Der defekte Schlusssatz
– „Aber wer bin ich daß“: So endet das Gedicht „Nicht gesagt“ von Marie Luise Kaschnitz. Obige Zeile und ihr Gedichttitel sind charakteristische Worte der 1974 verstorbenen Dichterin. –
Am 31. Jänner 1901 wurde die Schriftstellerin Marie Luise geboren. Zunächst noch ganz von der Tradition bestimmt, wurde sie immer mehr zu einer wachen und literarisch eigenständigen Zeitgenossin. Unter den Literatinnen und Literaten des 20. Jahrhunderts, die sich auf religiöse Themen und Sprachformen eingelassen haben, kommt ihr ein ganz besonderer Platz zu.
Marie Luise Kaschnitz gehört einer Zwischengeneration an. Sie wurde zu früh geehrt: dass sie 1955 den Georg-Büchner-Preis erhielt, erscheint von heute aus gesehen als Fehlurteil gerade auch ihrem Werk gegenüber, dessen wesentlichste Teile noch gar nicht geschrieben waren. Gleichzeitig wurde sie zu spät in ihrer Bedeutung erkannt: die wichtigsten Dissertationen erschienen erst in den neunziger Jahren, ebenso die Biographie von Dagmar von Gersdorff, die durch den Reichtum ihres Materials unentbehrlich ist, wenngleich sich die Perspektive der Kaschnitz-Verehrerin manchmal zu deutlich in den Vordergrund drängt.
Marie Luise Kaschnitz wurde zu spät geboren, um ein Leben lang von der Tradition bestimmt zu bleiben – der Tradition der badischen Adelsfamilie, aus der sie stammt, wie auch der Roman- und Erzähltradition, dem Lyrikverständnis und vor allem der klassizistischen Literatursprache, von der sie herkam. Sie wurde aber zu früh geboren, um gleich neu anzufangen wie die Generation derer, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben begannen.
Besondere Eigenständigkeit zeichnet das Werk von Marie Luise Kaschnitz im religiösen Bereich aus. Sie bewährt sich gerade in der dialogischen Auseinandersetzung mit Gott, in der sie nie in die Klischees der Gebetssprache verfällt, sondern diese kreativ und kritisch weiterführt. Das beginnt mit dem bekannten „Tutzinger Gedichtkreis“ und endet im Zyklus „Das alte Thema“ ihres letzten Gedichtbandes Kein Zauberspruch aus dem Jahr 1972. Vor allem hat die Kaschnitz die christlichen Vorstellungen vom Weiterleben nach dem Tod in einer individuellen Sprache und Bildlichkeit aufgegriffen, aber auch poetische Bilder einer erotischen Sakramentalität entworfen – etwa im Gedicht „Der schreiende Gott“ –, wie man sie höchstens noch bei Heinrich Böll finden kann. In ihrem Essay „Von der Gotteserfahrung“ fühlte sich Marie Luise Kaschnitz (1945!) von dem Stolz der Glaubenslosen wie von der Sicherheit der Gläubigen gleichermaßen entfernt – eine Position, die gegen religiöse wie areligiöse Ghetto-Mentalitäten nach wie vor ungebrochen aktuell ist.
Was die religiöse Bildwelt von Marie Luise Kaschnitz auszeichnet, warum sie hier elementarer, ursprünglicher, kreativer als fast alle Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ist, das versteht man am besten, wenn sie über Georg Trakl spricht:
Trakl wollte nichts, weder sich wie Werfel von Gott zerreißen lassen, noch wie Däubler das Werk der Umkehr tun. Nichts zu wollen – die Absichtslosigkeit ist das Wichtigste, wenn sich ein Künstler auf die religiöse Bildwelt einlässt.
Trakl ist noch in einem anderen Zusammenhang wichtig; Kaschnitz schreibt:
In seinen Versen hatte sich Hölderlins strenges Pathos ins mir gerade noch Erträgliche abgemildert. Hier ist der Weg vorgezeichnet, den sie selbst gegangen ist: die Reduktion des Hymnischen, des Lobes.
„Die Sprache, die einmal ausschwang, Dich zu loben, Zieht sich zusammen, singt nicht mehr In unserem Essigmund“ heißt es im „Tutzinger Gedichtkreis“; und an einer späteren Stelle noch radikaler:
Denen, die Dich zu loben versuchen Spülst Du vor die Füße den aufgetriebenen Leichnam.
Das Lob ist passe – politisch wie poetisch. In diesem Zyklus stehen an anderer Stelle die Verse:
Einmal nährtest Du Dich von Fleisch und Blut, Einmal vom Lobspruch. Einmal vom Gesang Der Räder. Aber jetzt vom Schweigen.
Als Marie Luise Kaschnitz das schrieb, hatte das Lob bei den sogenannten christlichen Dichtern durchaus noch Konjunktur. »Lobsang und Lobrauch« heißt ein bekanntes und repräsentatives Gedicht von Werner Bergengruen in dem 1950 erschienenen Band Die heile Welt (ganz und gar unironisch ist dieser Titel gemeint!). Kaschnitz unternimmt wie die jüngere Generation, die sie intensiv wahrnimmt, die Reduktion und Destruktion dieses unerträglich gewordenen Lobes. Zum Vergleich kann man hier an Paul Celans »Niemandsrose« denken – »Gelobt seist Du, Niemand« – oder auch an den Schlussvers von Ernst Meisters Gedicht »Psalmodierend«:
Wie flieht mir das Singen zurück in den heillosen Mund.
Diese Zurücknahme des Singens und Lobens zieht sich bis zum barfüßig lob im gleichnamigen Gedichtband von Kurt Marti (1987), dem »stammellob«, wie es in einem der Gedichte heißt.
Wie sehr die Reduktion des Lobes für die Kaschnitz selbst auch ein schmerzhafter Prozess war, geht vielleicht aus nachfolgender Notiz aus dem Nachlass hervor, in der sie über einen aufgefundenen Notizzettel reflektiert:
Ganz unten auf dem Zettel stand die Überschrift »Das schöne Gedicht«, die übrigens in meinen Notizen immer wieder auftaucht und in der sich mein Wunsch äußert, einmal noch vor dem Stillschweigen ein schönes Gedicht zu schreiben, was gewiß nicht heißen sollte, ein gefälliges, gar gefühlvolles, glattes Gedicht. Es soll wohl nur etwas noch zu Worte kommen, was ich aus lauter Trauer über die Unvollkommenheit der Welt (und meine eigene Unvollkommenheit) nie zum Ausdruck gebracht habe. Ein Lebenslob und Gotteslob, und gerade das wird immer wieder verschoben, wahrscheinlich, bis es zu spät dazu ist.
Die Reduktion des Lobes, des Hymnischen spiegelt sich in der sprachlichen Reduktion; Karl Krolow hat den Kaschnitz-Gedichten eine »leuchtende Sachlichkeit« zugesprochen – sie sind nicht bloße Notate, sondern hinter der Reduktion scheint ein umfassenderer Text durch; das Kondensat ist als solches erkennbar.
Wie Kaschnitz mit der Tradition religiösen Lobpreises umgegangen ist, zeigt sich am besten in der Schlussstrophe des Gedichtes »Nicht gesagt« aus dem Band Ein Wort weiter von 1965: »Den Teufel nicht an die Wand Weil ich nicht an ihn glaube Gott nicht gelobt Aber wer bin ich daß Der defekte Schlusssatz bleibt ein Rätsel«, wenn man ihn nicht als abgebrochenes Klopstock-Zitat erkennt und um seine Fortsetzung weiß:
Wer bin ich
Daß ich mich auch in die Jubel dränge.
Dieser Vers steht in einem der reflektierenden Begleitgedichte zu Klopstocks Messias, seinem Lebensprojekt. Es trägt die Überschrift »Dem Erlöser« und beginnt so:
DER Seraph stammelt, und die Unendlichkeit Bebt durch den Umkreis ihrer Gefilde nach Dein hohes Lob, oh Sohn! wer bin ich, Daß ich mich auch in die Jubel dränge?
Kaschnitzs lapidar konstatierte Fehlanzeige »Gott nicht gelobt« erhält einen programmatischen Charakter, der Klopstocks 1771 publizierter Ode diametral entgegengesetzt ist. Die letzte Zeile fragmentarisiert das Klopstock-Zitat und macht so den Halbsatz mehrdeutig, weil potenziell auch eine andere Fortsetzung möglich wäre. Weil er ergänzbar ist, auch wenn man die Klopstock-Ode nicht kennt – aus der Perspektive des lyrischen Ich gesprochen:
Wer bin ich, dass ich mich noch immer mit diesem alten Thema beschäftige? Wer bin ich, dass ich noch immer Gedichte schreibe? Aber das sind Fortsetzungen in Prosa, die das Gedicht zerstören würden. Das Gedicht endet mit dem Fragment: Wer bin ich daß.
Es wirkt weiter, es entlässt uns nicht in die Eindeutigkeit. Am Ende stehen wir vor der Frage: Wer bin ich daß
Cornelius Hell, Die Furche, 24.1.2001
Lebenslauf
Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram + KLG + IMDb + Archiv + Internet Archive + Kalliope +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2 + Orden Pour le mérite
Porträtgalerie
Lesung
Gedenktage
Zum 70. Geburtstag der Autorin:
Elsbet Linpinsel: „Der Dichter spricht“
Die Tat, 27.1.1971
Zum 100. Geburtstag der Autorin:
Cornelius Hell: Der defekte Schlusssatz
Die Furche, 24.1.2001