Zorn und Geheimnis

Zorn und Geheimnis

– Zum 100. Geburtstag des Dichters René Char. –

In Frankreich hat man aus seinen Gedichten schon vor 50 Jahren »die schönste Stimme seit Petrarca« gehört und zugleich auch in ihm den wichtigsten politischen Dichter des Landes gefeiert, der jedoch niemals politische Dichtung (»littérature engagée«) geschrieben hat. Der französische Lyriker René Char (1907–1988) zählt zu den großen Gestalten der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts.

In den dreißiger Jahren gehörte er als junger Dichter in Paris für kurze Zeit dem Kreis der Surrealisten um André Breton und Paul Eluard an und schloss Freundschaften mit vielen surrealistischen Malern. Eine Reihe seiner Gedichtbände wurde von Kandinsky, Picasso, Miró, Matisse und Braque illuminiert. Bei aller Kritik an dieser einflussreichen Kunstbewegung in den folgenden Jahren hat René Char dessen innovatorisches sprachliches Potenzial bis zuletzt in seiner Dichtung bewahrt. Kompliziertheit und Dunkelheit seiner nachsurrealistischen Lyrik beruhen vor allem auf diesem Erbe.

Surrealistisches Erbe
Albert Camus hat in den fünfziger Jahren in René Char den bedeutendsten Dichter seiner Zeit gesehen und hat in seinem Vorwort für die erste deutschsprachige Ausgabe der frühen Werke Chars diese Dichtung gegen den Vorwurf der Dunkelheit und Schwerverständlichkeit verteidigt, indem er klarmachte:

In der Provence, dort wo Char geboren ist, erscheint im großen Licht die Sonne manchmal dunkel. Um zwei Uhr mittags, wenn die Hitze in der Landschaft ihren höchsten Grad erreicht hat, bedeckt ein schwarzer Hauch das Land. Ebenso ist es, immer wenn die Dichtung Chars dunkel erscheint, nur eine extreme Kondensation des Bildes, eine Verdichtung des Lichts, was ihn von jeder abstrakten Durchsichtigkeit entfernt, die wir meistens nur deshalb fordern, weil sie nichts von uns verlangt.

René Char gehört zur Generation der Künstler, der Menschen, die der deutsche Nazi-Faschismus oder der Kommunismus bewegt und beschädigt, umgetrieben oder getötet haben. Er ist einer der ganz wenigen Dichter, die Front gemacht und standgehalten haben gegen die Verführungen und Verbrechen dieser totalitären Mächte, von der ersten Stunde an bis in seine letzten Lebensjahre. Er hat den bewaffneten Kampf gegen die deutsche Besetzung seines Landes als freiwilliger Offizier der französischen, nicht kommunistischen Résistance geführt und diesen Kampf überlebt, der seine Dichtung nach 1945 geprägt hat. Sein Engagement war nicht einfach Anpassung an die Erfordernisse des Kriegs oder die Politik des Widerstandskampfes in Frankreich. Die brutale Naziherrschaft über ganz Europa hatte ihn schnell zu der Überzeugung geführt, dass »verbe» und »action«, Wort und Tat, sich nicht ausschließen. Im Kampf in der Résistance fanden seine Gedanken eine extreme und bleibend gültige Konkretisierung. Chars Entscheidung zu handeln und zu kämpfen war vor allem eine poetische Entscheidung des Dichters. Aber während des Krieges hat er kein einziges Wort veröffentlicht.

Dichter und Kämpfer
Seine Aufzeichnung aus dem Maquis, die Feuillets d’Hypnos (1946), das bedeutendste und bleibende Werk der französischen Résistance-Literatur, faszinierten Albert Camus, und Char widmete ihm das Buch, das Ende der fünfziger Jahre von Paul Celan ins Deutsche übertragen wurde und heute als Taschenbuch vorliegt. Die Zuordnung der Blätter des Hypnos zur Résistance-Literatur wird den Texten Chars nicht gerecht; sie sind keine Chronik und kein Kriegstagebuch. Am ehesten sind die überwiegend sehr kurzen Texte »Fragmente« zu nennen, durchaus im Sinne von Schlegel oder Novalis, Texte zum Nachdenken, Blitze des Bewusstseins, des Erhellens der Lage, in den Minuten der Besinnung notiert, ohne Verherrlichung und Résistance-Pathos, Anstöße zum Weiterdenken. Es ist der täglich gewagte und zeitweise täglich erlebte Tod seiner Freunde und Mitkämpfer, deren Erinnerung diese Fragmente wach halten. Es gibt an mehreren Stellen so etwas wie »Epitaphien« für die getöteten Gefährten; das Erinnern an das Sterben der Freundegehört zu René Chars Humanismus.

Aber er richtet seinen Anspruch auch an die Nachgeborenen:

Unsere Aktion, die für die Lebenden einen Sinn hat: einen Wert hat sie nur für die Toten, und Vollendung wird ihr erst in dem Bewusstsein zuteil, das ihr Erbe antritt und sie befragt. (Fragment S. 187)

Ob diese »Vollendung«, diese nachdenkende und verstehende Erinnerung stattfindet, bleibt fraglich. Freundschaft mit Camus Der von René Char geforderte und für möglich gehaltene »homme debout«, der »Mensch im aufrechten Gang«, der Chars Devise entspricht: »Beuge dich nur, um zu lieben«, das ist der »homme révolté« im Werk seines Freundes Albert Camus, für den diese Welt und die in ihr lebenden Menschen »die erste und letzte Liebe« bedeuten.

Ihm gilt Chars maßvolle, »skeptische« Hoffnung.

Alle Texte René Chars bergen Bilder einer bewegenden Energie, einer vitalen Kraft gegen alles Unbewegliche, gegen jede Form von Resignation. Die Spannung seines Lebens und der Grund seiner Dichtung ist das Standhalten, das Frontmachen; das bekundet vor allem sein erster großer Gedichtband nach dem Krieg: Fureur et Mystère (»Zorn und Geheimnis«) von 1948.

Fureur meint des Dichters leidenschaftlichen Bezug zur Gegenwart und den Willen zur Veränderung dieser stets dürftigen, oft tödlichen Wirklichkeit. Diese Gedichte enthüllen »blitzartig« das »mystère«, das im dichterischen Wort aufscheinende Geheimnis des »unverhofften Lebendigen«, wie Char sagt, des »Unbekannten vor uns«, einer »Voraus-Welt«.

Auch seine späten Gedichte Elegien der Balandrane, im letzten Jahr erst in deutscher Übersetzung erschienen, sind ein zugleich wehmütiges und kraftvolles »Lied von der Erde», voll Erinnerung an die Schönheit der Natur, an den tödlichen Kampf um die Freiheit, sind Wahrnehmungen und poetische Bestandsaufnahme eines unruhigen Wanderers im Winter, der im Fremdwerden der eigenen intensiv erlebten Welt ihre Unwirtlichkeit erfährt und mit den unverlierbaren Bildern einer helleren Vergangenheit konfrontiert.

Diese späten »Elegien« preisen nicht mehr die Revolte des Dichters, der »auf des Sommers Zinnen den Aufruhr entfacht« (»Wanderer in den Morgen«, 1950), sondern sie künden von der bitteren Vision einer beschädigten Erde, zeigen überall Spuren des Todes, der wachsenden Kälte, die den Menschen, die Natur in den Würgegriff genommen hat.

Die Verluste der Moderne
René Char sah vor Jahrzehnten schon die Zwiesprache mit der Natur als verloren an und nahm in dem noch verbleibenden Dialog mit ihr nur noch ihren »chant glacé«, ihren erstarrten Gesang und ihre Agonie wahr, in der »jedes Lied zu Asche wird«. Er verstand, nicht erst in seinen letzten Gedichten, die gesamte Entwicklung der Moderne als gigantische Verlustgeschichte, als entgleiste und zerstörerische Maschinenzivilisation.

Aber Chars Hochschätzung des dichterischen Worts, das eine wirksame Verweigerung, einen poetischen Widerstand gegen die herrschenden »Sachzwänge« erzeugen könne, wie er glaubte, und das aus der »Hypnose« eines eingefahrenen gefährlichen Denkens zu befreien vermöge, wird auch hier noch einmal ganz deutlich.

Beschädigte Natur
René Char hat die heute weithin beschädigte Natur seiner provenzalischen Landschaft ins Gedicht gerettet und die poetische »Verwandlung des Sichtbaren« (Rilke) geleistet, aber auch die Veränderungen der Natur dieses Landes wahrgenommen und in den apokalyptischen Bildern seiner späten Dichtung der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sichtbar gemacht. Seine Gedichte, so hat Char einmal gesagt, gehorchten immer den Anforderungen eines »Gewaltmarsches ins Unsagbare, mit der Wegzehrung der vagen Vorräte der Sprache und dem Manna der Beobachtung und Vorausahnung«.

»René Chars Dichtung täuscht uns nicht, sie belügt uns nicht», hat der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz vor ein paar Jahren bekannt; sie bringt Lichtungen ins Dunkel des Denkens, sie ist, nach Chars Überzeugung »produktives Erkennen des Wirklichen«. Sie wird bleiben, solange es ernsthafte, zur Mitarbeit bereite Leser gibt.

Horst Wernicke, Die Furche, 31.5.2007

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Zum 100. Geburtstag des Autors:

Horst Wernicke: Zorn und Geheimnis
Die Furche, 31.5.2007