Thomas:

Na ja, ich bin davon ausgegangen, dass sie einfach Hausfrau ist.

Fabienne Hurst, Der Spiegel, 11.2.2013

Lebenslauf
Porträtgalerie
Gedenktage

Zum 50. Todestag der Autorin:

Fabienne Hurst: „Wie die junge Frau auf einer Kochreklame“
Der Spiegel, 11.2.2013

 

Zum 90. Geburtstag der Autorin:

Simone Frieling: Fragen von literaturkritik.de mit Antworten
literaturkritik.de, Oktober 2022

Elke Schmitter: Wohin mit der Wut
republik.ch, 28.102.2022