Kaum hörbar stürzen die festen Burgen
– Am 26. Juli 2013 starb in seiner Wahlheimat Berlin 77-jährig der Lyriker Rolf Haufs. Auf dem Friedhof Pankow III an der Hermann-Hesse-Straße wurde er am Mittwoch, den 7. August, beerdigt. In Gestalt von Friedrich Christian Delius und Richard Pietraß verabschiedeten sich jeweils ein Kollege aus dem Westen und einer aus dem Osten von dieser so zurückhaltenden wie markanten Figur der Nachkriegspoesie. Wir dokumentieren beide Reden. –
Gedenkrede von Friedrich Christian Delius
»Jeder Morgen hat ein Gesicht / Sieh es an / Prüfe es / Manchmal ist es gut.« So steht es in einem alten Gedicht von Rolf Haufs mit dem provozierend schlichten Titel »Etwas über Poesie«, im Band Sonntage in Moabit von 1964. Wir, die ihn seit dieser Zeit gelesen und geschätzt haben oder die, die ihn später gelesen und als Meister der Lakonie bewundert haben, oder die, die ihn eher als Redakteur kennen – wir alle werden so schnell nicht vergessen, wie Rolf jeden, dem er begegnete, geprüft hat, jedem ins Gesicht gesehen hat, anders, als man es gewohnt ist.
Hier prüfte ein Lächler, ein verschmitzter Lächler, ein bescheidener Spötter. Nie wurde ich das Gefühl los, dass er mich durchschaut oder doch durchschauen könnte, wenn er nur wollte, durchaus freundschaftlich, hilfsbereit. Hinter seinem Lächeln steckte eine ordentliche Dosis Melancholie, aber mit dieser Melancholie ging er nie hausieren. Er setzte alle seine stille Energie daran, die richtige, präzise Sprache dafür zu finden.
Dieser Lächler lächelte nie von oben herab, trotz seiner Körpergröße. Sein feiner, scharfer Lächelblick kam eher von schräg unten, aufmunternd: Na du, wer bist du? Was planst du? Fang bloß nicht an, dich wichtig zu nehmen! Keine Pose bitte. Erlaubt ist nur das Pathos, das sich im Understatement versteckt, das von innen kommt, aus den Widersprüchen, aus Zerrissenheit und Schmerz.
Keiner unserer Generation schrieb so rhetorikfrei wie er, auch in den rhetorischen Tagen um 1967 herum. Kein Dichter weit und breit mit so wenig oder so gut gezähmter Eitelkeit. Es bleibt seine singende niederrheinische Sprachmelodie. Seine leise und doch deutlich artikulierende Stimme als Leser seiner Gedichte. Ich sehe ihn in der Runde der Kreuzberger Bohème der Sechziger und als vollkommen beherrschten Krawattenmann auf dem Sessel in Princeton, den die Gruppe der Siebenundvierziger elektrischen Stuhl nannte. Und als weißhaarigen Souverän am Tisch der Akademie der Künste.
Den stillen Ironiker, der lieber am Rand hockte als im Zentrum zu stehen oder in der ersten Reihe zu sitzen. Den Rixdorfer Balltreter mit Mönchen-Gladbacher Migrationshintergrund, den Läufer, wie wir noch sagten, den Stürmer, und einen der fairsten in unserer Künstler-Truppe. (Das wusste ich als Verteidiger sehr zu schätzen.) Den Biertrinker, den ich nie betrunken sah. Den Gedichteverkürzer. Den Liebhaber von Hauptsätzen. Den zufriedenen Redakteur. Den unzufriedenen, den stöhnenden, den begeisterten Redakteur. Den Enttäuschten, der auch im Rundfunk den Reichtum der Literatur hören lassen wollte, und nicht nur die Happen, die die öffentlich-rechtlichen Betriebswirte gnädig gewähren. Den Beherrschten. Den Resignierten, der seinen Pessimismus stets mit Selbstironie pfefferte. Den Rollstuhlmann.
Den 55 Jahre sein Niveau immer neu übertreffenden Lyriker: Straße nach Kohlhasenbrück. Sonntage in Moabit. Vorstadtbeichte. Der Linkshänder oder Schicksal ist ein hartes Wort. Die Geschwindigkeit eines einzigen Tages. Juniabschied. Größer werdende Entfernung. Felderland. Allerweltsfieber. Vorabend. Augustfeuer. Aufgehobene Briefe. Tanzstunde auf See. Welchen Band man auch aufschlägt, überall frische, passende Zeilen. Zum Beispiel aus Juniabschied: »Immer noch einmal Beginn. Wie lange schon / Halten wir aus. Wie lange noch leben / Wir Geretteten auf selbsterdachten Oasen. / Kaum hörbar stürzten die festen Burgen / Die eben noch da schwemmte hinweg / Der Fluss, vielbesungen auch von uns. / Neu kommt jetzt der Sturm obwohl / Wir wissen hohl ist sein Gesang / Achkühlerschnee, die Erde / Schützt.“
Friedrich Christian Delius
Gedenkrede von Richard Pietraß
Rolf Haufs starb nicht an seiner langjährigen Zuckerkrankheit, sondern an einer akuten Lungenentzündung, die sein Martyrium mit den späten Amputationen immer größerer Teile beider Beine beendete. Jener Vorhölle hatte er noch im Jahr zuvor die Stirn geboten: mit seinen lapidaren Rollstuhlgedichten, die den galgenhumorigen Herz- und Krebsversen Robert Gernhardts in nichts nachstehen.
Benannt, gebannt! So hat er es gehalten, seit er ein Jahr vorm Mauerbau vom biederen Rhein an die liederliche Spree zog, Freunde fand und Versfuß fasste im bohèmelebendigen Milieu Westberlins. Schreib- und Kneipkumpan Günter Bruno Fuchs begleitete die ersten Schritte im preußischen Dichtergarten und versah den Debütband Straße nach Kohlhasenbrück mit skurrilen Holzschnitten.
Rolf Haufs begnügte sich nicht mit dem westlichen Tellerrand und suchte auch Begegnungen mit Ost-Berliner Kollegen, wie bei jenem Treffen am Schwielowsee mit Stephan Hermlin, Johannes Bobrowski und Paul Wiens, das zur Aufnahme eines Studiums am Leipziger Literaturinstitut führte, das er, mitten im Kalten Krieg, schon nach einem halben Jahr, wegen ihm von seinem verehrten Lehrer Georg Maurer selbst gesteckter drohender Verhaftung, kurzerhand abbrach. Es blieben seine Besuche bei Bobrowski in Friedrichshagen. Und neue kamen hinzu, zu denen, seit unserer Begegnung im Mai 1987 auf der Terrasse des Bahnhofs Rolandseck, auch ich gehörte.
Er hatte dort ein Stipendium, und ich kam von meiner italienischen Lese- und Augenaufreißreise zurück. Rolf lebte getrennt von seiner zweiten Frau wie von den Kindern zweier Ehen Till und Nele, von denen er erzählte, wenn wir mit ihm, meiner Frau und unseren Kindern zu Ausflügen ins Umland aufbrachen. Bobrowski war da schon lange, Huchelhausbewohner Erich Arendt seit wenigen Jahren tot. Bei diesen Touren und bei meinen Besuchen in der Zehlendorfer Niklasstraße und an seinem Funkhausplatz in der Masurenallee wurden wir Vertraute. Ich war Zeuge und Linderer seiner seelischen Zerrissenheit und melancholischen Tage. Auch sein Seelenfleisch lag wund und heilte nur unvollkommen.
Seiner Produktivität tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Er war – doleo, ergo sum – der geborene Lazarus. So rief ich ihn einmal an und fragte, wie es ihm gehe. »Schlecht!« lautete die tonlose Antwort. Ich eilte zu ihm, das für die nächsten Tage Nötige einzukaufen. Als ich eintraf, ging es ihm bereits besser, und er kam mit. Jenseits dieser Stimmungsumschwünge aber war Rolf ein Beständiger und Verlässlicher. Das gereifte Dutzend seiner über einen Zeitraum von 50 Jahren erschienenen Gedichtbände ist ein markantes Kapitel deutscher Lyrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und über dessen Rand hinaus.
Als genauer Beobachter der Bürgergesellschaft und seiner selbst spürte er feinste Regungen auf und verankerte sie im Mosaik seines wachen, sensiblen Werks, das nicht vor Schroffheiten haltmachte. Darin ein Nachfahre expressionistischer Dichter wie Jakob van Hoddis und Alfred Lichtenstein, aber auch Benns und Eichs, gleichen seine Gedichte Befunden eines Hausarzts, der zu diagnostizieren, aber nicht zu heilen weiß. Die eigene Endlichkeit bedrängte ihn lebenslang. Andererseits träumte er als Insasse und Einlieger von Kliniken und letzthin Pflegeheimen in Verkennung seiner Lage unbeirrbar von seiner Heimkunft in die neue, seinen Behinderungen gerechte, gemeinsame Pankower Wohnung mit Kerstin Hensel, der beherzten Liebsten, die ihm, wenn es das gibt, das Alter erhellte.
Wir betten Dich, Rolf, in die offene Wunde der Erde, in Flüsternähe zweier Federfürsten: Klaus Poche und Adolf Endler. In uns tragen wir die letzte, schüttere Zeile Deiner Kladde: »Heraus heraus die grüne Luft wer wollte da nicht mit«.
Richard Pietraß
Porträtgalerie
Lesung
Nachrufe
Gedenktage
Zum 60. Geburtstag des Autors:
Jürgen Becker, Günter Grass, Walter Höllerer, Michael Krüger, Günter Kunert, Peter Rühmkorf, Hans Joachim Schädlich: Rolf Haufs zum Sechzigsten
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 137, März 1996
Zum 70. Geburtstag des Autors:
Michael Braun: „Der Planet friert. Still!“
Badische Zeitung, 30.12.2005.
Auch in: Neue Zürcher Zeitung, 31.12.2005/1.1.2006
Martin Lüdke: Immer größer werdende Entfernung
Frankfurter Rundschau, 31.12.2005
Nico Bleutge: Vertikale Poesie
Süddeutsche Zeitung, 31.12.2005/1.1.2006
Richard Pietraß: Im Glashaus
Der Tagesspiegel, 31.12.2005/1.1.2006
Zum 75. Geburtstag des Autors:
Martin Lüdke: Nebel kommt auf Katzenfüßen
Frankfurter Rundschau, 30.12.2010