Zum Tode des Lyrikers Saint-John Perse
Der französische Diplomat und Lyriker Saint-John Perse ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Wie an der Riviera bekannt wurde, ist Perse, dessen richtiger Name Alexis Saint-Léger war, am Montag bereits beerdigt worden. Im Jahre 1960 wurde der Lyriker für seine Werke mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Schon vor 15 Jahren, als ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, fragte mancher sich:
Saint-John Perse? Es gibt ihn noch? Aber der ist doch tiefe Vergangenheit grosser französischer Lyrik.
Damals wie heute muss man eine gewisse Anstrengung machen, um sich zu erinnern.
Saint-John Perse kam 1887 auf einer Koralleninsel nächst Guadeloupe, zur Welt, einem Eiland, das seiner Familie gehörte. Aber hat die Insel Saint-Léger-les Feuilles je wirklich existiert? Man weiss es nicht mit völliger Sicherheit. Und man weiss nicht, ob die Geschichte einer Kinderfrau, die im geheimen Shiva-Priesterin war und den Knaben Marie René Auguste Alexis wie einen wiedergeborenen Gott verehrte, ins Reich der Rhythmen und Hymnen gehört oder tatsächlich Teil der Wirklichkeit ist.
Als Elfjähriger kommt er mit seiner Familie nach Frankreich und lebt mit ihr in Pau. Die Welt der Zyklone, der Inselvögel, der Magie und der Legende versinkt tief ins Unterbewusstsein des Kindes. Alexis Léger studiert in Bordeaux, erst Medizin und Literatur, später Rechtswissenschaft, erwirbt den Grad eines »licencié en droit«, ein Diplom der Ecole des hautes études commerciales und tritt schliesslich 1914 in den Staatsdienst ein. 1914 bis 1916 Mitglied der Direktion des Quai d’Orsay, 1916 Legationssekretär in Peking, 1924 Kabinettschef des Ministers Briand, 1927 Bevollmächtigter Minister und Direktor für politische Angelegenheiten und Generalsekretär des Aussenministeriums.
1913 erschien unter dem Namen Saint-Léger sein noch ganz unter dem Einfluss Rimbauds stehender Lyrikband Eloges. 1924 kommt unter dem Pseudonym Saint-John Perse (nach dem lateinischen Dichter Aulus Flaccus Persius) Anabase heraus, das Eliot auf eine Stufe mit der Prosa des späten Joyce stellte, ein Werk von Durchschlagskraft, ein neuer Rhythmus, ein neues poetisches Gesetz.
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Der Staatsbeamte geht unterdessen seinen Weg und wird als Generalsekretär des Aussenministeriums zu einer wichtigen Figur der französischen Aussenpolitik, zu einem Diplomaten, der später von sich gesagt hat, er wisse vieles, das den Ministerpräsidenten und der Geschichtsschreibung unbekannt sei. 1940 flüchtet er vor den Deutschen in die USA, wo er alsbald auf Empfehlung des amerikanischen Schriftstellers Archibald MacLeish an der Kongressbibliothek in Washington die Stelle eines Bibliothekars erhalten und in Abgeschiedenheit sein dichterisches Werk weiterverfolgen wird.
Saint-John Perse ist da, und Alexis Léger verschwindet von der Szene. Die Regierung von Vichy entkleidet den Geflüchteten aller Titel, Ehren und Ansprüche und bürgert ihn schliesslich sogar aus. Die diplomatisch-politische Laufbahn ist für ihn, der erst die Schwelle der Fünfzig überschritten hat, zu Ende. Freilich, Präsident Roosevelt schätzt den reservierten Bibliotheksbeamten, schätzt ihn viel mehr als den hochmütigen und überall verletzlichen General aus Paris, mit dem er nun häufig zu tun bekommt, und er liebt es, sich mit Saint-John Perse über Angelegenheiten Frankreichs auszusprechen.
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Saint-John Perse kehrte nach der Befreiung Frankreichs nicht mehr zum dauernden Aufenthalt in seine Heimat zurück, teils weil es trotz prinzipiell verwandter Grundanschauungen zwischen ihm und General de Gaulle Unstimmigkeiten gibt, teils weil er als Dichter den Pariser Literaturbetrieb verabscheut, teils weil ihm die Vereinigten Staaten, denen seine Gattin entstammt, wirklich zu seiner zweiten Heimat geworden waren. Das war kein Bruch mit Frankreich (»Mein erster Atemzug war gleichsam chemisch französisch, und mein letzter wird es sein«, sagte er, und »Die französische Sprache ist und bleibt meine einzig denkbare Heimat.«) Es war nur die Ausweichbewegung vor den sogenannten »Literaturproblemen« der Heimat, vor dem allseits geforderten »Engagement« des Dichters. Saint-John Perse blieb gleichwohl seinem Lande verbunden.
1924, in einer seiner schönsten Dichtungen, hat Saint-John Perse die Worte geschrieben:
J’honoré des vivants.
Seine Poesie ist einziger grosser Preisgesang des Lebendigen. Sie stellt der strengen Jenseitigkeit des andern Dichterdiplomaten, Paul Claudel, eine nicht weniger strenge, nicht weniger dramatische Diesseitigkeit gegenüber. Es sind breite, gewaltige Rhythmen, die längst unabhängig sind von den Wellenbergen und Wellentälern der Mode. Seine Poesie ist zeitfern, war sie immer. Sie ist aber darum doch nicht museal. Man kann Saint-John Perse mit dem Rilke der Duineser Elegien vergleichen oder mit dem späten Ezra Pound. Seine Hymnen gingen in die Mythologie dieser Jahrhunderts ein.
Jean Améry, Die Tat, 26.9.1975
Porträtgalerie
Nachruf
Gedenktage
Zum 80. Geburtstag des Autors:
Otto Heuschele: Saint-John Perse
Die Tat, 27.5.1967
Zum 85. Geburtstag des Autors:
Jean Amery: Ein lebender Mythos
Die Tat, 27.5.1972