»Ich wohne nicht, ich lebe«

»Ich wohne nicht, ich lebe«

Ihr Name war kein Pseudonym. Am 19. Oktober 1923 heiratet Rosalia Beatrice »Ruth« Scherzer, geboren am 11. Mai 1901 in Czernowitz/Bukowina, im Rathaus von Manhattan ihren Jugendfreund Ignaz Ausländer. Das Paar verzichtet auf den jüdischen Ritus. Beide waren anderthalb Jahre zuvor mit dem Auswandererschiff auf Ellis Island, der Immigrantenschleuse im Hafen von New York, gelandet.

Nur auf Drängen der Mutter, die nach dem Tod des Vaters keine Möglichkeit sah, ihre beiden Kinder zu ernähren, war die 19-jährige Rose fortgegangen. Die grüne Bukowina, »rote Melonenmilch / weisse Kukuruzmilch«, das »Vierliederland«, wird ein Lebensthema bleiben, das durch spätere Not immer wieder hindurchscheint wie ein unverlierbarer Grund von Glück:

Abendruh auf rohen Holzbänken wortkarg die Alten ein Jüngerer zog ukrainische Lieder aus der Harmonika.

In New York gab es Verwandte, die helfen sollten; zu Hause schien die Heimat verloren. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich das Klima in Czernowitz radikal geändert: Die Bukowina, unter dem liberalen Kaiser Joseph II. das kulturell blühende österreichische Kronland, war Ende 1918 von rumänischen Truppen besetzt worden. Aus dem multikulturellen Viersprachenland (Rumänisch, Deutsch, Jiddisch, Ruthenisch), in dem auch Polen und Madjaren lebten, sollte ein ethnisch und kulturell gesäuberter rumänischer Nationalstaat werden. (Hier wird am 23. November 1920 der Knabe Paul Antschel geboren, der sich dann Paul Celan nennt. Später im Czernowitzer Ghetto 1944 wird Rose Ausländer, die die amerikanische Moderne kennt, seine erste Lektorin und begeisterte Förderin sein.)

Zwischen Frühjahr 1921 und September 1939 fährt Rose Ausländer siebenmal über den Atlantik. Sie gibt ihre Ehe auf, weil sie ihre Liebe trifft, und verliert auch die nach wenigen Jahren, weil sie kompromisslos ist (aber noch mit über 80 Jahren schreibt die Greisin Verse auf den einstigen Geliebten). Sie arbeitet als Hilfsredaktorin und Sekretärin, übersetzt und gibt Englischstunden. Sie erhält die amerikanische Staatsbürgerschaft, die ihr wieder entzogen wird, weil sie nicht bleibt. Sie veröffentlicht Gedichte in amerikanischen und rumänischen Zeitschriften, hat auch einmal eine Kolumne für Lebensberatung: »Frau Ruth gibt Antwort«. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise macht sie eine Ausbildung als Fleischbeschauerin, um in der englisch-rumänischen Fleischfabrik beginnen zu können, in der auch der ehemalige Redaktor Alfred Margul-Sperber als Fremdsprachenkorrespondent untergekommen ist. Sie führt ein Doppelleben.

Offiziell ist sie die Hilfskraft, die kleine Angestellte, die in möblierten Zimmern, in Pensionen, bei Freunden wohnt. Ihr Lebenssinn aber liegt in Bogen von weissem Papier, in Notizbüchern, die sie mit einer exakten Stenographenschrift bedeckt.

Warum schreibe ich? Weil ich, meine Identität suchend, mit mir deutlicher spreche und dem wortlosen Bogen. Er spannt mich. Ich bin gespannt auf die Wörter, die zu mir kommen wollen. Ich rede mit ihnen zu mir, zu dir, rede dir zu, mich anzuhören.

Leben ist Schreiben, Schreiben ist ein Überlebenstrieb. Deshalb sind nicht die Ortswechsel das Entscheidende. Auch nicht der Sprachwechsel: Nach dem Tod der Mutter 1947 wird sie acht Jahre lang auf Englisch schreiben. Danach gelingen ihr stilistisch auf Deutsch der Durchbruch und der Anschluss an die internationale Moderne.

Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, ist sie in Sicherheit in New York; sie folgt aber der Bitte der pflegebedürftigen Mutter und kommt nach Czernowitz zurück. Unter den deutschen Truppen wird das jüdische Viertel von Oktober 1941 bis zur Befreiung 1944 zum Ghetto. Rose Ausländer überlebt die Zwangsarbeit und kann sich vor der Deportation in Kellerverstecken retten. Nach dem Krieg reist sie über Bukarest wieder nach Amerika aus. Sie wird nochmals amerikanische Staatsbürgerin und nimmt eine Sekretärinnenstelle in einer Spedition an. Und die Schaukel Europa – Amerika beginnt von neuem.

Sie lebt mit Koffern; ist zu Hause, wo sie aufbrechen kann, auf dem Sprung nach Worten. Als sie 1957 eine mehrmonatige Europareise plant, kündigt sie ihr New Yorker Zimmer, packt ihre Habe in zwölf Koffer, lässt acht davon in Amsterdam und fährt mit vier Koffern weiter: Paris, Italien, Griechenland, Spanien, Norwegen, Österreich, Schweiz, Paris, Amsterdam.

Reisen Leben zu beschleunigen den Tod aus dem Geleise zu schieben
ins Land jenseits des Jenseits Das Jenseits zu verschieben ins Später ins Späteste

Sie hat den staunenden Blick der Fremden auf das eigene Erleben. So wird sie zur lyrischen Reporterin. Sie schreibt über »24 Stunden« einer Büroangestellten und über das »Altenheim«, sie porträtiert Maler- und Schriftstellerfreunde und Stationen ihrer Reisen vom »Jungfernjoch« bis zu den »Niagara Falls«. Sie thematisiert »New Yorker Weihnacht« und »Passah«. Sie spricht von Todesnot und Todessicherheit. Ihr verschwiegenes Hauptwort ist Liebe.

Als grosse deutsch-jüdische Lyrikerin aber, die neben Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs und Gertrud Kolmar steht, wird Rose Ausländer erst im Alter wahrgenommen. Als ihr erster Lyrikband, Der Regenbogen, 1939 in Czernowitz erscheint, hat er im nationalsozialistischen Deutschland schon keine Chance mehr. Ihr zweiter Band, Blinder Sommer, kommt erst 26 Jahre später in Wien heraus. Die Auflage liegt bei 500 Stück, davon werden 100 über den Buchhandel verkauft. Erst nach dem Droste-Preis, den die Stadt Meersburg der 66-Jährigen verleiht, wird ein breiteres Publikum auf sie aufmerksam.

Rose Ausländer hat sich 1965 in einer Düsseldorfer Pension niedergelassen, wo sie sich allerdings kaum aufhält:

Ich wohne nicht, ich lebe.

Bei einem Kuraufenthalt in Bad Nauheim bricht sie sich den Schenkelhalsknochen, wird pflegebedürftig und muss im Dezember 1972 in das Nelly-Sachs-Haus, das Alten- und Pflegeheim der jüdischen Gemeinde Düsseldorf, ziehen. Sie geniesst den späten Ruhm, aber er lenkt sie auch vom Schreiben ab.

Elf Jahre vor ihrem Tod verlässt sie zu einer letzten Lesung das Haus. Danach erklärt sie sich – wider ärztlichen Verstand – für bettlägrig. Sie will die Zeit, die ihr noch bleibt, nutzen. Während seiner Freitagsbesuche diktiert sie Helmut Braun, ihrem engagierten Herausgeber und Nachlassverwalter, was sie an Fragmenten in Kürzelschrift notiert hat. Der lässt es tippen, bringt es wieder. Sie arbeitet um.

Im Februar 1985 empfängt sie für eine Stunde ihren letzten Besuch; es ist Ilse Aichinger. Sie beendet ihren Gedichtband Ich spiele noch und arbeitet im Juli 1986 in einem »Akt ruhiger Raserei« 120 Gedichte für die Taschenbuchausgabe Der Traum / hat offene Augen um. Danach erklärt sie, dass derlei sie nicht mehr interessiere. Rose Ausländer stirbt in der Frühe des 3. Januar 1988.

Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung, 11.5.2001

Lebenslauf
Nachruf
Gedenktage

Zum 10. Todestag der Autorin:

Harald Vogel: „Schreiben war Leben. Überleben“
Harald Vogel, Michael Gans und Kerstin Klepser: Werkstatt Lyrik Rose Ausländer, Verlag Ralf Liebe, 2017

 

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Harald Vogel: „Immer zurück zum Pruth“
Harald Vogel, Michael Gans und Kerstin Klepser: Werkstatt Lyrik Rose Ausländer, Verlag Ralf Liebe, 2017

Erika Schuster: „… von einem Strahl irdischer Gnade“
Die Furche, 9.5.2001

Angelika Overath: „Ich wohne nicht, ich lebe“
Neue Zürcher Zeitung, 11.5.2001

 

Zum 30. Todestag der Autorin:

Lothar Schröder: „Der Tod macht mich unsterblich“
RP.online, 3.1.2018

Katja Nau: Mach wieder Wasser aus mir
taz, 3.1.2018

Gisela Blau: Immer unterwegs
tachles, 2.1.2018

Stefan Seidel: Worte zum Leben
Der Sonntag, 3.1.2018