Er war too much für euch, Leute (Zum Tod des Dichters Rolf Dieter Brinkmann)

Er war too much für euch, Leute (Zum Tod des Dichters Rolf Dieter Brinkmann)

Brinkmann hatte wirklich was drauf,
aber glaubt nicht, daß ich das hier beweisen will,
dieses Abschiedsgedicht auf einen,
der nicht mein Freund war
und den ich persönlich nur wenige Male getroffen habe,
gilt der Zukunft, für die Brinkmann jetzt verloren ist.
Vielleicht hätte er die Szene nochmals aufgerollt,
vielleicht schweigsamer als früher,
an einem Tisch auf einem Stuhl sitzend,
ein ordentliches Bier vor der Nase,
rechts der Nase einen Pickel, der bereits eiterte;
ihn scherte sie wenig, die Schönheit,
die eigene so wenig wie die der Jugend, der er das ACID-
Buch vor die Füße warf, bevor er sich völlig versteinert
(und das will was heißen für einen Burschen von gerade
dreißig Jahren!), enttäuscht und erschöpft von der törichten
Prophetie auf eine bessere Welt in die häßliche Stadt
Köln a. Rhein zurückzog, in die Einsamkeit im Schatten
der Schaltzentrale Kultur des Westdeutschen Rundfunks,
durch seine Häßlichkeit noch auffälliger als der Dom und
das träge und schmutzig fließende Wasser des Rheins,
zurückzog in die Einsamkeit ohne Geld, ohne Illusion,
ohne Freunde, ohne die Gewißheit,
das Schicksal meine es gut mit ihm;
das Ironische der Tragödie bestand darin, daß er,
der Wortgewaltige, einen Sohn gezeugt hatte, der im
Sprachzentrum schwer gestört war, kaum reden konnte
und mit wirren verkehrten Bewegungen dahinlebte,
Brinkmann, ohne die Illusion auch, er könnte eines Tages
wieder auftauchen, reifer geworden (würden die Kritiker
schreiben, wenn überhaupt sie noch was schreiben würden
über ihn, der ihnen ans Leben wollte!); ich erinnere mich
an das verblasene Entsetzen, das damals geherrscht hatte,
als Brinkmann in einer Akademie gegen das faule feiste
Ritual, sich anständig zu benehmen, verstieß.
»Wenn das hier«, und Brinkmann hielt seinen Roman,
aus dem er vorgelesen hatte, in die Höhe,
«wenn das hier ein Maschinengewehr wäre,
ich würde Sie umlegen!«
»Stellen Sie sich das vor!?«
Ich mußte lachen;
aber für Brinkmann bedeutete das den Abschied,
inszeniert von ihm selbst,
es hat ihn zeitweise vernichtet; kein Wort mehr über ihn,
mal da was, mal dort was, das Geldverdienen und die Not
waren schuld an kleinen Publikationen,
nicht das innerste Sprechen dieses Dichters,
der so schnell und billig nicht mehr zu haben war;
Grabesstille, wenn man sich an die Horde erinnert,
Brinkmann wie ein zu allem entschlossener
trunkener El Topo,
die Mädchen dabei, die genau so gut fickten
wie Gedichte machten,
die Freunde dabei, auf Tabletten, das Herz voll
mit ungestümen Forderungen,
die wirklichen Dichter machten den Überfall in den
Chefetagen der Buchmesse,
eine Gaudi, die Kraft hatte und bestechend war
wie das Kapern eines Schiffes,
das war nicht, was die Zeitungen den Verlagsmeldungen
nachredeten, eine neue Avantgarde,
noch ein Faden im Fadenkreuz der Stile,
keine Musterschüler der deutschen Kultur,
es waren junge lonesome cowboys, sensible Gangster,
Arbeiter auf den Erdbeerplantagen der Milchstraße,
zur gelben Krawatte das blutende Herz,
neugierig auf jeden Winkel des eigenen Nervensystems,
da helfen keine neuen Wörter
und die alten Wörter, die zu sagen sich lohnte,
stehen in einem uns unbekannten Buch,…
was kommt, ist wieder so gemütlich wie früher –
und diese Vorstellung ist so unbarmherzig wie die Arbeit
eines guten Schlagzeugers.
MIT DER STRAHLENDEN SCHÖNHEIT DER JUGEND
WIRD KEINE LIEBE GEMACHT
DIE ROLLING STONES HÖREN SICH AN WIE DIE
GROSSE REGISTRIERKASSE AUF EINEM
KOSMISCHEN MÜLLHAUFEN
Brinkmann konnte eine Wut kriegen, die gefährlich war
und alles andere als gespielt,
als wolle er sich jetzt –
nach der WESTWÄRTS-PHASE seiner letzten Gedichte –
in die deutsche expressionistische Geschichte einordnen
und zwar rechts, dort wo ein von ihm bewunderter
Franzose sich hin verirrte,
Céline, außer Jünger, der alt ist oder tot,
gab es keinen radikal rechts stehenden Schriftsteller
von Rang und Größe –
als wolle er sich jetzt, in Abkehr aller Drogen,
aller Rock-’n’-Roll-Musik, aller sonnigen San Francisco-
Träume an den Biertisch setzen,
bereit, jeden zu erstechen, der stoned war
oder das indische Gebet sprach
oder ihm kam mit Leary, Lennon oder sonstwas,
die RAF-Leute waren für ihn Scheißer,
die ACID-Freaks waren für ihn Scheißer,
es gab soviele Scheißer,
er brauchte offenbar wieder eine Orientierung
und die suchte er in der Provinz der einfachen Leute,
die einen Stuhl zimmern und ein Bier trinken
und nach einem guten ruhigen Schlaf wieder an ihre
nützliche Arbeit zurückkehren.

Das jedenfalls waren meine Eindrücke,
als wir uns in Frankfurt, lange her, das letzte Mal trafen,
Brinkmann erregt, enttäuscht, vielleicht enttäuscht von mir,
der auf einer Matratze lag und zuhörte
und den etwas undurchsichtigen Streit mit einem meiner
religiösen Freunde dadurch unterbrach, daß wir alle,
alle gleichzeitig, aber jeder für sich, die Wohnung verließen.

Er ging nach Italien mit einem Staats-Stipendium,
Villa Massimo, kehrte zurück,
schrieb und war alles andere als leergeschrieben,
wie es die Literaturleute so nennen, wenn man mal für ne
bestimmte Zeit die Schnauze voll hat und lieber sein
Mädchen liebt, Gedichte schreibt und kräftig durchatmet,
hier schreiben die Jungen wie die Alten ihre Bücher,
keiner macht mal ne Pause,
immer weiter,
immer überall,
das geht an die Substanz
und zum Auftanken hat man keine Zeit,
sonst wird man in der Küche der Gerüchte verkocht
und vergessen.
Eine sonderbare Republik, dieses Westdeutschland,
und Brinkmann sah das deutlicher als die meisten Kollegen,
seine Kollegen, meine Kollegen –
so wenige, die man ernstnehmen kann,
alles Leute, die immer die Wahrheit gesagt haben;
aber die Milchstraße fließt anderswo
und Lucy ist auch über die dreißig
und Brinkmann ist tot,
von einem Auto überfahren in London,
wo Lucy zuletzt gewohnt hat.
Auf Wiedersehn,
die Besten gehn,
Du weißt wohin.

Wolf Wondratschek, Die Zeit 13.6.1975

Lebenslauf

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Nachrufe

Dieter Wellershof: Alleinsein ist wie ein Gas, das ausströmt
Kölner Stadt-Anzeiger, 26./27.4.1975

Hans-Bertram Bock: Der Tod in Londons City
Nürnberger Nachrichten, 26./27.4.1975

Marcel Reich-Ranicki: Aber ein Poet war er doch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.1975

Wolf Wondratschek: Er war too much für euch, Leute
Die Zeit, 13.6.1975

Günter Herburger: Des Dichters Brinkmann Tod
Die Zeit, 13.6.1975

Gedenktage

Zum 25. Todestag des Autors:

Alex Rühle: Die Welt als Rohmaterial
Süddeutsche Zeitung, 15.4.2000

Werner Olles: Unstillbare Sehnsucht
Junge Freiheit, 21.4.2000

 

Zum 30. Todestag des Autors:

Peter Henning: „Ich bin ein Dichter!“
Basler Zeitung, 23.4.2005

Ulrich Rüdenauer: In ein anderes Blau
literaturkritik.de, Nr. 5, Mai 2005

Ulrich Rüdenauer: Der große Außenseiter
Deutschlandfunk, 13.4.2005

Galerie Foto Gezett
titelmagazin.com, 22.4.2005

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Markus Fauser: Er war kein Urvater des Pop
literaturkritik.de, 1.4.2015

Theo Breuer: Flickenteppich · Blicke auf Brinkmann
poetenladen.de, 14.4.2015

Jens Uthoff: Der Wortvandale
die tageszeitung, 16.4.2015

Stefan Lüddemann: James Dean der deutschen Literatur?
Neue Osnabrücker Zeitung, 15.4.2015

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Gerhard Henschel: Träume von Grünkohl
junge Welt, 16.4.2020

Sascha Seiler: Die Tiere sind unruhig!
literaturkritik.de, 16.4.2020