
Philippe Jaccottet lebte und schrieb wie ein Mönch.
– Nun ist der grosse Schweizer Lyriker in der Nacht auf heute 95-jährig gestorben. Früh verliess er die Schweiz in Richtung Paris, und seit den fünfziger Jahren lebte er in Südfrankreich. Er war der letzte Vertreter einer Generation, die nach dem Krieg die französische Lyrik erneuert hat. –
»Die Wahrheit ist das ›Ent-deckte, das Ent-schleierte‹«: So beschrieb der grosse Lyriker, Essayist und Übersetzer Philippe Jaccottet seine grundlegende poetische Erfahrung. Der Weg dahin war steinig, geprägt von Misstrauen gegenüber der Sprache, den Bildern und dem hehren Anspruch von Literatur. Als wesentliche Hilfe erwies sich dabei eine Kraft jenseits des Verstandesdenkens: »Der Flügel des Nicht-Wissens trägt mich dahin«, liest man in seinem Prosabuch Elemente eines Traums aus dem Jahr 1961.
Philippe Jaccottet wurde am 30. Juni 1925 im waadtländischen Städtchen Moudon geboren und wuchs im nahen Lausanne auf. Früh »entflammte« seine Leidenschaft für die Literatur: »Flammes noires« nannte der Heranwachsende denn auch jene Poeme, die er seinen Eltern widmete. »Flammen« aller Nuancen sollten später leitmotivisch durch sein umfangreiches Werk lodern.
Mit sechzehn begegnete er dem Dichter und Übersetzer Gustave Roud (ebenfalls ein Waadtländer); dieser erschloss ihm das Buch der Natur – und die deutschen Romantiker. Jaccottet studierte in Lausanne Literatur, veröffentlichte erste Theaterstücke und Gedichte. Diese frühen Texte waren grundiert vom Grauen des Zweiten Weltkriegs. 1946, als frischgebackener Uni-Absolvent, reiste er erstmals nach Italien. Dort machte er die Bekanntschaft von Giuseppe Ungaretti, dessen engagierter Übersetzer und Brieffreund er wurde. Er nahm Mass an Ungarettis entschlacktem Stil, wie auch am Werk anderer von ihm übersetzter Autoren, Hölderlin, Rilke, Mandelstam oder Musil.
Das Erdige des Alltags
Als Jungliterat der frankofonen Romandie hatte Philippe Jaccottet zunächst nur ein Ziel: Er ging nach Paris. Dort verdiente er sein Brot als Literaturkritiker und als Übersetzer für den Lausanner Verlag Mermod. Er entdeckte die Ding-Poetik des Francis Ponge, befreundete sich mit den Autoren Yves Bonnefoy, André du Bouchet, Jacques Réda, Henri Thomas. Und er begegnete Anne-Marie Haesler: Die aus Lausanne stammende Malerin wurde seine Frau und die Mutter seiner Kinder.
1953 erschien bei Gallimard eine erste Gedichtsammlung, L’Effraie. Just in diesem Jahr kehrte Jaccottet Paris den Rücken und übersiedelte mit seiner Frau ins provenzalische Grignan. Die Distanznahme zum Epizentrum der Kultur war endgültig. Sie entsprach seiner Maxime der bescheidenen Zurücknahme, der er ein Leben lang treu blieb:
L’effacement soit ma façon de resplendir.
Diesem Geist war auch sein schriftstellerisches Ideal der »justesse« verpflichtet: »Das Sein ist dort wahrnehmbar, wo am wenigsten Poesie im formalen Sinne ist, ich meine rhetorische Figuren, Metaphern, Verzierungen«, notierte Jaccottet 1958.
Das klingt nach nüchterner Moderne. Doch sein Ringen um das richtige, das angemessene Wort zielte auf keine keimfreie Poesie. Im Gegenteil. Es förderte einen Ton zutage, vibrierend zwischen dem Erhabenen und dem Erdigen, dem Sublimen und dem empirischen Alltag:
Gesang des Pirols, von seltsamer Ruhe, wie ein Gesang der Loslösung; während ich Unkraut rupfe.
Unbehagen an den Zeitläuften
In Jaccottets Texten zerfliessen die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa. Sie sind durchwirkt von jener »strahlenden Unscheinbarkeit«, die der Dichter am kargen Haiku so schätzte. Endgültige Positionen, Gewissheiten, vermitteln sie nicht. Dies wäre unvereinbar mit Jaccottets selbst-, sprach- und weltprüfender Haltung. Er war ein luzider Beobachter der Zeitläufte, ein scharfer Kritiker unkritischer Intellektueller, der medialen Bilderfluten oder der übertechnisierten Lebenswelt:
Was heutzutage aus dem Reisenden wird: ein immer stärker gesteuertes und gelenktes Objekt, das wie ein Teilchen im Ring des Cern kreist (…), Karten in Apparate steckt, sich auf Laufbändern vorwärtsbewegt wie anderswo das Gepäck, registriert, in die Hand genommen, ›verteilt‹ etc.
Der Kummer des Dienstmädchens ob seines schwerkranken Vaters, die Haushaltsbuchführung, die Mühen der Vaterschaft – von allem legte dieser grosse Stille schreibend Zeugnis ab. Er lebe eben auch »wie jeder andere Mensch, ›uomo qualunque‹, wenn es je einen gab«, hielt er – in allem ihm gebotenen Relativismus – fest. Die Einheit, die innere Übereinstimmung von Leben und Werk herzustellen, war ihm ein ebenso hehres Ziel wie die Arbeit am »mot juste«.
An der provenzalischen Natur entzündet sich seine primäre Vorstellungskraft. Als blosser »Späher«, das wusste Jaccottet, würde er ihres Mysteriums nicht teilhaft. Ein solches Erleben setzte vielmehr ein elementares Verstehen voraus. Eine unbestimmte Bereitschaft für jene flüchtigen, überraschenden Begegnungen, in denen eine höhere Wirklichkeit erahnbar werde:
… es kommt vor, dass ich in mir jenen fast göttlichen Atem spüre. Wäre es Verrücktheit, ihn übertragen zu wollen in Worte?
Möglich schien ihm einzig die Annäherung an solch pantheistische Erfahrungen – in einfacher Sprache, ohne Effekthascherei.
Die Worte sollten jenes andere Sein zum Schwingen bringen, das sich, vielleicht, für einen Wimpernschlag offenbart. Dass die Zeit kurz auszusetzen scheint. Ein ereignisloses Ereignis wie jener Blütenflug, der in Musils Mann ohne Eigenschaften das Geschwisterpaar Agathe und Ulrich erschaudern macht. Oder die abendlichen Farben, die die Landschaft der Provence etwas weniger wirklich erscheinen lassen.
Jaccottet ein Mystiker? Beim Gebrauch dieses Wortes mahnt der Autor Vorsicht an: Der wahre Mystiker brenne in einer Liebe zu Gott und führe ein entsprechendes Leben. Er selbst aber, Jaccottet, »schwebe ausserhalb jedes religiösen Rahmens in grösster (erbarmungswürdiger?) Ungewissheit«, nur hin und wieder »gestärkt durch Eingebungen, die vielleicht sehr vage den geistigen Aufschwüngen der Mystiker ähneln – wie die flackernde Flamme einer Kerze dem Aufleuchten des Blitzes oder dem Sonnenglanz«.
Das Licht der Lampe
Da ist sie wieder, die Flamme. Sie gibt Licht, und Licht steht für Erkenntnis. Die Flamme der Kerze erweist sich, mit dem Philosophen Gaston Bachelard gesprochen, aber als facettenreicher »opérateur d’images«: Sie wecke Bilder der Einsamkeit, sie erzähle von einer hochsteigenden Naturkraft. Stark sei auch die Wirkung ihrer domestizierten Variante, der Lampe, etwa als Licht eines fernen Hauses. Das verheisse menschliche Präsenz, ein schützendes oder werkendes Wachen. Jaccottet setzt die animalische Flammensymbolik in Kontrast zur zivilisatorisch gebändigten Kraft:
Abends gegen sechs die brennende Lampe in einem Haus erblickt, und darüber die purpurnen, flammenden Wolken: die gezähmte Lampe und der springende Tiger?
Die Lampe im fernen Haus, dieses Bild der Zuflucht, rührt an einem Urbedürfnis des (unbehausten) Menschen. Jaccottet überträgt es auf die Dichtkunst:
Ja, ich stelle mir eine Poesie vor, die für unser Herz sei wie diese Lampe, ohne nach dem Glanz der Sterne zu streben. Aber ich wollte auch, dass dieser Glanz spürbar sei, jenseits der Fensterscheiben, in richtiger Entfernung, wie ein Versprechen, dessen Raum auf diese Weise vergrössert wäre. Der Mensch braucht diese kleine Behausung, vorausgesetzt, sie ist durchlässig für das Weite.
Poesie kann zumindest eines: tröstliche Gegenbilder liefern zu einer durch Blindheit, Gier und Kriege erodierenden Zivilisation. Dass diese Bilder letztlich Illusion bleiben, daran lässt Jaccottet aber keinen Zweifel:
Das Wunder gibt es, die Fäulnis gibt es, das Grauen gibt es. Unmöglich, da herauszukommen. Das ist es also, was wir Dichter der Fäulnis entgegensetzen können, ohne sie zu leugnen, das ist es, wozu wir gemacht scheinen.
Es ist ein stetes Anschreiben gegen das Dunkle, gegen die Dämonie und Niedertracht, die Bedrohtheit und das Elend des Menschen. Und es ist ein Anschreiben gegen den Tod. Trostreich, aber vergeblich. In der Nacht auf Donnerstag ist Philippe Jaccottets Stimme für immer verstummt.
Ingeborg Waldinger, Neue Zürcher Zeitung, 25.2.2021
Lebenslauf
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Zum 90. Geburtstag des Autors:
Milo Rau: Wirklichkeitsfragmente
Neue Zürcher Zeitung, 30.6.2015
Zum 95. Geburtstag des Autors:
SDA: Philippe Jaccottet: der Grossmeister der Lyrik wird 95 Jahre alt
nau.ch, 24.6.2020