Dann fällt der Regen nieder
– Der Schriftsteller Ror Wolf ließ Figuren im Handumdrehen verschwinden und erfand in Worten und Bildern die alltägliche Welt neu: Nun ist der große Wirklichkeitsfabrikant im Alter von 87 Jahren gestorben. –
Wenn man Ror Wolf in Mainz besuchte – er wohnte hoch oben bei der Kupferbergterrasse mit Blick auf Stadt und Rhein –, dann kam man in eine stille Welt der Ordnung und der gepflegten Abgeschiedenheit mit weichen Teppichen und gediegenen Möbeln, mit selbstgemachten Collagen an den Wänden und gut gefüllten Manuskriptschränken im Arbeitszimmer. Der Dichter saß in seinem Ledersessel, hinter sich das Bücherregal mit den Werken seiner literarischen Referenzgrößen Robert Walser, Jean Paul und Marcel Proust.
Ror Wolf war nicht nur als Schriftsteller ein Virtuose im spielerischen Umgang mit Konventionen. Wo der Gast am bequemsten sitzen würde, Sofa oder Sessel, möge dieser zunächst bitte selbst ausprobieren; für etwaige Konzentrationsschwächen entschuldigte Wolf sich vorab und die Gebrechen des Alters moderierte er nicht mit sanftem Altherren-Sarkasmus weg, sondern bezeichnete sie als das, was sie für ihn waren: Zumutungen. Genauso wie die ganze Welt aus Zumutungen bestand, denen dieser Schriftsteller eine groteske Ordnung des Chaos entgegen stellte.
Ror Wolf war der Zeremonienmeister eines literarischen Katastrophen-Spektakels, das er in den fast sechzig Jahren seines Schreibens in unendlich vielen Spielarten veranstaltet hat. Ton und Thema sind von Anfang an da gewesen, es ging seit seinem ersten großen Prosawerk Fortsetzung des Berichts von 1964 darum, die Welt einem nicht enden wollenden Beschreibungsexzess auszuliefern. Und exakt darauf hat es der Wirklichkeitsfabrikant Ror Wolf abgesehen. Solange die Welt ihren elenden Realismus produziert, wird dieser Realismus durch den poetischen Fleischwolf gedreht. »Es ist der ganze Wortschwall der Gesellschaft, die vor meinen Augen mit verteilten Rollen auftritt«, schreibt Wolf in seinem poetologischen Text »Meine Voraussetzungen«.
In der Studentenzeitung Diskus druckte er die ersten Texte von Thomas Bernhard
Diese Gesellschaft mit ihrer selbstgefälligen Geschwätzigkeit wollte Ror Wolf zerlegen, wenngleich spielerischer und weniger zornig als Thomas Bernhard es mit seinem geliebten und verhassten Österreich tat. Mit großer Lust an der Verwandlung durch Zerstörung bastelte er sich aus seinem bürgerlichen Namen Richard Georg Wolf den labelartigen Vornamen Ror sowie das Pseudonym Raoul Tranchirer. Unter diesem Namen stellte er ein auf sieben Bände gestrecktes enzyklopädisches Handbuch der Alltagswelt zusammen, das mit seinen grotesken Sinnzuordnungen ein groß angelegtes Vademecum der semantischen Leere geworden ist.
Das große Fressen der Nachkriegsdeutschen, ihre konsumideologische Verdrängungsmanie übersetzte Ror Wolf in eine mampfende, schlingende Sprachbewegung: Städte, Landschaften, Menschen treten auf den Plan, um im Handumdrehen zu explodieren, wegzurutschen, wegzuschwimmen oder in einem Erdspalt zu verschwinden. Die Welt ist eine Fress-Maschine, sie verschlingt alles, auch die meisten Wörter, und der Dichter muss mit den übrig gebliebenen Wörtern die Wirklichkeit neu beschreiben: »Gut also von vorn, an diesem Punkt ansetzen, wo ich abgebrochen habe, der Himmel, wie war das, jawohl, der Himmel sehr blau, am Horizont plötzlich ein rasch laufender Mann.«
Ror Wolf war keiner von den schreibenden Studienräten, die glaubten, der Sprache misstrauen zu sollen und deshalb experimentelle Lyrik schrieben. Wolf wusste, dass die Sprache das Ganze und ihre Kraft und Wirkmacht groß genug ist, um keine Ideen transportieren zu müssen. Denn von Ideen hatte der 1932 in Saalfeld geborene Ror Wolf bereits die Nase voll, als er seine große Weltzermalmungskomödie zu schreiben begann. Im Internat musste der Junge strammstehen und ein Nazilied singen, bevor es Frühstück und danach zur Lockerung ein Bach-Präludium gab. Wolfs Vater geriet in Kriegsgefangenschaft, die Mutter wurde verhaftet, notdürftig wuchs der Junge beim Großvater auf, das einzige, was es in der weggesprengten Familie reichlich gab, waren Bücher.
Weil ihm in der DDR das Studieren versagt wurde, floh Wolf bald nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 aus dem Land, arbeitete in Frankfurt als Hilfsarbeiter, wohnte in Abstellkammern, studierte bei Adorno, gab die legendäre Studentenzeitschrift Diskus heraus, in der er übrigens die ersten Texte seines um ein Jahr älteren Kollegen Thomas Bernhard druckte. Peter Weiss und Günter Eich ermunterten ihn zu Prosa und Hörspiel. Wolf kam zur Gruppe 47 und fiel durch. Mehr als dreißigmal zog er um, nach Basel, nach Berlin, nach Zornheim, schließlich nach Mainz, wo er blieb. Er lebte in Irland und in den USA, so wie die Figuren in seinen Büchern binnen eines Wimpernschlags Land, Identität und Erinnerung hinter sich lassen.
In Wolfs Büchern passiert alles gleichzeitig, und wenn etwas wahr ist, so stimmt auch sein Gegenteil. Zusammen gehalten wird diese rutschende, quillende und krachende Welt durch die wie mit der Rasierklinge ausgeschnittenen Bilder seiner magischen Prosa und die strengen Formen seiner Gedichte. Das Sonett, die Ballade und die Moritat in akkurat abgezählten Metren – all dies beherrschte Wolf meisterhaft.
Was ihm in den Sechzigerjahren an Theorien und ideologischen Unterkünften angeboten wurde, erschien dem Skeptiker Ror Wolf bald unbewohnbar: »Ich habe versucht, es in ihnen auszuhalten, aber sie sind über mir zusammengefallen«, schrieb er damals. Stattdessen setzte er auf eine Literatur, die das Material der Wirklichkeit dem Zufall ausliefert, eine frei wuchernde, den Rohzustand der Welt feiernde Kunst. So entstanden Wolfs große Prosa-Etüden Pilzer und Pelzer, Die Gefährlichkeit der großen Ebene sowie zuletzt Die Vorzüge der Dunkelheit. Immer wieder ließ Ror Wolf die Wirklichkeit in Form der Anekdote auftreten. Die Sammlung Mehrere Männer mit ihrer albtraumhaften Lakonie gehört dazu. Eine Geschichte ist bei Ror Wolf sehr schnell erzählt: »Ein Mann hatte sich bei einem Spaziergang verlaufen. Man hat ihn nie wieder gesehen.«
Seine vegetative Prosa ließ ihn zu einem nahezu populären Avantgardisten werden
»Wirklichkeitsfabrik« nannte Ror Wolf sein poetisches Unternehmen, das auf die Herstellung von Finsternissen aller Art spezialisiert war und dem Leser den Zauberkasten für die prächtig-bunte Apokalypse öffnete: der Mond, der weich am Himmel hängt; die Würste, in die man mit der Gabel sticht wie im nächsten Gedicht der Mann das Messer in den Körper einer Frau. Jeder Vorgang wird von einem nachfolgenden außer Kraft gesetzt, und die erstbeste Wahrheit wird von einer zweiten verschluckt. Diese vegetative Prosa, die als eigener Organismus frisst und verdaut, hat Ror Wolf zu einem, gerade in den letzten Jahren, beinahe populären Avantgardisten werden lassen. Natürlich geschah dies auch wegen seiner legendären Fußball-Hörspiele, die den Sportkommentar und die ritualisierten Abläufe des Spiels sympathisierend aufs Korn nahmen und von deren Ertrag der Autor bis zuletzt ein gutes Auskommen hatte.
Die Zahl seiner Anhänger und Verehrer war groß, wichtige Literaturpreise wie der Hölderlinpreis und der Schiller-Gedächtnispreis erreichten Wolf, den schon lange Reisemüden, ohne dass er sie bei offiziellen Feierstunden entgegennehmen musste. So heimatlos wie Ror Wolf in der Welt war, so verstreute sich sein veröffentlichtes Werk im Lauf der Jahrzehnte, weil er die Verlage wie die Wohnorte gewechselt hatte. Deshalb ist es ein großes Verdienst, dass der Frankfurter Verleger Klaus Schöffling die Arbeiten Ror Wolfs in einer dreizehnbändigen Werkausgabe herausgibt, immer wieder ergänzt durch Supplements mit kommentierenden Texten und eigenen Sammlungen wie Die Gedichte (2017), das berühmte, »wetterverhältnisse« überschriebene, steht auf Seite 52: »Es schneit, dann fällt der regen nieder, / dann schneit es, regnet es und schneit, / dann regnet es die ganze zeit, / es regnet und dann schneit es wieder.«
Ror Wolf saß – solange seine Gesundheit es zuließ – Tag für Tag an seinem Schreibtisch und schrieb, vor allem Gedichte. In den letzten zwei Jahren hat er auch wieder seine surrealistischen Collagen gefertigt, für deren Versatzstücke er eigene Schubladenarchive unterhielt. Manchmal führte er den Besucher hinauf in den ersten Stock, zeigte die ausgeschnittenen Hirschkäferbilder, die bärtigen Männer mit den Regenschirmen, die riesigen Schlingpflanzen – allesamt sorgsam aus alten Illustrierten herausgetrennt. Diese kleinteilige penible Arbeit hatte er wieder aufgenommen, um sich abzulenken und seine Fingerfertigkeit zu erhalten.
Das Schreiben brauchte Ror Wolf zum Überleben, er besaß einen Fundus an Notizen, Skizzen und Prosamosaiken, mit denen er seinen Bericht über die Welt fortschrieb. Wenn es gegen Mittag ging, verließ er die Wohnung mit erstaunlich flinkem Schritt, um beim Griechen um die Ecke einen Fleischspieß zu essen, »und saß danach mit angefülltem Magen / in Mainz im Müll im März, ach: ganz egal / im dritten Stock. Viel mehr ist nicht zu sagen.«
Außer, dass der finster-komische Wirklichkeitsfabrikant Ror Wolf am Montag in Mainz gestorben ist, 87 Jahre alt.
Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung, 18.2.2020
Nachrufe
Gedenktag
Zum 85. Geburtstag des Autors:
Daniel Wisser: Hoch, Ror Wolf, hoch hoch hoch
Die Furche, 22.6.2022
Daniel Meuren: Raffinerie für Wirklichkeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.6.2022
Daniel Meuren: Raffinerie für Wirklichkeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.6.2022