
Das Gespräch mit den Toten
– Der Lyriker Paul Wühr zählte zu den grossen unkonventionellen Dichtern Deutschlands. Er schuf ein poetisches Werk voller Brüche. Im Alter von 89 Jahren ist er in Italien gestorben. –
Poesie ist draussen, daneben, dahinter, jedenfalls immer abseits.
Paul Wühr liess es in seinen »Wiener Vorlesungen zur Literatur« von 2002 nicht auf solchem Defaitismus beruhen. Vielmehr begründete er mit dieser Feststellung geradezu das Rebellentum der Dichtung. Die Poesie mag zwar im Abseits stehen, aber von dort aus zielt und trifft sie zuverlässig ins Innere des Daseins:
Immer wieder aber, zur unrechten Zeit, in keiner Stunde der Wahrheit, ungebeten, auch ohne Ausweispapiere, also ohne festen Wohnsitz bestimmt, ganz plötzlich stolpert sie durch, kauderwelscht sich auf inmitten streng überprüfter Antworten als die dumme Frage.
Das ist der Widerhaken der Dichtung: »die dumme Frage«.
Dumme Fragen hat er freilich unablässig gestellt in seinem umfangreichen Werk, das hauptsächlich Lyrik, doch auch Hörspiele und Romane umfasst. Und dumme Fragen hat er ebenso gefunden bei seinen Lieblingsautoren, bei der Günderode, bei Hamann oder Schelling. »Immer dieselben Bücher! Die sind alle zerfleddert, vollkommen durchgestrichelt«, sagte er in seinem »Selbstgespräch« mit Lucas Cejpek (2002). Er wurde auch darum nicht müde, in ihnen zu lesen, weil ihm das Dichten keine einsame Beschäftigung war. Er nahm am Schreibtisch teil an einem grossen Gespräch, das über alle Grenzen, auch und gerade über die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten hinweg geführt wurde.
Er forderte ein »poetisches Durcheinander« und hatte mit seinem Werk ein solches hervorgebracht: Tänzerisch zertrümmerte er Sinne und Zusammenhänge, frei liess er die Formen fliessen, an denen der Leser mitwirken, die er geradezu erst fertig schreiben musste. Das »Durcheinander« aber meinte noch mehr:
Die Toten sind auch in der Zukunft. Und von dort aus rufen sie zurück in unsere Gegenwart, und zwar bittend, flehentlich bittend: Erzählt uns!
Auf diese Weise schrieb Paul Wühr mit an dem weiten Geflecht der Dichtung. Er schuf mit Versen ein szenisches Werk, in dem nicht nur seine Vorsänger auftraten. Die Worte selber wurden zu lebendigen Figuren, die über diese Bühne wankten oder stampften. Immer im Abseits, immer unterwegs zwischen den Toten und den Lebenden. Nun ist Paul Wühr selber in die Zukunft gegangen, aus der er fortan rufen wird:
Erzählt uns!
Am 12. Juli ist er, zwei Tage nach seinem 89. Geburtstag, in Passignano am Trasimenischen See, wo er seit dreissig Jahren lebte, gestorben.
Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 14.7.2016
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Gedenktage
Zum 70. Geburtstag des Autors:
Bernhard Setzwein: „Poesie ist das Unerwartete“
Passauer Neue Presse, 27.6.1997
Angelika Overath: Kehraus der Poesie
Neue Zürcher Zeitung, 10.7.1997
Herbert Wiesner: Wider die Gewalt des Richtigen
Der Tagesspiegel, 10.7.1997
Sabine Kyora: falsches lesen. Zu Poesie und Poetik Paul Wührs. Festschrift zum 70. Geburtstag
Aisthesis, 1997
die horen, Heft 186, 2. Quartal 1997
Zum 75. Geburtstag des Autors:
Lutz Hagestedt: Große Gesänge auf München
Frankfurter Rundschau, 10. 7. 2002
Lutz Hagestedt: „Lesen heißt erleben, konkret mitmachen!“
Tages-Anzeiger, 10.7.2002
Zum 80. Geburtstag des Autors:
Peter von Becker: Der falsche Feminist
Der Tagesspiegel, 10.7.2007
Herbert Wiesner: Im Falschen wird die Angst enden
die horen, Heft 228, 4. Quartal 2007
Simone Dattenberger: Gegenmünchner Wühr
Münchner Merkur, 10.7.2007
Jörg Drews: Alle Horizonte offen
Süddeutsche Zeitung, 10.7.2007
Thomas Poiss: Der Gegenmünchner
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2007
Bernhard Setzwein: Ein besessener Bayer in Italien
Passauer Neue Presse, 10.7.2007
Sabine Kyora (Hg.): Im Fleisch der Poesie. Festschrift zum 80. Geburtstag von Paul Wühr
Aisthesis, 2007