Die Poesie im Herzen

Die Poesie im Herzen

Den Antipoeten hatte Parra nie abgelegt: ständig suchte er andere Wege in der Poesie. Ende der sechziger Jahre erschienen die »Artefactos« als neue provokante lyrische Form: Redewendungen, Sprüche und Zitate von der Straße, von Häuserwänden, Parks und Klos, aus der Werbung, der Literatur sammelte Parra auf, veränderte diese leicht und verdichtete sie hochgradig epigrammatisch. »USA / Wo die Freiheit / eine Statue ist oder Neue Menschen / Neuer Hunger.« Er schrieb Predigten, die keine sind und in den 80er Jahren wendet er sich angesichts der globalen Zerstörung der Natur der »Ökopoesie« zu. »… Sozialisten und Kapitalisten / vereinigt euch / bevor es zu spät ist…« Visuelle Elemente fanden in seinem Spätwerk immer mehr Platz. 

Parras Gedichte kreisen um einfache Wahrheiten. Er nutzte als Lyriker und Physiker das Wechselbad von Ästhetik und Erkennen: mit Ironie, Lakonie und Witz kam er sehend und hörend zügig auf den Punkt. Parra hatte keinen Meister. Er verschrieb sich, wie kaum ein Dichter, dem Land seiner Geburt: Chile. In der Pinochet-Zeit blieb er dort. Als Dichter war er natürlich bemüht, eine andere Bewertung des Sehens und all der Dinge zu verbreiten als die der öffentlichen Meinung, die schnell wechseln kann wie die verkehrten Männer an der Spitze. »Gut / und nun, wer befreit uns von unsern Befreiern.«

Nicanor Parra wurde am 5.09.1914 in der Nähe von Chillián geboren. Er wuchs in einer sehr musischen Familie auf, aus der auch die Sängerin Violeta Parra hervorging. 

Parra studierte Mathematik und Physik und lehrte nach Studien und Lehrtätigkeiten in den USA und England, Theoretische Physik an der Universität in Santiago de Chile. Schon während seiner Studienzeit erschien 1937 sein erster Gedichtband. Bekannt wurde Parra durch sein zweites Buch Poemas y antipoemas, das 1954 herauskam und die Antipoesie verkündete.

ACHTERBAHN

Ein halbes Jahrhundert
War die Poesie
Das Paradies

für feierliche Narren
Bis ich kam
Mit meiner Achter
bahn.

Steigen Sie nur ruhig ein.
Ich halte den Kopf

nicht hin wenn Sie danach
Aus Mund und Nase bluten.

Das vielbesungene Paradies abgelöst durch den Rummelplatz, der feierliche Narr durch den Mann mit der Achterbahn, statt lyrische Trottelei das kurvenreiche Rauf und Runter, lauter Leben; Dichtung als Kinderspaß: unschuldig hinterlässt es uns, im Hintergrund der kunterbunte Lärm. Wer hätte nicht als Dichter gern so ein Anti-Gedicht geschrieben? 

Parras Werk wurde im Jahre 2011 mit dem Premio Cervantes ausgezeichnet. Mehrfach wurde er von verschiedenen Universitäten für den Nobelpreis vorgeschlagen. Wer ihn je übertragen oder sich mit seiner Dichtung beschäftigt hat, hätte ihm diesen sicher gewünscht. Aber er ist von einem Jahrtausend in das nächste Jahrtausend gekommen, über hundert geworden, am Ende mit 12g Askorbinsäure morgens, einem Glas Milch mittags und einem Glas Rotwein abends und ein wenig Poesie im Herzen.

Am 23. Januar verstarb er mit 103 Jahren in Las Cruces in der Provinz San Antonio.

Ingolf Brökel, neues deutschland, 27.1.2018

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Gedenktage

Zum 95. Geburtstag des Autors:

Nils Bernstein: Das Innovationspotenzial der Antipoesie
fixpoetry.com, 4.10.2009

Zum 99. Geburtstag des Autors:

Ingolf Brökel: Witz nah am Abgrdund
nd, 5.9.2013

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Ingolf Brökel: Nicanor Parra – 100 Jahre

Ralph Hammerthaler: Raus aus dem Trottel-Paradies!
Süddeutsche Zeitung, 5.9.2014

Nicanor Parra entflieht Ehrungen zum 100. Geburtstag
dpa, 5.9.2014

Zum 103. Geburtstag des Autors:

Arne Dettmann:Der alte Schelm lässt das Feixen nicht
Condor, 1.9.2017