Ein ernster Spieler

Ein ernster Spieler

St. Petersburg ist eng verwandt mit Vineta, der sagenhaften Insel, so sieht es auf seiner Ostseefahrt, auf einem falschen Kreuzfahrtschiff mit dem Namen Zweifacher Held der Sowjetunion Atenov, der 27-jährige Weniamin Jasytschnik, denn er ist auf der Flucht aus Russland, Richtung Deutschland. Und dies geschieht in Oleg Jurjews wunderbarem Roman Die Russische Fracht, 2009 erschienen. Drei Jahre nach dem Erscheinen ging Harry Rowohlt mit Jurjew auf Tournee, Rowohlt reagierte auf den Roman begeistert und hatte diesen für ein Hörbuch komplett eingelesen. Ich sah beide im Festsaal Kreuzberg. Rowohlt war auch auf der Bühne begeistert von Jurjews literarischem Seemannsgarn, Jurjew wiederum sang russische Verbrecherlieder und begleitete sich auf der Gitarre. Es war ein unglaublich schöner Abend. Doch als es später am Buchstand ans Signieren ging, stand eine lange Schlange vor Rowohlt – der nach Kräften darauf verwies, dass Jurjew der eigentliche Star sei –, Jurjew selbst wurde jedoch selten um ein Autogramm gebeten. Er regte sich nicht darüber auf, auch nicht später im Kreise seiner Übersetzerinnen Elke Erb und Olga Martynova, seiner Frau, mit der er aus St. Petersburg nach Frankfurt am Main übergesiedelt war. Ich kannte Oleg damals ein bisschen, hatte ihn in Frankfurt kennengelernt bei einer literarischen Veranstaltung. Meine Frau, Kristine Listau, lebte in Frankfurt, und Oleg und Olga luden uns eines Tages zu sich ein, es war ein anregender, kluger Abend, Oleg erzählte Anekdoten aus dem russischen und dem deutschen Literaturbetrieb, er verknüpfte rasend schnell die Arbeit des einen Autors mit der Arbeit einer anderen Autorin, sprang aus der deutschen Literatur in die russische, machte Exkurse in die jüdische Literatur und lachte dann über die Katzen in Edenkoben. Sein literarisches Wissen, die Literatur der letzten 300 Jahre betreffend, war geradezu enzyklopädisch. Er lebte geradezu in der Literatur. Der Romancier, Lyriker, Dramatiker, Übersetzer und literarische Essayist Oleg Alexandrowitsch Jurjew kam 1959 in Leningrad zur Welt. Er lebte ab 1991 er mit seiner Frau und seinem Sohn, dem Übersetzer Daniel Jurjew, in Frankfurt, von dort aus trug er seine in Russland schon zu Sowjetzeiten geschätzte Literatur in die deutschsprachige Welt – so veröffentlichte er die Romane Frankfurter Stier (2001), Spaziergänge unter dem Hohlmond (2002), Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise (2003), die erwähnte Russische Fracht, sowie mehrere Dramen (etwa Kleiner Pogrom im Bahnhofsbuffet 1984). Zuletzt erschienen in deutscher Sprache die Bücher In zwei Spiegeln. Gedichte und Chöre (2012), eine überarbeitete Neuausgabe seines Romans Halbinsel Judatin (2014) sowie die Poeme Von Zeiten und Von Orten (jeweils 2015) und im Jahr 2017 schließlich sein erster auf deutsch verfasster Roman Unbekannte Briefe. Seine Texte sind in zig Sprachen übersetzt, er wurde mit vielen literarischen Preisen geehrt. Dies ist seine Biographie in Telegrammfassung, doch zeigt sie nicht, wer Oleg war – ein ernster Spieler, der Moderne verpflichtet, so sehr er sich auch Postmodernes leistete. Und ein glücklicher Leser, der in Essays und in seinen Kolumnen Jurjews Klassiker (2006 bis 2013 im Tagesspiegel) und Jurjews Fundstücke (seit 2017 in Die Furche) sein Leseglück teilen wollte – und in seinen literarischen Texten selbstverständlich Anspielungen auf geliebte Autoren und Bücher versteckte. Er war ein liebenswerter Mensch, der um seinen Wert wusste, doch nicht zu Arroganz neigte – dort, wo er Stipendiat war, in Edenkoben oder in Bamberg, liebte man ihn. Nora Gomringer erzählt, dass noch jetzt, Wochen nach Olegs Tod, Trauerkarten für seine Familie in der Bamberger Villa Concordia abgegeben werden. Er konnte sich und andere begeistern, für die Literatur, für die Sache. Auch trommelte er begeistert für die Lyrik und die Romane seiner Frau, die im deutschen Sprachraum bald bekannter war als er – und kaum ein Mann tut dies sonst in einer Künstlerbeziehung. Bei all dem blieb er ein Emigrant, einer, der sich schon zu Sowjetzeiten in die innere Emigration zurückziehen musste, als Jude, als freiheitsliebender Mensch, als Dichter. »Heute empfinde ich all meine Exile in ihrer verwirrenden Geometrie und Arithmetik als meine natürliche Umgebung, die ich auf keinen Fall missen möchte«, sagte er 2010, als er den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil der Stadt Heidelberg erhielt. Auch in Deutschland blieb man dem Autor gegenüber skeptisch – zu belesen sei er, hieß es oft, überhaupt bereite das Lesen seiner Romane zu viel Mühe (als wäre es nicht gerade das Glück der Lesenden, dass sie einen Text zu ihrem Spaß und Vorteil entziffern können). Seinem letzten Roman sprachen einige Kritiker sogar ab, dass Jurjew ihn auf Deutsch verfasst habe (ich weiß, dass es stimmt, ich bin der glückliche Verleger). Jurjew ließ sich davon nicht angreifen, doch es traf ihn. Er zog sich weiter zurück in die Literatur, arbeitete weiter, für sich, für uns. Am 5. Juli 2018 ist Oleg gestorben, wenige Tage vor seinem 59. Geburtstag. Mit ihm hat die Literatur einen großen Autor und unermüdlichen Kämpfer für ihre Belange verloren.

Jörg Sundermeier, Abwärts!, Nummer 28, September 2018