Das Universum in uns

Das Universum in uns

– Schock und Beschwichtigung: Zum Tod des Lyrikers Paulus Böhmer. –

Ein Gedichtband von Paulus Böhmer trägt den Titel Wäre ich unsterblich. Der titelgebende Vers lautet in Gänze „Wäre ich unsterblich, könnte ich leben?“ und fasst in Worte, worum diese Dichtung unablässig kreist: Leben und Tod, Ordnung und Zerfall. Mit »Kaddish« überschrieb der 1936 geborene Böhmer, der Anfang der sechziger Jahren mit dem Schreiben begonnen hatte, seine späteren, rhythmisierten, großteils ungereimten, zitat- und anspielungsreichen Langgedichte, die zunächst sukzessive, später gesammelt in zwei Bänden Kaddish I–X (2002) und Kaddish XI bis XXI (2007) beim Frankfurter Schöffling-Verlag erschienen sind.

Die Überschrift, die häufig innerhalb der Gedichte wie ein Ruf wiederholt wird, spielt einerseits auf das Kaddisch an, das, ursprünglich ein Lobpreis Gottes am Ende des Torastudiums, seit dem Mittelalter von gläubigen Juden zum Gedächtnis der Toten gesprochen wird. Andererseits wird in der anglisierten Schreibweise »Kaddish« die für Böhmers Lyrik wichtige amerikanische Beat Poetry aufgerufen, unter anderem vertreten durch Allen Ginsberg, der mit dem eigenen Gedicht »Kaddish« auf den Tod seiner Mutter den religiösen Gehalt des Kaddischs umdeutete, ja zertrümmerte.

Paulus Böhmers Dichtung ist von diesen beiden Aspekten her zu lesen. Sie unternimmt das gigantische Unterfangen, ein umspannendes lyrisches Weltarchiv anzulegen. Kaum ein Wort, kaum ein Bild ist diesen Versen zu groß, zu klein, zu entsetzlich, zu entzückend. Die bedichteten Lebenden und Toten können bekannte Namen tragen, wie etwa »Walter Höllerer«, ein früher Förderer des Autors, daneben stehen Unbekannte oder Marginalisierte wie die »Säufer vom Frankfurter Allerheiligentor« oder mythologische literarische Figuren. Durch fortwährende Kontrastierung von Endlichkeit und Ewigkeit (»In uns / ein stetes Entstehen und Vergehen von winzigen Bläschen, / das gesamte Universum, nicht ein Atom weniger und nicht ein Atom mehr, mitten in uns«) entsteht ein Kosmos, dessen wunderbare und abstoßende Ausprägungen gleichermaßen lockend leuchten.

Momente des Schocks und der Beschwichtigung, der Materialität und Spiritualität sind so schnell hintereinander geschnitten, dass die Bilder sich im unablässigen sprachlichen Rausch gegenseitig aufzuheben scheinen. Die Dichtung Böhmers in ihrer prinzipiellen Unabschließbarkeit erlangt Gültigkeit auch dadurch, dass hier eine einzelne Stimme, die unter historischen Katastrophen und medialem Stimmengewirr zu ersticken droht, wie zum Trotz ihre Einzigartigkeit, Kreatürlichkeit und schöpferische Kraft so zweifelnd wie entschieden verteidigt.

Der in Berlin zur Welt gekommene Paulus Böhmer wurde 1943/44 mit der Mutter in ein oberhessisches Dorf evakuiert, nach abgebrochenem Jura-, Architektur- und Literaturstudien, einer Ausbildung zum Industriekaufmann, Stationen als Ziergraszüchter in einer Gärtnerei und als Werbetexter kam er schließlich in Frankfurt am Main an, wo die Literatur, die ihn schon über Jahre hinweg schreibend beschäftigt hatte, zum beruflichen Zentrum seines Lebens wurde. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Geschäftsführer des Hessischen Literaturbüros von 1985 bis 2001 wurde er zum leidenschaftlichen Literaturvermittler über Frankfurt hinaus; gemeinsam mit seiner Frau Lydia übersetzte er unter anderem Werke des israelischen Dichters Jehuda Amichai, während mit den »Kaddish«-Gedichten sein von der Kritik begeistert aufgenommenes lyrisches Hauptwerk stetig wuchs.

Nun muss man den Autor selbst in seine das Leben feiernde Totenklage einbeziehen, diesen stets empathisch wirkenden Mann mit der imposanten Erscheinung, der aus der Literaturszene viele Jahre lang einfach nicht wegzudenken war. Am vergangenen Mittwoch ist Paulus Böhmer, wie jetzt bekannt wurde, im Alter von 82 Jahren in Frankfurt gestorben.

Beate Tröger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.2018