Rainer Kirsch ✝︎

Der Rainerkirsch ist ein Kernbeißer und spezialisiert auf die verbissene Stilisierung der Früchte der Erkenntnis von Oben und Unten. Er gefällt sich darin, aus den Wurzeln der Geschichte des Baumes, auf welchem er jeweils sitzt, beißt oder auch flötet, Zeigestöcke zu schnitzen, um diese dann schräg im Schnabel haltend, auf jene Früchte zu richten, deren Kerne er geknackt hat bzw. erst noch zu knacken gedenkt. Dem Baum bekommt solch systematischer Wurzelentzug nicht unbedingt, dem Rainerkirsch hingegen eine gewisse Trockenheit in dem Maße, in dem sie der Folgerichtigkeit nicht entbehrt, offenbar nicht schlecht. Und während sich also die ganze Angelegenheit unten zuspitzt, bleibt sie insofern vom Umfall ausgeschlossen, als sich der Rainerkirsch mit der Gewichtigkeit seiner verdauten Erkenntnisse von Oben und Unten in das zumeist recht karg bemessene Astwerk legt und durch den somit entstehenden Druck der Neigung des Stammes, der Vertikalen valet zu sagen, logisch entgegenwirkt. Letzten Endes blüht dem betroffenen Baum (›oder wie immer man es nennen will‹) der Charme eines gehobenen Pfostens. Was gleichzeitig auch eine der Grenzen signalisiert, die unsereinen oft betreten machten. Der Rainerkirsch seinerseits signalisiert zurück und auch darüber hinaus, indem er die Geräusche von knackenden Kernen notfalls nur nachahmt. Aber das ist vielleicht schon Spekulation

Andreas Koziol aus Bestiarium Literaricum, Druckhaus Galrev, 1991