Abschied von Peter Huchel
Am Morgen dieses Tages hatte ich lange, intensiv an ihn gedacht. Daran war nichts Besonderes, seit Jahren, seit Jahrzehnten dachte ich plötzlich an ihn, nachdem ich ihm tage- und wochenlang keinen Gedanken gewidmet hatte. Ein wenig später an jenem Tage hörte ich im Rundfunk die Nachricht, Peter Huchel sei bereits am 30. April gestorben. Vor wenigen Wochen hatte mich sein Stiefsohn, ein vorzüglicher Porträtphotograph, aufgesucht und mir ein neues Photo von Huchel mitgebracht. Ich stellte es auf ein Bücherbrett in meiner Nähe. So viele Jahre hatte ich ihn nicht gesehen. Da war immer noch das dunkle Auge, die skeptische Ruhe des Blicks, aber nun auch eine Ermüdung, ein unaufhaltsames Sichentfernen. So steht es also mit dir, dachte ich. Er war achtundsiebzig Jahre alt, zwölf Jahre älter als ich.
Ich durfte mich einen seiner frühesten Leser nennen. Ich war zwölf Jahre alt, als ich mit meinem Taschengeld die Literarische Welt abonnierte. Ich fand dort, neben vielem anderen, Gedichte eines jungen Mannes, den ich sogleich zu einem meiner Lieblingsdichter ernannte. Von diesem Augenblick an durchforstete ich Zeitungen und Zeitschriften nach seinem Namen, den ich selten genug fand. Huchel schrieb wenig, darin änderte er sich nicht. Viel später erst erfuhr ich, wie langsam, wie vorsichtig er an seinen Gedichten arbeitete, die von Tages- und Jahreszeiten handelten, von bäurischen Menschen, von Tieren und Gewächsen in der Landschaft, die sich um Berlin hinbreitete, in der Mark. Prüft man die Gedichte eines nach dem anderen, von den Erstveröffentlichungen bis heute – ich vermute, dieses Lebenswerk würde einen Band von etwa zweihundert Seiten füllen –, so findet man in ihnen keine schwache Stelle, kein falsches Wort, es sind vollkommene Gebilde, keiner Mode unterworfen, alterslos.
Auch damals, nachdem ich aus Deutschland weggefahren war, dachte ich oft, unvermittelt an ihn. Das konnte während eines Bombardements sein, nachts auf der Pritsche eines Lagers. Ich kannte ihn nicht, ich wußte nicht einmal, wie er aussah. Ich kannte nur Gedichte von ihm, es mögen damals zwanzig oder fünfundzwanzig gewesen sein. »Was mag dieser Peter Huchel in diesem Augenblick machen«, dachte ich, »es kann nicht sein, daß er bei den Nazis ist.« Er lebte dort, aber er war nicht bei ihnen.
Später, nach dem Krieg, ich wohnte noch in Frankfurt am Main, wurde ich zu einem Schriftstellerkongreß nach Berlin eingeladen. In Berlin sagte man mir, ich solle zum Rundfunk fahren, in die Masurenallee, dort sei jemand, der Wert auf eine Sendung meiner Gedichte lege. In dem angegebenen Zimmer teilte mir eine Sekretärin mit, Direktor Huchel würde gleich kommen. Der Name machte mich nachdenklich, ich sagte nichts, die Sekretärin erwähnte den Namen noch ein-, zweimal, ich fragte, ob es sich um den Dichter Peter Huchel handele. Nach ihrer Kenntnis, antwortete die Sekretärin freundlich, schreibe Direktor Huchel gelegentlich Gedichte.
Huchel trat ein, wir gerieten sofort in ein langes Gespräch, Menschen kamen und gingen wieder hinaus, ich nahm eigentlich nichts wahr, außer dem, was er mir erzählte, was ich ihm erzählte, ich sagte ihm, sein Name sei mir länger als fünfzehn Jahre vertraut, wir zogen uns in eine Ecke des Zimmers zurück, wir sprachen länger als eine Stunde miteinander, ein Daheimgebliebener und ein Emigrant, es war die glücklichste Stunde seit meiner Rückkehr nach Deutschland. Schließlich unterbrach man uns. Es sei nun wirklich Zeit für meine Sendung, sagte jemand; übrigens habe man unser ganzes Gespräch ohne unser Wissen auf Band aufgenommen.
Ein paar Wochen später siedelte ich nach Berlin über, jetzt sahen wir uns oft, wir wechselten Briefe. Als bald darauf die Zeitschrift Sinn und Form von Johannes R. Becher und Paul Wiegler gegründet wurde, übernahm Huchel ihre Leitung. Ich war unter denen, deren Mitarbeit er forderte. Mein erster Beitrag stand im zweiten Heft. Das war 1949; von den Autoren dieses Heftes sind noch drei am Leben: Anna Seghers, André Chamson und ich. In den folgenden Jahren sprachen wir oft über
Sinn und Form – Huchel wußte, daß ich vieles kannte, was damals noch nicht nach Deutschland gelangt war. Das traf nicht nur auf mich zu. Er machte aus einigen Leuten, zu denen ich gehörte, einen Beirat, der für die Zeitschrift nützlich sein konnte. Als man Ende 1962 Huchel als Chefredakteur absetzte, trat ich aus dem Beirat aus. Mein Name stand, unter dem seinen, zum letzten Mal im Redaktionsvermerk im letzten Heft des Jahres 1962. Eine bittere, für die Verantwortlichen beschämende Epoche begann. Ich will nicht über das reden, was man Huchel antat; er selbst hat es berichtet. In einer Zeitung schrieb jemand, den ich kannte, Dichter wie diesen Huchel gäbe es in der Deutschen Demokratischen Republik zu Dutzenden.
Ich war oft bei ihm in Wilhelmshorst gewesen, mit Hans Mayer und Erich Arendt, mit Ingeborg Bachmann, mit anderen, aber meistens allein. Es ist lange her. Ich war in diesen Jahren ein leidenschaftlicher Jäger, ich jagte in der Gegend um den Kleinen Seddinsee, fuhr nachts mit dem Wagen hinaus und erwartete am Waldrand den Sonnenaufgang. Am späten Vormittag erreichte ich in ein paar Minuten Wilhelmshorst, wo mich Huchel bewirtete. Er liebte diese Gegend in der Nähe von Potsdam, wo die Höfe seiner Vorfahren gelegen hatten. Wir redeten lange von der Jagd, von den Bauern der Gegend, von Südfrankreich, wo er einige Zeit zugebracht hatte, von lateinamerikanischen Dichtern. Manchmal waren wir verschiedener Meinung; einmal sagte er mir in unvergeßlichem Ton und blickte mich dabei mit leisem Vorwurf an: »Aber wir sind doch Brüder…«
Er hatte immer nur Gedichte geschrieben, soviel ich weiß, ich kenne keine Seite Prosa von ihm, außer einer kleinen Rede. Ich hatte einen Preis erhalten, und zu meiner freudigen Überraschung war es Huchel, der die Laudatio sprach und sie dann in einer Zeitschrift veröffentlichte. Wenn ich daran zurückdenke, empfinde ich diese kurze Rede als eine der ganz seltenen Auszeichnungen, die einem im Leben zuteil werden können. Nicht ohne Verlegenheit durchlebe ich noch einmal einen Augenblick des Zuspruchs, der die Versicherung enthielt, man sei nicht umsonst hier gewesen. Aber gerade er, der mich geehrt hatte, tat mir später Unrecht, und gerade zu einer Zeit, da ich seiner Hilfe besonders bedurfte.
Vielleicht bedurfte er auch der meinen, aber auf unbegreifliche Weise war eine Freundschaft zerbrochen, die fest gegründet schien. Gemeinsame Freunde suchten uns zusammenzuführen, es fruchtete nichts. In bitteren Momenten erwachte in mir die Vermutung, sein Verhalten mir gegenüber sei nur die Fortsetzung dessen, was ich in diesem Land in fünfzig Jahren erfahren hatte. Es kam vor, daß ich ihn solcher Vermutungen wegen entsetzt und lautlos um Verzeihung bat. Ich hörte in mir seine Stimme: »Aber wir sind doch Brüder…« Ein-, zweimal überbrachte mir jemand seine Grüße. Ich wartete auf ein anderes Zeichen. Vor einiger Zeit kam ich in seine Gegend. Jemand sagte mir: »Fahren Sie doch nach Staufen. Huchel würde sich freuen.« Aber ich fuhr nicht nach Staufen.
Jetzt, da ich ihm ins Nichts nachschaue, finde ich keinen Rest des langen, sinnlosen Grolls mehr in mir. Seine Gedichte liegen auf meinem Tisch. Mein Freund, mein unvergleichlicher Dichter ist tot. Adieu.
Stephan Hermlin, Die Zeit, 15.5.1981
Lebenslauf
Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLG + Archiv + Internet Archive + Kalliope + DAS&D + Orden Pour le mérite
Porträtgalerie
Lesung
Nachrufe
Franz Kalterbräu: Peter Huchel ist tot
Frankfurter Rundschau, 7.5.1981
Karl Krolow: Apokalyptische Landschaft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1981
Albert von Schirnding: In der Mitte der Dinge die Trauer
Süddeutsche Zeitung, 8.5.1981
Bruno Bolliger: Unbekümmert geht der Fremde davon
Neue Zürcher Zeitung, 9./10.5.1981
Stephan Hermlin: Aber wir sind doch Brüder…
Die Zeit, 15.5.1981
Wolfgang Kopplin: Nachruf. Der große Peter Huchel
Bayernkurier, 16.5.1981
Hans Dieter Schmidt: „Der Fremde geht davon…“. Erinnerungen an den Dichter Peter Huchel
Rhein-Neckar-Zeitung, 16./17.5.1981
Klaus Sauer: Eine deutsche Passion
Deutschland Archiv, Heft 6, 1981
Stefan Welzk: „Überdrüssig der Götter und ihrer Feuer“
Frankfurter Hefte, Heft 8, 1981
Axel Vieregg: Nachruf auf Peter Huchel
Neue Deutsche Hefte, Heft 3, 1981
Gedenktage
Zum 70. Geburtstag des Autors:
Peter Hamm: „Sei getreu, sagt der Stein“. Zum 70. Geburtstag Peter Huchels
Süddeutsche Zeitung, 3.4.1973
Karl Krolow: Ein Mann, der Gesichte hat. Peter Huchel zum 70
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Olof Lagercrantz: Ein deutscher Dichter. Peter Huchel zum siebzigsten Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Helmut Mader: Mottos zu einem Leben. Peter Huchel wird siebzig Jahre alt
Stuttgarter Zeitung, 3.4.1973
Ellen Kayser: Peter Huchel wird am 3. April 70 Jahre alt
Die Tat, 31.3.1973
hvg: Vom Unkraut eines Dichters
Freiburger Nachrichten, 31.3.1973
Zum 10. Todestag des Autors:
Thea Samain: Testament an den Balken genagelt
Neue Zeit, 30.4.1991
Zum 81. Geburtstag des Autors:
Hans Mayer: Schneenarben. Schriftzeichen.
Die Zeit, 6.4.1984
Zum 100. Geburtstag des Autors:
Alexander Kluy: Der große Hof des Gedächtnisses
Berliner Zeitung, 29.3.2003
Sebastian Kiefer: Der Naturmagier als sozialistischer Funktionär
Neue Rundschau, Heft 1, 2003
Lutz Seiler: Im Kieferngewölbe
Sinn und Form, Heft 2, 2003
Klaus Bellin: „Aufs tote Gleis rangiert“
Neues Deutschland, 3.4.2003
Helmut Böttiger: Kindheitsträume und Diktaturdrangsal
Stuttgarter Zeitung, 3.4.2003
Christian Egger: Auf den Feldern der Kindheit
Mitteldeutsche Zeitung, 3.4.2003
Uwe Pörksen: Der Widerstand gegen die Lüge
Badische Zeitung, 3.4.2003
Steffen Richter: Mit dem Pflug in den Acker geschrieben
Frankfurter Rundschau, 3.4.2003
Michael Braun: „Unter der blanken Hacke des Monds werde ich sterben“
Basler Zeitung, 4.4.2003
Christian Bergmann: ZAUBER EINER WORTKUNST – bewundert und verfemt
Ostragehege, Heft 28, 2002