Die Fremdheit des Lebens

Die Fremdheit des Lebens

Vor wenigen Stunden habe ich erfahren, daß Nicolas Born tot ist. Ich rief an, um noch einen Besuch bei ihm zu verabreden. Bei unserem letzten Telefongespräch, ein paar Tage vorher, war er schon sehr schwach gewesen. Ich hörte es an seiner drucklosen Stimme, seinem mühsamen Luftholen. Er sagte mir, was er wußte, aber nur schwer zu fassen vermochte, daß er nur noch eine kurze Frist habe. Er ist an Krebs gestorben, nach ungefähr einem dreiviertel Jahr des Leidens, in dem ihm kein Schrecken und keine Angst erspart geblieben ist. Mit der unerkannten Krankheit im Leib hat er sein letztes, bedeutendstes Buch geschrieben.

Ich kannte ihn seit 1964. Damals kam er mit einem Manuskript zu mir, ein großer, wortkarger, introvertierter junger Mann, der von Beruf Chemograph war, aber angefangen hatte zu schreiben. Er kam mir unsicher und zielstrebig zugleich vor, als wäre die Zielstrebigkeit ein dringendes Bedürfnis nach Klarheit, das von einer fundamentalen Unsicherheit hervorgebracht worden war. Er wollte ein Urteil über sein Manuskript. Aber ich hatte das Gefühl, daß er mich zum Richter über etwas Unabsehbares machte. Dann tat ich etwas, was ich nie vorher getan habe und auch nie wieder tun werde: – Ich sagte ihm, er solle zwei Stunden spazierengehen, dann würde ich ihm sagen, was ich von seiner Arbeit hielte.

Es war eine verhaltene, spröde Prosa, die Geschichte einer zweitägigen Reise, die der Icherzähler unternimmt, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Er hat nur Anhaltspunkte, er läßt sich vom Zufall führen. Es ist unterwerfen, um etwas zu erleben, fremde Wirklichkeit zu erfassen und sich daran selbst zu erfahren. Aber obwohl er alles, was ihm begegnet und was er tut, geradezu pedantisch registriert, gleitet alles von ihm ab. Auch seine eigenen Handlungen erlebt er als mechanisch und schattenhaft. Er kann das Leben nur als eine Aneinanderreihung von Fakten und als einen Ablauf von Verhaltensritualen erfassen. In befremdeter Ohnmacht fügt er sich und sieht sich dabei zu, buchstabiert das in Einzelheiten zerfallende Geschehen wie ein Kind, das gerade Lesen gelernt hat, aber noch nicht den Sinn der Sätze erfaßt.

So ist das alles, alles ist so, wie ich es sage.

Ich war nicht begeistert von diesem Manuskript, eher gegen meine Bedürfnisse gefesselt von diesem Versuch eines Menschen, ins Leben hineinzukommen, indem er es sich Schritt für Schritt vor Augen führte und es dabei doch immer mehr entwirklichte.

Camus’ Fremder, nach dem Krieg eine literarische Orientierungsfigur, hatte aus der unbeteiligten Distanz zum Treiben der Menschen das Bewußtsein seiner Freiheit gewonnen. Hier war es umgekehrt, die Distanz war ein auferlegter Zwang. Ich glaubte, einen tiefen Widerspruch zu erkennen zwischen der Sensibilität dieses Menschen und einer Lebenshemmung, die ihn unter den anderen und auch vor seinem eigenen Blick zu einem Fremden machte. Beschreibend legte er diese Wunde frei, vielleicht in der Hoffnung, sie zu heilen. Als Nicolas Born damals von seinem Spaziergang zurückkam, nahm ich in seinem Gesicht einen Ausdruck wahr, den ich später noch öfter bemerkt habe: Er war wehrlos auf alles gefaßt, hatte sich aber tief in sich selbst zurückgezogen. Gerade seine derbe, fast vierschrötige Erscheinung betonte seine Verletzbarkeit. Ich sagte ihm, daß ich sein Manuskript zur Veröffentlichung empfehlen wolle. Es erschien 1965 unter dem Titel Der zweite Tag.

Seitdem haben wir uns über die Jahre hinweg in unregelmäßigen Abständen immer wieder gesehen. Aus der ursprünglichen Arbeitsbeziehung wurde eine Freundschaft. Born wechselte zum Rowohlt Verlag über, wo er mit anderen das Literaturmagazin herausgab, an dem ich auch gelegentlich mitgearbeitet habe. Seine beiden ersten Gedichtbände Marktlage (1967) und Wo mir der Kopf steht (1970) hatte ich noch als Lektor bei Kiepenheuer & Witsch betreut. Dann erschien 1972 bei Rowohlt sein Gedichtband Das Auge des Entdeckers, der ihm allgemeine Anerkennung als Lyriker verschaffte. Die Gedichte waren gegenüber seinen Anfängen weiträumiger und expressiver geworden. Sie rüttelten an den Fakten, spielten mit Hypothesen, Phantasien, stellten das Vorgefundene auch mit absurden Querschlägen in Frage, wie zum Beispiel in seinem »Naturgedicht«, das deutlich machen will, nichts sei natürlich, was wir uns gewöhnt haben dafür zu halten. Damals brachte er den Begriff der Utopie ins Spiel. »Jeder«, schrieb er, »ist eine gefährliche Utopie, wenn er seine Wünsche, Sehnsüchte, Imaginationen wiederentdeckt unter dem eingepaukten Wirklichkeitskatalog.« Daraus wuchs später auch ein politisches Argument gegen die sogenannten Sachzwänge, als Born, der von Berlin in den Kreis Dannenberg an der Elbe gezogen war, sich gegen das geplante »Entsorgungszentrum« in Gorleben und gegen die Atomkraftwerke engagierte. Er war immer auf der Suche nach einem richtigen, authentischen Leben gewesen und verstand nun, daß das nicht nur ein individuelles Problem war, sondern auch ein allgemeines. Er bemühte sich, die schwierigen Zusammenhänge zwischen der Erfahrung des einzelnen und dem Gesamtschicksal zu erfassen. Aber niemals hat er sich dumm machen lassen von Dogmen und Theorien. Er war immun gegen Kollketivräusche und abstrakte Solidaritäten. Sobald er die großen Worte hörte, fühlte er sich verzweifelt einsam. Er konnte nicht mitmachen, er gehörte nicht dazu.

Aber ich wollte ja immer, daß mich noch etwas erreichen sollte, für das ich meinen Körper zur Verfügung stellen konnte, für Gerechtigkeit jederzeit, für Freiheit jederzeit, nur wenn man das genauer haben wollte, wurde es schwierig: einmal gesetzt und schon verloren, aus. So schnell wollte ich mich aber nicht verspielen, dann lieber mit offenen Augen mich langsam mit Widersprüchen vergiften.

Nicolas Born war in den letzten Jahren viel in der Öffentlichkeit, nahm teil an Lesungen, Diskussionen, Tagungen. Er hatte Freunde, lebte keineswegs als Einzelgänger. Trotzdem ist das heimliche Fremdheitsgefühl, die immer wieder sich erneuernde Distanz zum Leben sein Thema geblieben. Es durchzieht seine Gedichte und es hat seine beiden Romane hervorgebracht, die ich für seine bedeutendsten Werke halte. Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) ist die Geschichte eines Rückzugs aus einer leidenschaftlichen Beziehung, von der sich der Erzähler bedroht und verschlungen fühlt. Doch es ist keine siegreiche Abgrenzung, sondern eher ein Rückzug in Indifferenz und Ichverlust, den er mit selbstzerstörerischer Bewußtheit beschreibt. In seinem letzten Roman, der unter dem Titel Die Fälschung in diesem Jahr erschienen ist, hat Born die eigene Erfahrung im Weltzustand gespiegelt. Der Roman spielt in Beirut, das von den blutigen Kämpfen zwischen den Muslims und den Christen in eine undurchschaubare Szenerie düsterer absurder Schrecken verwandelt wird. Die Hauptfigur des Buches, der Reporter Laschen, versucht darüber zu schreiben, ist aber ein Gezeichneter, der von innen und außen durch ein Gefühl von Unwirklichkeit aufgezehrt wird. Das Leben wird für ihn unfaßbar, und alle Versuche, es zu greifen, nehmen für ihn den Charakter einer Fälschung an.

Die Wahrhaftigkeit und der unbarmherzige Scharfblick dieses Buches entstammen einer lebenslänglichen Erfahrung, die ich nicht zögere ein Stigma zu nennen. Es ist atemverschlagend, darin das Buch eines Menschen zu sehen, der schon so bald – mit 41 Jahren – sterben mußte. Jetzt allerdings kann man keines seiner Bücher aufschlagen, ohne darin nicht überall auf Zeichen einer unbewußten Todesnähe zu stoßen und auch auf eine Sehnsucht nach bergender menschlicher Nähe, die aber von dem Todesmotiv hart und illusionslos umschlungen wird, wie in diesen kurzen, fast verstummenden Zeilen:

Zusammen halten wir uns
eine Weile
über Wasser

noch ein paar Atemzüge
dann ist es wieder still.
Das waren wir –

Dieter Wellershoff (1979), in Literaturmagazin, Heft 21, Rowohlt Verlag, 1988

Lebenslauf
Nachrufe

Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980

Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Gedenktage

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017

Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017

Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017

Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018