Vielleicht war Paul Celan einmal ganz er selbst. Da spielte er die Dürrenmatts beim Tischtennis in Grund und Boden.
– Vor hundert Jahren wurde der Dichter in Czernowitz geboren, vor fünfzig Jahren starb er in Paris. Sein Leben und sein Werk sind bis heute ein Rätsel geblieben. –
Dass gerade diese Literatur des Schweigens von einem breiten Strom des Redens begleitet wird, gehört zum Nachruhm Paul Celans wie andere Paradoxien auch. Die berühmte »Todesfuge« ist auf dem besten Weg, zu Tode zitiert zu werden. Wer heute auf nicht allzu deutliche Weise Bedeutsames denken oder sagen will, greift zu Celan. Das nimmt seinen Gedichten nichts, aber dass Celans Hermetik und die interpretatorische Hermeneutik hier in letzter Zeit neu zusammengefunden hätten, kann man auch nicht sagen. Zum 50. Todestag im vergangenen Frühjahr sind ein paar Bücher über das Verhältnis Paul Celans zu Deutschland erschienen.
Zum jetzigen 100. Geburtstag des Dichters herrscht eine publizistische Ruhe, in der man den Lyriker wenigstens in schönster Form ehren kann: indem man ihn liest. Wieder. Und wieder neu. Und vielleicht den feinen, bei Suhrkamp erschienenen Band dazu, der Erinnerungen an Paul Celan heisst. In ihm wird das tragische Genie aus den Augen der Zeitgenossen gesehen.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass es die grosse Celan-Biografie noch nicht gibt und dass die bisherigen, oft fehlerhaften Versuche auch jetzt keine definitive Antwort bekommen. Der Komplex Paul Celan ist ein fast unüberschaubares Gebirge aus kleinsten Steinchen, aus jenen »Mikrolithen«, von denen der Dichter spricht. Man hat ein Leben der Kristallisationen und Zersplitterungen vor sich, das im politischen Sinn aber auf sehr tragische Weise ganz wirkt.
Celans Biografie ist eine deutsche Biografie, die von den geografischen Randzonen einer Sprache zuerst zu Rilke, Schiller und Hölderlin führt, um schliesslich sogar bei Ernst Jünger und Martin Heidegger zu landen. Bei jenen Geheimnisträgern des Überzeitlichen, die so gut zum »Tausendjährigen Reich« passen. Bei Celan gibt es den Wunsch, in Deutschland Beachtung zu finden, während er selbst wegen seiner Empfindsamkeiten und Überempfindlichkeiten oft nur Verachtung für diesen Staat und seine Menschen übrig hat. Dass etwas faul ist »im Staate D-Mark«, schreibt der Schriftsteller aus seinem französischen Exil heraus. Die Grassens und Walsers können ihm gestohlen bleiben. Das ganze Grossschriftstellergewese. Der zarte Hermann Lenz erinnert sich an seine Celan-Lektüren:
Der schaut hinters Klotzige, Irdische, Simple, Banale und Triviale, sagte ich zu mir selbst.
Hinters Klotzige hat Paul Celan geschaut, bis seine Gedichte immer filigraner wurden. Bis sich Sinn und Syntax ihren eigenen Reim machten. Hinter dem Klotzigen lag aber auch sehr viel Kleinteiliges, das kein Gesamtes mehr ergab. In seinen letzten Monaten hatte Celan wieder intensiven Kontakt zu seiner Jugendfreundin Ilana Shmueli, die im Briefwechsel zu seiner »lieben Mitstammlerin« wurde. »Irgendeine Realität zwischen uns muss möglich sein«, schreibt Ilana Shmueli, aber da gab es vielleicht so etwas wie Realität für Celan gar nicht mehr. In der Nacht auf den 20. April 1970 geht er in die Seine.
Im Paris des Dezembers 1968 schreibt Celan noch auf ein Blatt:
Du hast Krieg geführt, anstatt zu kämpfen.
Der Dichter war da allerdings kein Kombattant der Studentenrevolte, sondern er ist in seinem privaten Zorn immer jünger geworden. Auf fast kindische Art hat er nach der verheerenden Goll-Affäre, in der er des Plagiats bezichtigt worden war, immer neue Feindschaften angezettelt und frühere Freunde verstossen.
Zu den Aktivitäten der linken Genossen hatte Paul Celan seit seinen osteuropäischen Erfahrungen ein distanziertes Verhältnis, aber auch mit den sonstigen späteren Zeitgenossen hat er sich nicht immer leichtgetan. Jacques Derrida zum Beispiel berichtet von mehreren Begegnungen mit Celan, bei denen beide Seiten in grosszügigem Schweigen versunken waren. Nicht selten hatte der Dichter den Wunsch, bei voller nervlicher Anwesenheit aus dieser Welt zu verschwinden.
Der Philosoph Emil Cioran begegnete Celan einmal unter schönster Sonne im Landhaus von Celans Frau Gisèle Lestrange. Der Dichter lag im Liegestuhl im Garten, als wäre er ein ertappter Einbrecher. Der blaue Himmel über ihm, die entspannte Ruhe, das war Diebesgut aus einer anderen Welt. Seine Zuneigungen konnte Celan genauso wenig bemänteln wie seine existenzielle Trauer. Glaubt man seinen Bekannten, war er auf der Suche nach einer Wahrheit, in der sich Transzendenz und Irdisches kurzschliessen. Einfach gesagt: Vielleicht glaubte er so sehr an das Gute, dass er oft eher das Böse sah. Emil Cioran schreibt:
Es trifft zu, dass er in einer panischen Angst vor Enttäuschung und Betrug lebte. Seine Unfähigkeit zur inneren Distanzierung oder zum Zynismus hat sein Leben in einen Albtraum verwandelt.
Schreiben andere über ihn, kann man die Haarrisse in Celans Biografie erkennen. Auf seinem Weg aus der Bukowina nach Bukarest und über Wien nach Paris tun sich Chancen auf, und vieles zerbricht. In den Erinnerungen an Paul Celan, in den Beschreibungen der anderen, merkt man die Unterschiede im Ton. Als wäre Celan nicht einer, sondern viele. Und vielleicht war er einmal auf glückliche Weise ganz er selbst. Beim Tischtennis spielt er in Neuenburg die Familie Dürrenmatt in Grund und Boden. Dann trinkt er zur Hammelkeule zwei Flaschen Mirabelle und Schnaps. »Am Himmel die Sommersterne«, schreibt Friedrich Dürrenmatt.
Er dichtete in das bauchige Glas hinein, dunkle, improvisierte Strophen, er begann zu tanzen, sang rumänische Volkslieder, kommunistische Gesänge.
Paul Celan, »ein übermütiger Bursche«.
Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 23.11.2020
Lebenslauf
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Gedenktage
Zum 50. Todestag des Autors:
Daniel Jurjew / Klaus Reichert: Paul Celan: Ich sehe seine Hellsichtigkeit, bei anderem denke ich einfach: er übertreibt
Frankfurter Rundschau, 19.4.2020
Gregor Dotzauer: Das Eigene und das Andere
Der Tagesspiegel, 19.4.2020
Susanne Ayoub: Es ist Zeit, dass es Zeit ist
Der Standart, 19.4.2020
Sandro Zanetti: Akute Dichtung: Celans Zumutungen
Geschichte der Gegenwart, 19.4.2020
Friederike Invernizzi: Sprechen zwischen Wunde und Narbe
Forschung & Lehre, 19.4.2020
Frank Trende: Die bewegende Geschichte der Todesfuge
shz.de, 19.4.2020
Dunja Welke: Paul Celan – Ein zerrissener Dichter
RBB, 18.4.2020
Stefan Lüddemann: Paul Celan, Dichter des Holocaust, starb vor 50 Jahren
Neue Osnabrücker Zeitung, 19.4.2020
Shmuel Thomas Huppert: Erinnerungen an Paul Celan
SR 2, 26.2.2020
Christoph Bartmann: Ein Riss, der nicht zu heilen war
Süddeutsche Zeitung, 20.4.2020
Christine Richard: Ein Leben, immer nahe am Untergang
Tages-Anzeiger, 20.4.2020
Anton Thuswaldner: „Die Welt ist gegen mich losgezogen“
Salzburger Nachrichten, 19.4.2020
Klaus Reichert im Gespräch mit Niels Beintker: Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche mit Paul Celan
BR24, 20.4.2020
Rüdiger Görner: Asche atmen: Zu Paul Celan
Die Presse, 23.4.2020
Marko Martin: Paul Celan und die „Linksnibelungen“
Welt, 27.4.2020
Evelyne Polt-Heinzl: Paul Celan Ein Migrant in Wien
Die Furche, 8.4.2020