Härtlingsfächer,
der (Alleskleber, Witwentrost, Schlaue Glucke, Immer-zur-Sonne) zweijährig. Familie der Dulzineen. Zierblume mit Nährwert.
Blüten rosarot mit kanariengelben Streifen. Blätter gefiedert und klebrig. Fallen für Eintagsfliegen. Reichblütige Traube auf biegsamem, hastigem Stengel.
Der Name Härtlingfächer rührt von der Fähigkeit der Pflanze her, in der Sonne der Öffentlichkeit die Blätter zu spreizen. Sie werden deswegen gern gesammelt und als erotisches Stimulans mißverstanden.
Wächst in kultivierten Gegenden aus allen Zeiten, in Parks, Gärten, Schrebergärten, Blumentöpfen und in Nähkästchen der Biedermeierzeit, vor allem jedoch im Bildungsmüll, aus dem die Pflanze die anmutigsten, bestverkäuflichen Blüten zieht. Sie verwandelt den rebellischsten Boden in idyllische Flecken, von denen aus das Weltgeschehen wie eine Feuilletonseite aussieht. Die saftigen Blätter des Härtlingfächers geben ein vorzügliches Bildungsfutter ab, das sich leicht und gewinnbringend verdauen läßt. In großen Mengen genossen erregt es jedoch Blähungen, in denen sich Selbstverständlichkeiten besonders lautstark ankündigen. Gerade dies gibt der Pflanze eine eminent politische Bedeutung. So schreibt Dieter Lattmann in seinem botanischen Lehrbuch ›Zwischen zwei Stühlen‹: »Fast muß ich den Härtlingfächer beneiden. Er nimmt der Wahl die Qual.«
Aus den Wurzeln wird ein Öl gepreßt, das die Glieder selbst für das Verlassen durch allzu enge Hintertürchen geschmeidig macht. Marcel Reich-Ranicki bemerkt in seinem grundsätzlichen Werk ›Kraut und Unkraut‹: (1975): »Chemische Untersuchungen haben ergeben, daß in dem Härtlingfächer nichts als die üblichen Pflanzenfette enthalten sind, die sich lediglich zur Herstellung von Margarine und von Massageöl eignen.«
Versuche, aus den bastreichen Stengeln Borsalinohüte zu pressen, scheiterten, weil diese sich als nicht sehr wetterfest erwiesen und sich allzuleicht anpaßten. Der Härtlingfächer besitzt eine hervorragende Mimikryfähigkeit. Wo er einmal Wurzel gefaßt hat, dominiert er sehr bald, ohne daß man ihn von andern Pflanzen unterscheiden könnte.
In Schwaben klebt man seine sehr gefälligen Blätter an die Fensterscheiben, um sich auf diese Art und Weise den Horizont zu verkleinern. Es lebt sich dann wie hinter Butzenscheiben.
Fritz Schönborn aus Deutsche Dichterflora, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983
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