Er hasste alles, was heute woke ist

Er hasste alles, was heute woke ist

– Pier Paolo Pasolini war der vielleicht letzte Zauberlehrling des Kinos. Eine Verneigung zum 50. Todestag. –

Ein Unfall im Kosmos war eins der schlimmsten Erlebnisse im Leben von Pier Paolo Pasolini. Und ebenso, nach dem kosmischen Unfall, heißt ein Konvolut von Gedichten, das erst Jahre nach seinem Tod im Nachlass gefunden und darauf posthum veröffentlicht wurde: 112 Sonette, die er zwischen 1971 und 1973 schrieb. Der Titel ist lapidar und pathetisch zugleich, mit dem Unfall ist das plötzliche Ende der Beziehung zu Ninetto Davoli gemeint.

Der homosexuelle Pasolini hatte den Jungen in den Sechzigern entdeckt und in den meisten seiner Filme eingesetzt, er verkörperte für ihn Naivität, Freiheit, Volkstümlichkeit – und er hat ihn geliebt. Dann hatte Ninetto plötzlich geheiratet und Pasolini sitzen lassen. Nun schmäht er teilweise rüde Ninetto und seine Frau:

Ich will mich verkriechen wie eine Ratte in der dreckigen und hell erleuchteten Nacht. Ihr und euer Gott seid ein Unfall in einem Kosmos ohne Sinn und Zweck.

Das Ausgeschlossensein war Pasolinis Geschick, er wurde aus allen möglichen Gemeinschaften gedrängt und verjagt. Die Kirche strengte einen Prozess gegen ihn an, Mitte der Sechziger, wegen La ricotta, Pasolinis Episode im Film RoGoPaG, an dem auch Roberto Rossellini und Jean-Luc Godard mitmachten. In Pasolinis Episode geht es um Filmaufnahmen, eine Kreuzigungsszene wird gedreht (der Regisseur ist Orson Welles). Einer der Statisten, der einen der Schächer am Kreuz spielt, hat schrecklichen Hunger und schlingt einen Weichkäse in sich hinein, zu hastig – er stirbt mit Verdauungsproblemen beim Drehen am Kreuz. Pasolini wurde wegen Blasphemie zunächst zu vier Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, die Episode verboten. Später wurde das Urteil aufgehoben, und die Episode durfte zurück in den Film.

Auch aus der anderen großen Gemeinschaft wurde er ausgeschlossen, der kommunistischen Partei Italiens, weil er sich nicht an die Parteidoktrin hielt:

Ich entdeckte, dass viel in meinem Marxismus eine Basis hat, die irrational und mystisch und religiös ist.

Das Progressive an Pasolini war, dass er die falsche Progressivität hasste – alles, was heute als woke gilt. Die absolute Freiheit, die die moderne Gesellschaft predigte, führte für ihn zu einer Art faschistischem Hedonismus. Das Bürgertum verfiel in dumpfe Spießigkeit, die moderne Konsumgesellschaft zerstörte das Leben der unteren Schichten, die bäuerlichen und handwerklichen Strukturen.

Pasolini, Jahrgang 1922, war ein Provinzler und wollte das bleiben, als er mit seiner Mutter nach Rom zog. In den Vorstädten dort, bei den Straßenjungs des Subproletariats, fühlte er sich heimisch. Er war ein leidenschaftlicher Fußballspieler – eine Gemeinschaft, die ihn behielt.

Pasolini hatte als Lehrer gearbeitet – er verlor die Stelle, als seine Homosexualität bekannt wurde. Er war ein Lehrer, der keine Lehren hatte, keine messages. Er wollte mit seiner Lyrik, seinen Romanen die Menschen zum Denken bringen, zum Fühlen. Ganz nebenbei fing er zu filmen an in den Sechzigern: Accattone und Mamma Roma, mit den Menschen der Vorstädte.

Ich sagte ihnen nichts, ja, ich sagte ihnen nicht mal genau, welche Figuren sie spielen … Ich wähle einen Akteur immer für das, was er ist. Nicht damit er sich in einen anderen transformiert.

Seine Filme sind unergründlich und bruchstückhaft, sie tasten die Oberflächen ab, der Landschaften und der Gesichter. In Gastmahl der Liebe ließ er Menschen, unterschiedlich in Alter, Klasse, Herkunft, über die Liebe reden, über Sexualität, Familie, Ehe, Perversion und Prostitution. Später zog er in fremde Länder, um die Gesellschaften dort zu studieren. Ein ethnologischer Subtext, der auch seine Spielfilme prägt, ein Kino der Offenheit und Unfertigkeit. »Mit dem Tod Pasolinis kann man sagen, das Kino hat aufgehört, ein Erforscher zu sein«, hat der große französische Kritiker Serge Daney geschrieben. Das Kino sei »nicht mehr es selbst, nämlich ein Zauberlehrling«.

Wie ein Zauberlehrling hüpft Ninetto durch den Film Kleine Vögel, große Vögel, mit Totò, dem großen neapolitanischen Volksschauspieler, und einer übellaunigen Krähe. Der Film ist wie ein Gegenstück zu Die 120 Tage von Sodom / Salò o le 120 giornate di Sodoma, Pasolinis letztem Film, einer grausam kalten Verfilmung von de Sades Roman, verlegt in die letzten Wochen des Faschismus – für die er Todesdrohungen bekam, aus aller Welt.

Die Bewegung seiner Filme kommt aus dem Innern der Personen, nicht durch eine dominante Inszenierung. Die archaischen Welten, die er für seine Filme um Ödipus und Medea (mit Maria Callas in der Titelrolle) schuf, sind unerklärliche Träume, absolut synthetisch. Herzzerreißend ist der Schluss von Mamma Roma. Der junge Ettore ist bei einem Diebstahl geschnappt worden und liegt mit Riemen an ein Bett geschnallt in Haft. Er klagt, will zur Mutter, schließlich stirbt er vor Erschöpfung und Einsamkeit… Seine Gestalt ist aufgenommen wie ein gekreuzigter Christus. Es ist ein konträres Christusbild, konträr zum Jesus am Kreuz, der stirbt im Namen des Vaters.

Pasolini war ein strikter Gegner der Abtreibung:

In meinen Träumen, in meinem ganzen Verhalten lebt – wie bei allen Menschen – etwas von meinem Dasein vor der Geburt weiter, von einem seligen Schwimmen im Mutterleib: Ich weiß, dass ich damals schon existiert habe.

Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung, 30.10.2025

Gedenktage

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Ronald Pohl: P.P.P.: Als Außenseiter im ewigen Clinch mit Nachkriegsitalien
Der Standart, 8.2.2022

Ronald Pohl: P.P.P.:Der Poet der italienischen Armen
Der Standart, 18.2.2022

Hans Ulrich Reck: Zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
hr2, 3.32022

Barbara Schweizerhof: Vorliebe für Unpoliertes
taz, 4.3.2022

Daniel Kothenschulte: Verwehrte Nähe
Frankfurter Rundschau, 4.3.2022

Peter Zander: Pier Paolo Pasolini – Ein Prophet der Verzweiflung
Berliner Morgenpost, 5.3.2022

Dietmar Dath: Ein Engel ist kein Bürger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.3.2022

Thomas Schmidt: „Weißt du, wie mir Italien vorkommt? Wie eine Bruchbude“
Die Welt, 5.3.2022

Michael Krüger: „Als ich das erste Drehbuch angenommen habe, war ich wortwörtlich am Verhungern.“
Neue Zürcher Zeitung, 5.3.2022

Gregor Dotzauer: Freiheit und Rebellion sind meine süße Speise
Der Tagesspiegel, 4.3.2022

Sky Nonhoff: Der große Streitbare
SR 2, 4.3.2022

Gunnar Decker: Der ewige Ketzer
nd, 4.3.2022

Sabine Göttel und Olaf Neumann: Mit cineastischen Visionen im Visier der Gegner
Freie Presse, 4.3.2022

Romina Achatz: „Ich danke dir für Deinen rebellischen Geist und deine unbändige Zärtlichkeit“
Literatur outdoors, 5.3.2022

Manfred Hermes: Der Nonkonformist
junge Welt, 5.3.2022

Emanuela Sutter: Pasolini war ein katholischer Provokateur
Die Tagespost, 6.3.2022

Lutz Hanker: 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
RBB Kultur, 5.3.2022

Agnese Grieco: Eine verzweifelte Vitalität
Deutschlandfunk Kultur, 5.3.2022

Stefano Vastano: „Wie können wir das Leben am Leben erhalten?“
Die Zeit, 28.8.2022