Der Schaumgeborene

Der Schaumgeborene

– Das Meer, die Insel, das Licht – Erinnerung an den griechischen Lyriker und Literaturnobelpreisträger Odysseas Elytis (1911–1996). –

In diesen Tagen, wo alle von den griechischen Schulden reden, gilt es auch des 100. Geburtstags von Odysseas Elytis zu gedenken. Der Lyriker und Nobelpreisträger des Jahres 1979 war ein hymnischer Sänger mediterraner Schönheit und mediterraner Tragik. Griechenland war ihm Mythos und Metaphysik.

Von Anfang an hat er sein Los als Dichter an das Schicksal seines Landes gebunden: Am 2. November 1911 als Odysseas Alepoudhelis geboren, gab sich der Lyriker selbst den bedeutungsschweren Namen »Elytis« nach »Ellada« – Griechenland. Elytis wurde in Iraklion auf Kreta geboren, seine Familie aber stammte von Lesbos, und diese Insel ist es auch, die dem Erwachsenen zum poetologischen Sehnsuchtsort wird.

Meine einzige Sorge die Sprache an den Küsten Homers.

Odysseas Elytis war erregt von der Philosophie des ägäischen Lichts, den Gedanken des Mittags und der Schönheit, jenen leichten Delirien, wie sie auch von Mittelmeer-Schwärmern wie Martin Heidegger überliefert sind oder von Albert Camus:

Persönlich fehlte es mir nicht an Göttern: Diese waren die Sonne, das Meer. Die Menschen aus dem Norden können noch an die Küsten des Mittelmeers fliehen oder in die Wüsten des Lichts. Aber wo soll denn der Mensch des Lichts hinfliehen?

Sein Brot hat Odysseas Elytis jahrzehntelang als Programmdirektor des Athener Rundfunks verdient. Die Ferien wird er immer auf den ägäischen Inseln verbringen – er sieht sie aus dem Wasser gehoben, geschöpft, im Meer blühen wie Lotusblüten. Elytis hat sich als einen Erforscher der Helligkeit gesehen, einer Welt im Zustand ihrer absoluten Sichtbarkeit. (Übrigens ist es die trockene, brennend heisse Saharaluft, die nordwärts zieht und das Mittelmeer in seiner ganzen Ausdehnung in eine derartige Helle taucht.) Von der sinnlichen Welt ausgehend spielt der Dichter Elytis hinüber in die reine Schau. Sein ganzes Werk lässt sich an der fein gesponnenen Metaphorik (und Metaphysik) des Sonnenlichts auffädeln. 1938 erscheint sein Gedichtzyklus Sporaden; aus den »Kleinen Kykladen« macht Mikis Theodorakis wunderschöne Lieder:

Das Meer war geschaffen nach meinem Gleichnis. Amphoren der Stille, gekrümmte Delphinrücken. Ios Sikinos Seriphos Milos. Auch jedes Wort eine Schwalbe. (…) Auf Berge bin ich gegründet. Meines Volkes Gedächtnis: Dein Name ist Pindos dein Name Athos. Die Frauen tragen vor dem Kalkweiss der Inseln wie ein Gewand ihren Schatten.

Man hat bis heute noch nicht genug nachgedacht über die wahre Anziehungskraft des Meeres und dessen (vermeintliche) Unendlichkeit, über das Gemeinsame von Seefahrt und Luftfahrt, von Segel und Flügel (der Traum von Odysseus und jener von Ikarus sind einander nah verwandt). Der Brite Lawrence Durrell, der einen Teil seiner Kindheit auf den Ägäisinseln verbrachte, umschiffte Sizilien, Rhodos, Korfu und Zypern und notierte dabei zu jeder Insel umfangreiche Beobachtungen. Für ihn gab es einfach Menschen, die Inseln schwer widerstehen können. Dafür gräbt Durrell einen alten Begriff aus, den der Isolomania, dieser »Behexung der Seele«. Isolomanen seien die direkten Nachkommen der Atlantier, und immer sei es das verlorene Atlantis, welches das Unbewusste in jeder Insel wiederzuentdecken hofft. Auch Odysseas Elytis ist auf eine verblüffende Wortschöpfung verfallen, um seiner Inselsucht Ausdruck zu verleihen:

Ich habe meine Ideen verinselt.

Wasser nur wenig, »damit du es achtest wie Gott«, spärliches Erdreich, »dass du nicht Wurzeln schlägst«, Olivenbäume, die »mit ihren Händen das Licht sieben« – das ist die ägäische Inselwelt, wie sie Elytis in den fünfziger und sechziger Jahren noch vor Augen steht. Irgendwie so sind die Menschen an jenen Küsten alt geworden, mit dem Blick aufs Meer: Leuchtturmwärter, den Mönchen in ihren Einsiedeleien verwandt. In den Dörfern Frauen, die bei Mastix und Likör das Schicksal des ungelebten Lebens teilen, während ihre Männer zur See fahren. Der Hafen als »steingewordene Sehnsucht« (Fernando Pessoa), Imaginationen anderer Lebensart der gleichen Menschheit anderswo; aber auch von Bord aus träumt man sich in die Ferne, d.h. nach Hause. Wenn nicht die Weite die Brust weit macht und den Menschen, der zur See fährt, zum Helden. Wie den, der ihm nachrühmt. Es kann wohl nicht anders sein: Gedichte über das Meer werden Gesang. (War nicht das Schiffstagebuch die erste Gattung der Literatur?) Beide, Seemann und Dichter, werden in Odysseas Elytis’ Poetologie zu mythischen Figuren, in denen sich Romiosini, das Griechentum, selbst feiert:

Wer am Meer geboren wurde, wird verstehen.

Dabei ist das Mittelmeer alles andere als eine Idylle. Die Witwen der Seeleute wenden sich ab vom unheilverkündenden Blau, für sie ist das Meer ein Massengrab. Wie heute wieder für Flüchtlinge und (illegale) Migranten aus Schwarzafrika. Es ist das Schicksal, das in Elytis’ Lyrik – wie je in griechischen Tragödien – mit den Menschen spielt: Treffer – versenkt. Und damit taucht man mitten hinein in metaphorische Untiefen: Auch Menschen können im »Sturm des Lebens« zu Wracks werden, jede Reise kann die grosse, die letzte Reise sein.

Das ganze Jahrzehnt von 1935 bis 1945 nennt Elytis in den Essays seine »heroische Epoche«: Heldenhaftes, Schicksalsträchtiges haftet darin seinen Selbstbildern und denen Griechenlands an. Im Winter 1940 nahm Odysseas am Albanienfeldzug teil, erkrankte schwer an Typhus, und seine Nahtoderfahrung prägt ihn wie die ganze »Generation der dreissiger Jahre«. Literarisch reflektiert ist jene heroische Phase im »Helden- und Klagegesang auf den in Albanien gebliebenen Leutnant«, in dem der Held verklärte Züge trägt: einsam, ja heilig.

Wenn sie hörten, wohin wir marschierten, schüttelten sie den Kopf und sprachen von Zeichen und Wundern. Aber sei unbesorgt, die Dinge des Herzens gehen nicht verloren. In ihrem Dienst stehen auch die Exile.

Auf Paros schreibt Odysseas Elytis im Sommer 1954 den grössten Teil seines epochalen Werkes To Axion Esti (»Gepriesen sei«), ein Hauptwerk, das auch wieder Theodorakis vertonte, der es die »Bibel Griechenlands« genannt hat. Die hymnische Komposition ist bis in die kleinste Einzelheit durchdacht: Die prologische »Genesis«, voller alttestamentarischer (Be-)Züge. Ein anderes, zeitloses Selbst erteilt dem schaumgeborenen Dichter, »der mit den Lippen im Urschlamm die Dinge der Welt schmeckt«, Aufträge, wie: Sieh, hör, lies! Dem ersten Teil folgt die Passion, der »Sitz der Geschichte«, die im 20. Jahrhundert fast ausnahmslos grausam über das Land hinwegfegte: nach der kleinasiatischen Katastrophe und vor dem Bürgerkrieg die Besetzung durch die faschistischen Achsenmächte. Und hier ist es, wo Elytis zum einzigen Mal auf die Bukolik anspielt, allerdings ohne alles Idyllische:

Es kamen
verkleidet wie Freunde
meine Feinde
traten auf uraltes Land und brachten die uralten Geschenke. Von den Schafen hörte man keinen Laut, nur den Wehlaut, wenn sie der Dolch traf.

To Axion Esti endet mit dem apotheotischen »Gepriesen sei«, das den Menschen aus dem Reich des Leidens ins Reich der Freiheit entrückt. Gemeint ist die Rückkehr zur Reinheit der Genesis in der Form der Verklärung. Der Dichter schreibt seinem Volk eine Mission zu, als deren Sprecher, man muss schon sagen »Künder« er selbst auftritt. Elytis, wie auch andere griechische Nationaldichter, entgeht damit der Gefahr der Mystifizierung der Geschichte nicht, er sagt es selbst:

Welch imaginärem Geschlecht war ich entsprossen.

Elytis’ To Axion Esti ist Kunst in einem hohen dichterischen Pathos, wie es innerhalb Europas so wohl nur noch in Griechenland möglich ist. Aber mit seinen unendlichen Bezügen zu Natur und Geschichte, Kosmos und Antike, Befreiungskampf und Weltkrieg ist es mehr als nur ein moderner Mythos Griechenlands – es ist ein Menschheitsbuch.

Nicht nur die griechische Dichtung der Antike, die Psalmen der Bibel, die orthodoxe Liturgie oder die Volksdichtung des Balkans sind die Quellen, aus denen sich die Sprachkunst von To Axion Esti speist. Ebenso hat sich die symbolistische und surrealistische Moderne Westeuropas darin niedergeschlagen. Odysseas Elytis bereiste ganz Europa. In Paris schloss er Freundschaft mit zahlreichen Schriftstellern und Künstlern wie Tristan Tzara, Giuseppe Ungaretti und André Breton. Bereits 1929 war Elytis durch eine Gedichtsammlung Paul Eluards zum ersten Mal mit den französischen Surrealisten in Berührung gekommen. In noch jungen Jahren studierte er ihre Schriften eifrig, experimentierte mit ihrer automatischen Schreibweise, die ihm half, »die Vorräte seiner gequälten Innerlichkeit freizuspielen«.

Odysseas Elytis wurde allerdings nie zum orthodoxen Surrealisten, zeigte sich vielmehr ausdrücklich interessiert daran, ihre experimentelle Kühnheit »dem griechischen Licht einzupassen«. Neben den Surrealisten ist er in Paris auch Albert Camus begegnet. In »Hochzeit des Lichts« heisst es:

Himmel und Meer sind wie Gesichter, deren Öde oder Pracht man nicht durch Sehen entdeckt, sondern durch Schauen. Das Einfache als solches geht über unser Begreifen. Was ist das, was wir blau nennen? Wie können wir’s denken? Das Gleiche gilt für den Tod.

Es sind Camus’ Mittelmeeressays (1938–1954), die in direkter Nachbarschaft zu Elytis’ ägäischer Imagination stehen. Man darf diese verbindende Kraft des Mittelmeers nicht unterschätzen, die das »andere Ufer« des Mittelmeers ausdrücklich in die Überlegungen mit einbezieht.

»Wer war ich«?
Miguel Perreira
An einem Ende des Mittelmeeres.

Nach den Existenzialisten kommen die Hippies nach Griechenland, lazy sunbathers, mit Reiseführer und Fotoapparat ausgerüstet wie vorher nur Dichter, »geschaffen für die Koren, Myste der Ölbaumblätter, Sonnenschlürfer«. Auf Kreta wurde Odysseas Elytis geboren. In den siebziger Jahren haben Orte wie Matala dann unter fremdländischem Einfluss ihren eigenen Mythos geschaffen. Matala war vor allem für seine Höhlen am Meer berühmt, ehemaligen Verstecken für Schmuggelware und Wehrmachtswaffen, ehe die Hippies sie als Behausung entdeckten. Wilde, dionysische Strandpartys feierten sie in den Nächten, im Vollrausch meinten sie die Gestalten des griechischen Mythos vorbeilaufen zu sehen. Dem Dunkel folgten unschuldige Morgendämmerungen über dem Meer: nur Steine, Feuer, Wasser, Licht.

Mit der Einrichtung eines Konzentrationslagers auf der Insel Jaros zur Zeit der griechischen Militärjunta 1967 bis 1974 wird der Welt offenbar, dass griechische Inseln im ägäischen Licht auch die »Hölle« sein können. Auf keiner Karte verzeichnet. Aber nicht selig, sondern einsam, durstig, nackt. In seinen schwermütigen achtziger Jahren will Elytis tief in Erde und Körper hinabsteigen, versunkene Welten beherrschen das Bild:

Ich durchforste das Erbarmen der Nacht wie der Asket seinen Gott.

1991 schenkt der 80-Jährige der Welt sein reifstes Opus, Elegien der Oxopetra, in dem er jenen äussersten Punkt umspielt, in dem die Erde ins Wasser eindringt und der Tod ins Leben. Der Tod, der nicht länger als Mörder der Geschichte auf ihn zukommt, sondern als Verheissung der Ewigkeit, als Theophanie. Tod ist für ihn nun »blauer, unendlicher Pontos« und »Sonne ohne Untergang«, unnahbare Trauer fällt mit unerschöpflichem Trost zusammen, und vorbeischwimmende Partikel von Glück strafen ihn mit Fülle.

Elytis war auf der Suche nach dem wahren Gesicht Griechenlands, das ein anders sein sollte, als es sich die Europäer vorstellten. Dabei ist es ausgerechnet die romantische Liebe, die in seinen letzten Gedichten endlich die Gewalt des Todes wieder entkräftet. Den deutschsprachigen Leser erwartet hier eine Überraschung. Gedichte finden sich, die Novalis gewidmet sind, aber auch Hölderlin. Die »In memoriam Friedrich von Hardenberg« zugeeigneten Gedichte sind Kristallisationspunkte einer jahrzehntelangen Bewunderung Elytis’ für den Dichter der »Hymnen an die Nacht«:

Rheinlands Auen vor Zeiten in mir verstummt
Jetzt wie vom Jagdhorn aufgespürt sind sie da. Wappen Stammbäume die ich zwölfjährig ungewollt entdeckt. Söfchen mein bist mir im Sinn. So dass heute noch einmal werde und sei
Der neunzehnte März siebzehnhundertsiebenundneunzig.

Und natürlich musste auch Hölderlins Kult um das Griechische (freilich ohne dass er Griechenland je betreten hat) Elytis tief berühren. Im Gedichtzyklus »Lichtbaum« integriert er Menons Klage um Diotima – schreibt seinen Gedichten damit einen philhellenischen Zug ein, der im Orientalismus-Diskurs »Selbstorientalisierung» heissen würde:

Den Lauf von Schwabens Wassern zu ändern. Auf dass Liebende hier seien und dort. Von zwei Sternen und doch nur ein einziges Los.

Als flösse das Mittelmeer in den Rhein. Aber, wie der französische Historiker Fernand Braudel es zuerst in seinem berühmten Essay »Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.« schrieb:

Der Abendländer darf aus der mediterranen Partitur nicht allein die ihm vertrauten Stimmen heraushören.

Auf der Weltkarte mögen Griechenland und das Mittelmeer als nicht viel mehr denn eine kleine Spindel erscheinen, und doch laden sie – wie aktuelle Debatten um eine »levantinische« Mittelmeerkultur bestätigen – in ihrer kosmopolitischen Geschichte von Seefahrt und Wissenschaft, Religionsstiftung und Handel geradezu zu einer anderen Art der Geschichtsschreibung ein. Immer wieder waren es mediterrane Hafenstädte wie Venedig, Tanger, Alexandria oder Saloniki, die eine besondere Anziehungskraft ausübten. Kaum kann man die osmotischen Wechselwirkungen zwischen Kulturen je besser bei der Arbeit beobachten als an diesen Brückenköpfen des festen Landes – »Implantaten einer vorgezogenen Zeit« (Dan Diner).

Nicht ich sondern das was ich liebe vertreibt
mich aus Venedig, Córdoba nach Famagusta
Alexandria Kairo. Der Balkon über dem Mittelmeer. Der Meridian.

In den achtziger Jahren tritt das Mittelmeer als missachtete Landschaft hervor, das Projekt eines überfischten Meeres als zoologischer Schutzpark scheint nicht mehr utopisch. Schon beim alternden Elytis erlebt der alternde Odysseus angesichts dieser »Siegeskloake« (Jannis Patilis) seine abenteuerliche Irrfahrt von zu Hause aus.

Durch seine weit offenen Fenster und Türen
Löscht nun mein altes Haus
Die Fracht seiner Einsamkeit in die Nacht.

Der heutige Odysseus müsste wohl einen Hausrock anziehen, um die abenteuerliche Reise durch die Bibliotheken anzutreten, denn Nord- und Südküste, Fries und Arabeske, Hirten und Seeleute – all dies wurde Literatur. Aber selbst unter dem Andrang des Massentourismus hat die Ägäis ihre ideale Gegenweltlichkeit nicht ganz eingebüsst und Odysseas Elytis’ europäische Lyrik nicht ihren Weltrang.

Manuel Gogos, Neue Zürcher Zeitung, 5.11.2011

Lebenslauf
Porträtgalerie
Gedenktag

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Manuel Gogos: Der Schaumgeborene
Neue Zürcher Zeitung, 5.11.2011

Hansgeorg Hermann: Kämpferische Unschuld
junge Welt, 2.11.2011