„In der Mitte der Dinge die Trauer“

„In der Mitte der Dinge die Trauer“

– Zum hundertsten Geburtstag von Peter Huchel. –

Wenn einer 1903 geboren wurde, wie Peter Huchel, musste der Krieg für ihn zu einer traumatischen Grunderfahrung werden, ebenso wie für einen, der, wie ich, 1937 geboren wurde. »Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod«: Dieses Reitersterbelied hämmerte der Potsdamer Gymnasiast Peter Huchel 1914/15 »mit paukendem Anschlag, die Pedale als Steigbügel«, ins Klavier. In einem »Europa neunzehnhunderttraurig« überschriebenen autobiografischen Prosatext hat sich Huchel 1931 mit Schaudern daran erinnert, wie leicht er sich von seiner Umgebung, seinem Vater vor allem, in Kriegsrausch versetzen ließ. Während des Kapp-Putsches meldet sich der Sechzehnjährige von der Schulbank in die Reihen der Potsdamer Freikorps, »stülpt der Sekundaner den Stahlhelm auf« und besucht eine Versammlung der Kappregierung, die von revolutionären Arbeitern gesprengt wird. Er erlebt, wie der Posten vom Stadtschloss her das Feuer auf die Menschenmenge eröffnet; ein Querschläger zerfetzt ihm den Oberschenkel und er vermag nur noch zu denken: Jetzt hauen dich die Arbeiter kaputt. Stattdessen tragen die ihn, je zwei Mann auf einer Seite, auf Spazierstöcken so sacht wie sachgemäß ins nächste Krankenhaus. Unterwegs sieht er noch, wie eine junge Frau im Zickzack über die Straße rennt und im Kugelhagel zerfetzt wird, und er sieht die vielen Verwundeten auf dem Straßenpflaster und hört ihre Schreie.

Zwei Monate liegt er nach seiner Beinoperation im Krankenhaus, neben einem Heizer und einem Metalldreher, die den Beamtensohn in politische Debatten verwickeln. Einer schenkt ihm Le Feu, das Antikriegsbuch von Henri Barbusse, und nach der Lektüre ist der junge Huchel »vollkommen rot«, wie er nicht ohne Selbstironie schreibt; darüber hinaus ist er danach auch vollkommen fixiert auf Frankreich, wenngleich er diese Frankreich-Liebe mit dem für ihn charakteristischen understatement bekennt:

Ein Land, das er sich fast zu lieben erlaubt, ist Frankreich.

Gleichzeitig weiß er schon, dass er von Deutschland nie ganz loskommen wird, denn, so schreibt er, »in Deutschland hat er den Himmel zuerst gesehen, die Havel, die schilfige Nymphe, und das birkichte Flachfeldland. Er liebt die deutsche Sprache; sie ist das einzige, was er geerbt hat. Er liebt das Heimatland zum Trotz: wegen etlicher Bücher, einiger Freunde und Frauen und eines Hundes, die alle dort zur Welt gekommen sind.«

Peter Huchel, der vor 1933 Europa kreuz und quer durchstreift – ein Jahr lebt er bei seiner ersten Frau im rumänischen Kronstadt, ein Jahr verdingt er sich in Südfrankreich als Landarbeiter, er studiert u.a. in Wien und Paris –, Peter Huchel, der Anfang der dreißiger Jahre in der Berliner Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz als Nachbar seiner Freunde Karola und Ernst Bloch, Alfred Kantorowicz und Sebastian Haffner wohnt, verlässt Deutschland, im Gegensatz zu diesen Freunden, auch nach 1933 nicht und er erlebt zum zweiten Mal den Krieg, diesmal wahrlich nicht als Kriegsbegeisterter, sondern als vollkommen Ohnmächtiger, dem dieser Krieg außer dem Leben fast alles raubt: nicht nur viele Freunde, die aus Deutschland fliehen müssen, von den Nazis ermordet werden oder im Feld fallen, sondern auch seine Sprache – seine dichterische Sprache. Zu Hitler fällt ihr nichts ein. Die Handvoll Gedichte, die Peter Huchel während des Krieges geschrieben hat, sind von einem hilflosen Humanismus geprägt, der klassizistisch hohl daherkommt und dessen Optimismus unglaubwürdig wirkt:

Göttlich bleibt der Mensch und versöhnt.
Und sein Atem wird frei wieder wehen.
Wenn auch die heulende Rotte höhnt,
sie wird vergehen.

Es liegt, denke ich, auf der Hand, warum ich heute, Huchels gedenkend, nicht zuerst von seinen großen, geglückten Versen spreche, sondern vom Krieg – und was Kriege in seinem Leben angerichtet haben. Wenige wissen noch oder wollen noch wissen, dass Peter Huchel, der für politische Polemik, gar fürs Pamphlet doch so gar nicht geschaffen schien, sich derer sehr wohl bediente, als nach 1945 der Krieg keineswegs endgültig begraben war, sondern überall wieder aufflammte, in Korea, Griechenland, Algerien oder als Kalter Krieg zwischen West und Ost. Gegen alle diese Kriege hat Huchel seine Stimme erhoben, ich denke nur an seine große Rede vor dem Groß-Berliner Komitee der Kulturschaffenden von 1952, in der er sich geradezu aggressiv gegen den amerikanischen Imperialismus wandte und die Intellektuellen warnte vor der »tödlichen Umarmung der amerikanischen Kulturpolitik« (das Wörtchen ›Kultur‹ könnte er sich heute sparen, das Alibi einer Kulturpolitik wird im Irak nicht mehr benötigt). Und ich denke daran, dass Peter Huchel, der doch alles Offizielle verabscheute, sich in der DDR dazu hergab, als offizieller Einlader für Antikriegskongresse zu fungieren, so noch 1961, kurz bevor er dort offiziell kaltgestellt wurde; damals gehörte ich selbst zu den von ihm Eingeladenen zum Int. Weimarer Kongress für Frieden und Abrüstung, und ich bereitete ihm sicher zusätzliches Ungemach mit meiner im Weimarer Nationaltheater vorgetragenen bodenlos naiven Aufforderung an die DDR-Intellektuellen, sie sollten doch bitte sehr ihren Ulbricht ebenso rigoros bekämpfen, wie wir westdeutsche Linksintellektuelle unseren Adenauer bekämpften. (Nach diesem meinem ›Ausrutscher‹ vergrub Huchel, in der zweiten Reihe sitzend – ich sehe es noch vor mir – sein Gesicht in den Händen, und die Kongressleitung änderte fix die Rednerfolge, um dem Chefideologen Kurt Hager die Gelegenheit zu geben, mir die Leviten zu lesen; es war jener Kurt Hager, der bald darauf den Krieg gegen Huchel als Herausgeber der Zeitschrift Sinn und Form eröffnete, indem er ihm vorwarf, er führe diese Zeitschrift nicht kämpferisch genug, sondern in der »feinen Zurückhaltung englischer Lords«, was wiederum Huchel zu der sarkastischen Replik veranlasste: »Siehst Du, Genosse Hager, das Wort ›englisch‹ hätte ich Dir in einem Aufsatz für Sinn und Form glatt gestrichen.«)

Und jetzt spreche ich immer noch nicht von Huchels Versen, denn es sind nicht Verse, die mir als Erstes in den Sinn kommen, wenn ich an ihn denke, sondern es ist ein Bild, das Bild des schönen Mannes, der Peter Huchel war. In seinem Gesicht waren Sanftheit und Bitterkeit, Sehnsucht und Enttäuschung, waren Weibliches und Männliches eine innige Verbindung eingegangen, wobei das Schönste an dieser Physiognomie aus der Kindlichkeit – implizit der Verletzlichkeit – rührte, die Huchel sich lebenslang zu bewahren vermochte. So einen wie ihn hätte ich gern zum Vater gehabt, und insgeheim ernannte ich ihn zu meinem Ziehvater, zu dem er sich schon deshalb so gut eignete, weil er einige der ersten Gedichte des Sechzehn- oder Siebzehnjährigen, der ich einmal war, in seiner weit über die DDR hinaus bewunderten Zeitschrift Sinn und Form abgedruckt hatte, was sicher weniger mit ihrer als mit seiner Güte zu tun hatte.

Einem der seltenen Briefe, die ich von Huchel bekam – er war leider arg brieffaul –, legte er damals, 1957 oder 1959, zu meinem Erstaunen eine Fotografie von sich bei, die ihn als jungen Mann in einer mittelmeerischen Landschaft zeigt, tief gebräunt, im kurzärmeligen weißen Hemd, aber mit Krawatte, lässig an einen agavengesäumten Felsen gelehnt, die Zigarette so salopp im Mundwinkel wie nur je einer der damaligen Filmhelden. Wenn ich diese Fotografie heute betrachte, fällt mir nicht nur ein, dass auch andere vor mir Peter Huchel gern als Dichter und Mann wahrnahmen, so etwa Willy Haas, der in der Literarischen Welt des Rowohlt Verlags Mitte der zwanziger Jahre erste Gedichte Huchels druckte und ihn dort als »schönen muskulösen Mann mit den Augen eines Dichters« vorstellte, oder Hans Mayer (einer der emsigsten Mitarbeiter von Sinn und Form, der Huchels »schönes Bauerngesicht« rühmte, es fällt mir auch ein, dass Huchel selbst zu einer Zeit, in der der Begriff Schönheit fast verpönt war – man denke nur an die unselige »Kahlschlag«-Devise der Gruppe 47 –, ganz ungeniert das Wort schön im Munde führte, zumal wenn Weiblichkeit ins Spiel kam. »Grüß Deine schöne Frau«, so verabschiedete er sich regelmäßig von mir, wenn es mir gelungen war, wieder einmal illegal – illegal nach DDR-Gesetz – kurz vor Berlin von der Interzonen-Autobahn abzuweichen, um den im eigenen Land Exilierten im Hubertusweg in Potsdam-Wilhelmshorst zu besuchen, dort, wo sein Nachbar die Autonummern der Besucher Huchels für die Stasi notierte [im todtraurigen Gedicht »Hubertusweg« hat Huchel ihn und seine Schande verewigt]).
In diesem Gedicht heißt es auch:

Ich bin nicht gekommen,
das Dunkel aufzuwühlen.
Nicht streuen will ich vor die Schwelle
die Asche meiner Verse,
den Eintritt böser Geister zu bannen

Die DDR, die ihre bösen Geister im Hubertusweg mit verhängten SIM-Limousinen vorfahren ließ, wird hier so apostrophiert:

der Staat die Hacke,
das Volk die Distel

Huchel hat nicht nur das Bild vom Dichter »mit einer Distel im Mund« gefunden, es gibt auch ein »Unkraut« betiteltes Gedicht von ihm mit den Zeilen:

Willkommen sind Gäste,
die Unkraut lieben,
die nicht scheuen den Steinpfad,
vom Gras überwachsen.
Es kommen keine.

Die wenigen, die doch noch kamen, vermochten kaum seine Einsamkeit zu lindern; nur noch die Naturerscheinungen oder die Dinge boten ihm verlässliche Gesellschaft, wie es sein Gedicht »Exil« sagt, das so anhebt:

Am Abend nahen die Freunde,
die Schatten der Hügel

Sollten diese Schatten die einzigen Freunde sein? Der Fortgang des Gedichts bestätigt die Vermutung:

Sie treten langsam über die Schwelle,
Verdunkeln das Salz,
Verdunkeln das Brot
Und führen Gespräche mit meinem Schweigen

Später wird in diesem »Exil«-Gedicht noch jemand als »meine Schwester« angesprochen, doch auch diese entpuppt sich als nichts Menschliches:

Meine Schwester, das Regenwasser

Und nun beginnen diese Schatten und diese Dinge immer eindringlicher mit dem Vereinsamten, dem Schweigenden zu sprechen: »Geh mit dem Wind, / Sagen die Schatten«, doch der Stein erhebt eine Gegenstimme:

Sei getreu, sagt der Stein

Wem getreu, wenn alle Getreuen verschwunden sind und man niemand mehr trauen kann? Wem getreu? Dem Schweigen? Dem Schmerz? Jenem Schmerz, von dem Huchels Gedicht »Verona« weiß:

In der Mitte der Dinge die Trauer?

Trauer dominiert von allem Anfang an Peter Huchels Lyrik, auch wenn ihr Klang so betörend schön ist wie in den frühen gereimten Strophen, die von seiner Kindheit in der Mark künden, und selbst wenn sie die Behütetheit preisen, die eine Magd auf dem großväterlichen Gutshof dem Kinde bot – wobei diese Magd zur Magd schlechthin, zu einer mythischen Figur wird –, immer haben diese Gedichte einen dunklen Trauerrand:

Die Magd ist mehr als Mutter noch.
Sie kocht mir Brei im Kachelloch.

Wenn sie mich kämmt, den Brei durchsiebt,
die Kruke heiß ins Bett mir schiebt,
schlägt laut mein Herz und ist bewohnt
ganz von der Magd im vollen Mond.

Sie wärmt mein Hemd, küßt mein Gesicht
und strickt weiß im Petroleumlicht.
Ihr Strickzeug klirrt und blitzt dabei,
sie murmelt leis Wahrsagerei.

Im Stroh die schwarzen Hähne krähn.
Im Tischkreis Salz und Brot verwehn.
Der Docht verraucht, die Uhr schlägt alt.
Und rehbraun rauscht im Schlaf der Wald.

Die Schönheit von Huchels Poesie ist stets gepaart mit Schwermut, Schwermut bildet den Urgrund, den Humus dieser Lyrik. Ich wähle diese Humus-Metapher mit Bedacht, gibt es doch mit der einen und einzigartigen Ausnahme von Gertrud Kolmar, der von den Nazis ermordeten Dichterin, keine andere lyrische Stimme aus Huchels Generation, bei der das Tellurische so stark ausgeprägt ist wie beim frühen Huchel (nicht von ungefähr hat übrigens Huchel in einem der ersten Hefte von Sinn und Form Gedichte aus dem Nachlass von Gertrud Kolmar gedruckt, einem Nachlass, den niemand anderer über den Krieg gerettet hat als die als ›rote Hilde‹ gefürchtete erste Justizministerin der DDR, Hilde Benjamin, Witwe des ebenfalls von den Nazis ermordeten Bruders von Walter Benjamin – so verrückt spielt deutsche Geschichte).

Peter Huchels Lyrik wird gern der sogenannten naturmagischen Schule zugeschlagen, wie sie Ende der zwanziger Jahre mit Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann, mit Elisabeth Langgässer und Oda Schäfer, mit Günter Eich und Horst Lange auf den Plan trat. Doch in Wahrheit verbindet sie wenig mit dieser, und man versteht, warum Wilhelm Lehmann mit dem Nachweis der mangelnden botanischen Exaktheit Huchels dessen Lyrik so vehement ablehnte. Tatsächlich erscheint Natur bei Huchel nie als Natur an sich, sie ist ihm nicht die Welt, sondern die Umwelt, sie ist, wie Peter Wapnewski es mit Blick auf Huchels späte Lyrik ausgedrückt hat, »nicht Kulisse der Stimmung, sondern Materie der Entsprechung«. Vor allem aber ist Natur bei Huchel, worauf er selbst mehrfach hingewiesen hat, stets eine von Menschen bewohnte, von Menschen bearbeitete Natur, neben dem elementar-dämonischen also auch ein geschichtlicher – genauer: sozialgeschichtlicher Raum. Durs Grünbein hat in seiner Dankrede für den ihm verliehenen Peter-Huchel-Preis gesagt:

In Huchels Gedichten hat Landschaft, ein Schilfdickicht oder ein Birkenwäldchen, sehr oft das Bedrohliche eines Tatorts. Nicht ausgeschlossen, dass dort, hinter dem Weidengebüsch, erst gestern ein Fememord geschah, und übermorgen folgt ihm vielleicht ein Krieg.

Aber es ist nicht nur der Krieg der Menschen gegen Menschen, der in der Natur seine Spuren hinterlässt, vielmehr ist die Natur selbst bei Huchel in permanentem Kriegszustand, ist Fressen und Gefressenwerden.

Peter Huchel wurde bereits als Vierjähriger wegen Erkrankung seiner Mutter auf den Gutshof seines Großvaters im märkischen Langerwisch gegeben, wo er dann jenen armen und völlig entrechteten Menschen begegnete, die seine frühe Lyrik bevölkern: Knechte, Mägde, Schnitter, Kesselflicker, Ziegelstreicher, Kiepenflechter, Fischer, Bettler, Zigeuner. Ich frage mich, warum in allen noch so gescheiten Abhandlungen, die ich je über Peter Huchel gelesen habe, ein Wesenszug von ihm hartnäckig übersehen oder unterschlagen wird, nämlich der des zornigen Empörers, der soziales Elend anklagt: »O Feuer der Erde, / mein Herz hält andere Glut. / Acker um Acker mähte ich, / kein Halm war mein eigen«, so heißt es im Gedicht »Der polnische Schnitter«. Und im Gedicht »Die Hirtenstrophe« begegnen wir einer Schar Hirten, die von dem neugeborenen Messias in Bethlehem Recht für sich einfordern:

Wir hatten nichts als unsern Stock,
kein Schaf, kein eigen Land,
geflickt und fasrig war der Rock,
nachts keine warme Wand.

Wir standen scheu und stummen Munds:
Die Hirten, Kind, sind hier.
Und beteten und wünschten uns
Gerät und Pflug und Stier.

Und standen lang und schluckten Zorn,
weil uns das Kind nicht sah.
Griff nicht das Kind dem Ochs ans Horn
und lag dem Esel nah?

Es brannte ab der Span aus Kien.
Das Kind schrie und schlief ein.
Wir rührten uns, feldein zu ziehn.
Wie waren wir allein!

Daß diese Welt nun besser wird,
so sprach der Mann der Frau,
für Zimmermann und Knecht und Hirt,
das wisse er genau.

Ungläubig hörten wirs – doch gern.
Viel Jammer trug die Welt.
Es schneite stark. Und ohne Stern
ging es durch Busch und Feld.

Gras, Vogel, Lamm und Netz und Hecht,
Gott gab es uns zu Lehn.
Die Erde aufgeteilt gerecht,
wir hättens gern gesehn.

Wenn 1968 ein so erzkonservativer Kritiker wie Hans Egon Holthusen Huchel ein »erzkonservatives Muster des Weltverstehens« bescheinigte, so kann er unmöglich Gedichte gelesen haben wie Huchels bereits 1927 in Straßburg geschriebenes Lenz-Gedicht, in dem das große Grauen über das menschliche Elend und die Kälte auf Erden mit wahrhaft Büchner’scher Wucht zum Ausdruck kommt, oder das ein Jahr später in Paris geschriebene Gedicht »Cimetière«, in dem Huchel einer Bettlerin am Friedhof Montparnasse dieses Denkmal setzt:

Weißhaarige Alte, die an der Ecke
wie eine Straßenheilige stand,
über den Schultern die löchrige Decke,
bettelnd gekrümmt die gichtige Hand,
mußt du auch hier ein Obdach suchen?
Teuer sind Grabstein, Gitter und Grund.
Und die Toten würden noch fluchen,
füllte nicht Erde den zahnlosen Mund.

Solle es wirklich ein »erzkonservatives Muster des Weltverstehens« gewesen sein, das Huchel veranlasste, sich nach 1945 zuerst von den Sowjets zum künstlerischen Direktor des Berliner Rundfunks machen zu lassen und bald darauf seinen Wohnsitz vom Westen in den Osten der Stadt zu verlegen, dorthin also, wo auch Bertolt Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig, Ernst Bloch, Hans Mayer, John Heartfield, Werner Krauss und so viele andere, die einst aus Deutschland vertrieben wurden, nun hinzogen, um am Aufbau eines besseren, eines sozialistischen Deutschland mitzuwirken? Wie leicht ist es heute zu sagen, dass sie alle damals in jene Falle liefen, die man Antifaschismusfalle nennen könnte. Doch damals schrieb einer wie Peter Huchel, der zum Opportunismus gänzlich unbegabt war, nicht nur Gedichte auf Lenin und Mao Tse-tung, sondern sogar auf Wilhelm Pieck, und es war keine Pflichtübung der Grund für sein großes Poem »Das Gesetz«, in dem er die damalige Bodenreform in der DDR pries, im Glauben, nun endlich kämen die Entrechteten, deren Los ihn auf dem großväterlichen Gutshof einst so empört hatte, zu ihrem Recht:

O Gesetz
mit dem Pflug in den Acker eingeschrieben,
mit dem Beil in die Bäume gekerbt!
Gesetz, das das Siegel der Herren zerbrochen,
zerrissen ihr Testament!…
So legt den neuen Grund!
Volk der Chausseen,
zertrümmerter Trecks!
Reißt um den Grenzstein des Guts!
Deine Pfähle schlag ein,
ackersuchendes Volk!

Peter Huchel hat sein Poem »Das Gesetz« 1950 zwar auszugsweise in Sinn und Form vorgestellt, später aber in keinen seiner Gedichtbände aufgenommen, weil dessen Pathos angesichts der Entwicklung in der DDR, die über alle seine Hoffnungen brutal hinwegging, nur noch hohl erscheinen musste.

Sosehr Huchels frühe Empörung nach 1945 seine Hoffnungen genährt hatte, so sehr nährte schon bald danach die Enttäuschung seinen Zorn, der dann mehr und mehr purer Resignation wich. Huchel, der über zwei Jahrzehnte lang der DDR das beste kulturelle Aushängeschild neben Brechts Berliner Ensemble lieferte, die Zeitschrift Sinn und Form, in der so viele Kapitel aus Ernst Blochs Prinzip Hoffnung zum Vorabdruck kamen, Huchel schrieb jetzt Gedichte, die mit Titeln wie »An taube Ohren der Geschlechter«, »Winterpsalm«, »Traum im Tellereisen«, »Unter der Wurzel der Distel« oder »Exil« alle die Richtung in jene Landschaft signalisieren, die der junge Gottfried Keller vor sich sah, als er bei der Arbeit am Grünen Heinrich auf das Löschblatt notierte:

Resignatio ist keine schöne Landschaft.

Es sind Gedichte, denen man anmerkt, dass sie mühsam dem Schweigen abgetrotzt wurden, Gedichte, in denen – wie in dem »Winterpsalm« überschriebenen – Eisesstarre und Finsternis herrschen:

Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stumme Angst.
Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht.

Ich stand auf der Brücke,
Allein vor der trägen Kälte des Himmels.
Atmet noch schwach,
Durch die Kehle des Schilfrohrs,
Der vereiste Fluß?

Die Frage, mit der das Gedicht endet, fand keine Antwort. Huchel litt nicht nur unter der eigenen Ohnmacht, sondern auch noch unter der seiner Feinde, etwa jenes Richters, der ihn verurteilte, weil er nicht bereit war, für die Zwangsräumung seines SINN-UND-FORMArchivs auch noch die Kosten zu bezahlen. »Ich blickte ihn an / und sah seine Ohnmacht. / Die Kälte schnitt in meine Zähne«, so endet Huchels Gedicht »Das Gericht«.

In der späten Lyrik Huchels begegnen uns nicht mehr die Mägde, Schnitter oder Hirten seiner Jugend, sondern die klagend-anklagenden Dulderfiguren aus Mythos und Literatur: Hiob, Odysseus, König Lear, mit dem Huchel sich in seinem wahrscheinlich letzten Gedicht identifiziert:

Unter dem Steinbruch
kommt er herauf,
den Jodlappen
um die rechte Hand gewickelt.

In elenden Dörfern
schlug er Knüppelholz
für seine Linsensuppe.

Jetzt kehrt er
im dürren Schatten
zerrissener Wolken
zu seiner Krone
in die Schlucht zurück.

Zuletzt, 1971, wurde Huchel nach jahrelangen entsetzlich entwürdigenden Eingaben und Kämpfen noch die Ausreise aus der DDR erlaubt, aber das Glücksversprechen des ›freien Westens‹ konnte schon deshalb nicht eingelöst werden, weil er hier als gebrochener Mann ankam, der sich von seinen märkischen Wurzeln nicht mehr lösen konnte noch wollte. Am Abend seiner Ausreise in den Westen war er mit seiner Frau Monica und seinem Sohn Stephan in meiner damaligen Münchner Wohnung in der Leopoldstraße zu Gast (dort, wo einst die Geschwister Scholl ihre Flugblätter gedruckt hatten). Ich erinnere mich schmerzlich an seinen Ausdruck der Abwesenheit und Verwirrtheit. Irgendwann an diesem Abend rief noch Heinrich Böll an: Wohin er Geld für Huchel überweisen könne…

Huchel ging dann mit seiner Familie nach Italien, nach Rom, wo er gerne geblieben wäre, aber die Verhältnisse erlaubten es nicht, und so bezog er das von ihm wenig geliebte Haus eines Mäzens in Staufen bei Freiburg im Breisgau, wo sein Sohn Stephan endlich Orientalistik studieren konnte. Zunächst reiste er noch viel, viel zu viel, aber er lebte schließlich von Lesungen – und von Preisen, die reichlich auf ihn niedergingen, unter denen aber nicht der Büchner-Preis, sondern nur der Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung war, zu ihrer Schande sei es gesagt; schließlich war Büchner einer der Hausgötter Huchels und Büchners Lenz hat der junge Huchel 1933 ein Prosastück gewidmet, das nicht nur sein stärkstes Prosastück überhaupt ist, sondern sich auch neben dem Lenz von Georg Büchner behaupten kann; es endet so:

Die Stille beunruhigt ihn, sie liegt wie Watte in den Ohren, er weiß, dass in Wirklichkeit die Luft von Schreien widerhallt.

Peter Huchels Sterben dauerte ein und ein halbes Jahr. »Es war der langsame und furchtbare Zerfall eines schönen, bedeutenden Menschen«, so lese ich in Ulrike Edschmids biografischem Essay über Monica Huchel. Der Tod kam am 30. April 1981. Im eingangs zitierten autobiografischen Prosatext »Europa neunzehnhunderttraurig« hat Peter Huchel das Schicksal des Unzeitgemäßen und Unversöhnten, der er war, in einem Satz zusammengefasst:

Er ist schon zu spät auf die Welt gekommen: er wird nie zur Zeit kommen.

Peter Hamm, aus Peter Hamm: Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Aufsätze und Kritiken, herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Krüger, Wallstein Verlag, 2021

Nachrufe
Franz Kalterbräu: Peter Huchel ist tot
Frankfurter Rundschau, 7.5.1981

Karl Krolow: Apokalyptische Landschaft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1981

Albert von Schirnding: In der Mitte der Dinge die Trauer
Süddeutsche Zeitung, 8.5.1981

Bruno Bolliger: Unbekümmert geht der Fremde davon
Neue Zürcher Zeitung, 9./10.5.1981

Stephan Hermlin: Aber wir sind doch Brüder…
Die Zeit, 15.5.1981

Wolfgang Kopplin: Nachruf. Der große Peter Huchel
Bayernkurier, 16.5.1981

Hans Dieter Schmidt: „Der Fremde geht davon…“. Erinnerungen an den Dichter Peter Huchel
Rhein-Neckar-Zeitung, 16./17.5.1981

Klaus Sauer: Eine deutsche Passion
Deutschland Archiv, Heft 6, 1981

Stefan Welzk: „Überdrüssig der Götter und ihrer Feuer“
Frankfurter Hefte, Heft 8, 1981

Axel Vieregg: Nachruf auf Peter Huchel
Neue Deutsche Hefte, Heft 3, 1981

Gedenktage

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Peter Hamm: „Sei getreu, sagt der Stein“. Zum 70. Geburtstag Peter Huchels
Süddeutsche Zeitung, 3.4.1973

Karl Krolow: Ein Mann, der Gesichte hat. Peter Huchel zum 70
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 3.4.1973

Olof Lagercrantz: Ein deutscher Dichter. Peter Huchel zum siebzigsten Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1973

Helmut Mader: Mottos zu einem Leben. Peter Huchel wird siebzig Jahre alt
Stuttgarter Zeitung, 3.4.1973

Ellen Kayser: Peter Huchel wird am 3. April 70 Jahre alt
Die Tat, 31.3.1973

hvg: Vom Unkraut eines Dichters
Freiburger Nachrichten, 31.3.1973

 

Zum 10. Todestag des Autors:

Thea Samain: Testament an den Balken genagelt
Neue Zeit, 30.4.1991

 

Zum 81. Geburtstag des Autors:

Hans Mayer: Schneenarben. Schriftzeichen.
Die Zeit, 6.4.1984

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Alexander Kluy: Der große Hof des Gedächtnisses
Berliner Zeitung, 29.3.2003

Sebastian Kiefer: Der Naturmagier als sozialistischer Funktionär
Neue Rundschau, Heft 1, 2003

Lutz Seiler: Im Kieferngewölbe
Sinn und Form, Heft 2, 2003

Klaus Bellin: „Aufs tote Gleis rangiert“
Neues Deutschland, 3.4.2003

Helmut Böttiger: Kindheitsträume und Diktaturdrangsal
Stuttgarter Zeitung, 3.4.2003

Christian Egger: Auf den Feldern der Kindheit
Mitteldeutsche Zeitung, 3.4.2003

Uwe Pörksen: Der Widerstand gegen die Lüge
Badische Zeitung, 3.4.2003

Steffen Richter: Mit dem Pflug in den Acker geschrieben
Frankfurter Rundschau, 3.4.2003

Michael Braun: „Unter der blanken Hacke des Monds werde ich sterben“
Basler Zeitung, 4.4.2003

Christian Bergmann: ZAUBER EINER WORTKUNST – bewundert und verfemt
Ostragehege, Heft 28, 2002

Peter Hamm: „In der Mitte der Dinge die Trauer“
Manuskript