Dichterfürst im Zwielicht

Dichterfürst im Zwielicht

– Der Nobelpreisträger gehört zu den meistgelesenen Poeten der Welt. Heute wird er vor allem von Feministinnen kritisiert. –

An Pablo Neruda scheiden sich die Geister. Als der wortgewaltige, charmante Dichter am 23. September 1973 starb, zwölf Tage nach dem Militärputsch in Chile, war er die wohl bekannteste Symbolfigur der gestürzten Linksregierung von Salvador Allende und den siegreichen Militärs verhasst. Heute ist er vor allem unter Feministinnen umstritten.

Eines steht fest: Neruda gehört zu den meistgelesenen Dichtern der Welt. Wikipedia verzeichnet Einträge in 124 Sprachen. 1971 erhielt er den Literaturnobelpreis. Durch seine Poesie habe Neruda »mit der Aktion einer elementaren Kraft dem Schicksal und den Träumen eines Kontinents Leben verliehen«, urteilten die Preisrichter damals. Er gilt als lateinamerikanischer Dichter par excellence, einer der ersten, der sich von europäischen Vorbildern löste.

Als Ricardo Eliécer Neftalí Reyes Basoalto wurde er 1904 in Südchile geboren, Sohn eines Eisenbahners und einer Volksschullehrerin. Seine ersten Liebesgedichte machten ihn bereits mit 19 Jahren einem größeren Publikum bekannt. 1927 begann seine lange Karriere im diplomatischen Dienst, seine Lyrik war vom Surrealismus beeinflusst.

Zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs 1936 war der Freund spanischer Dichter Konsul in Madrid. Seine Gedichte wurden politisch, er beklagte das Blutbad und ergriff Partei für die linken Republikaner. Von der chilenischen Botschaft in Paris aus organisierte er 1939 die Überfahrt von über 2.300 republikanischen Flüchtlingen von Frankreich nach Chile.

Mit dem Roman Dieser weite Weg setzte ihm die Autorin Isabel Allende dafür ein Denkmal. Neruda selbst schrieb über die Aktion:

Soll die Kritik meine gesamte Dichtung auslöschen, wenn sie mag. Aber dieses Gedicht kann niemand auslöschen.

Als er nach Chile zurückkehrte und in die aktive Politik einstieg, half ihm seine große Popularität als Dichter. Er schreibe »für Menschen, die oft nicht lesen können«, erklärte er einmal.

Die Poesie war auf der Erde, bevor man lesen und drucken konnte. Deshalb wissen wir, dass Poesie wie Brot ist und von allen geteilt werden muss, von Gelehrten und Bauern gleichermaßen.

1945 zog er in das Parlament ein und schloss sich der Kommunistischen Partei an. Wenige Jahre später wurde der Oppositionspolitiker verfolgt und ins Exil gezwungen – diese bewegten Jahre hat der chilenische Regisseur Pablo Larraín in dem Biopic Neruda (2016) eingefangen. Damals entstanden auch die Gedichte von Canto General – eine hymnische Würdigung Lateinamerikas von der präkolumbianischen Zeit bis zum Widerstand gegen die Dominanz der USA.

Es folgten Jahre internationaler Anerkennung und Auszeichnungen vom Stalin-Friedenspreis bis zur Ehrendoktorwürde in Oxford. In der DDR kam die Anerkennung schneller als im Westen, auch aus politischen Gründen. Sein Bewunderer Hans-Magnus Enzensberger kritisierte, in den 1950ern sei »ein Strom von Parteilyrik und platten Hymnen« aus seiner Feder geflossen.

Doch nicht nur Kommunist:innen schätzten seine Verse, die die ganze Bandbreite des Lebens abdeckten. Soziale Themen stehen da neben der »Ode an die Kastanie auf dem Boden«, der »Ode an den Frühling« oder der »Ode an die Vögel Chiles«. Seine drei üppig und geschmackvoll ausgestatteten Häuser in Chile, vor allem in Isla Negra am Pazifik, sind beliebte Touristenziele geworden.

Der Plan, den Flughafen Santiagos nach dem Poeten zu benennen, scheiterte 2018 am Widerstand von Feministinnen. In seinen Memoiren hatte er berichtet, wie er 1929 auf Sri Lanka ein Dienstmädchen vergewaltigte:

Ein Mann traf auf eine Statue. Sie verharrte die ganze Zeit mit ihren offenen Augen, regungslos. Sie hatte recht, mich zu verachten.

Auch dass er seine erste Frau mit ihrer behinderten Tochter im Stich ließ, passt nicht ins Bild des Menschenfreunds.

Ungeklärt sind schließlich die Todesumstände Nerudas: Im Februar 2023 verdichteten sich die Indizien, er sei durch eine Injektion vergiftet worden. Wegen dieses Verdachts war seine Leiche bereits vor zehn Jahren exhumiert worden. Das Urteil der zuständigen Richterin steht allerdings noch aus.

Gerhard Dilger, taz, 23.9.2023

Lebenslauf

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Gedenktage

Zum 1. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979

H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984

Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004

Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero

Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004

Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004

Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004

Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004

 

Zum 5. Todestag des Autors:

Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978

 

Zum 10. Todestag des Autors:

Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983

 

Zum 50. Todestag des Autors:

Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023

Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023

Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023

Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023