»Ich bin ihm nahe«

»Ich bin ihm nahe«

– Martin Walser erinnert sich: Es gab Zerwürfnisse und Versöhnungen. Am Ende siegt die Dankbarkeit. –

Ich beneide jeden, der es geschafft hat. Das Sterben. Die Vorstellung, die Seele verlasse im Sterbeaugenblick den erledigten Körper, ist ein angenehmes Bild. Goethe hat damit sogar Unsterblichkeitsüberlegungen verbunden. Auf jeden Fall ist die Seele nicht als stürzende denkbar, sondern als auffahrende. Höhe gewinnend. Das erleichtert den Übrigbleibenden Kontakt.  Marcel Reich-Ranicki kriegt mit, was wir jetzt, da er gestorben ist, über ihn sagen.

Zu gestehen ist: Dass er tot ist, löst einen heftigen Andrang von Reich-Ranicki-Bildern, Reich-Ranicki-Sätzen, Reich-Ranicki-Meldungen aus. Und jede Meldung will die wichtigste sein. Alle diese Daten wetteifern miteinander. So war er! Nein so! Im Gegenteil, er war doch so. Ich stelle mich dem Andrang und versuche zu ordnen.

Seine Lebendigkeit. Er war hauptsächlich lebendig. Routine war nie nötig. Also überraschend war er. Nicht festlegbar war er. Was er nicht im Handumdrehen erkennen und formulieren konnte, interessierte ihn weniger. Er hätte sich auf seine Schlagfertigkeit verlassen können, aber schob seinen Erkenntnisblitzen gern noch Überlegtes nach. Zwar konnte er alles pointiert sagen, aber dann verlangte er von sich auch noch den Beweisgang. Dafür stand ihm jedes Bildungsgut zur Verfügung.

So viel zu seiner Urteilsgymnastik. Jetzt seine Angewiesenheit. Was kein bisschen unterhaltend war, hatte keine Chance. Aber der Unterhaltungswert war durchaus nicht eine inhaltliche Leichtfertigkeit. Reich-Ranicki war auch durch hohe und höchste Kunstfertigkeit zu unterhalten. Sogar wenn sie sich als solche präsentierte.

Das ist natürlich Routine, dass wir auf Gestorbene mit Darstellung reagieren. Als käme es jetzt darauf an, dem Gestorbenen gerecht zu werden. Es kann nur darauf ankommen, ihn einmal mehr erscheinen zu lassen. Und diesmal nicht durch ihn selber, sondern durch die Erfahrung eines anderen. Und der fühlt sich dem Gestorbenen merkwürdig nah. Eine Nähe, auf die er sich dem Nochlebenden gegenüber nicht hätte berufen können. Auf einmal kommt es nur noch darauf an, ob ich den Gestorbenen zur Sprache bringen kann. Auf einmal kommt es nur auf meine Kraft an, nicht mehr auf meinen Mut. Zivilcourage! Dergleichen fällt jetzt weg. Ich bin ihm nahe, weil ich allen Gestorbenen nahe bin. Näher als zu unseren Lebzeiten. Auf einmal sehe ich, ich hätte mich nie über ihn ärgern müssen, weil seine temperamentsbestimmte Art, auf mich zu reagieren, immer genau so viel über ihn wie über mich gesagt hat. Glaube ich. Jetzt. Ich war damals nicht imstande, seine virtuosen Paraden als Kunststücke zu würdigen, bloß weil ich dafür als Anlass und Figur herhalten musste. Gerade dass ich noch imstande war, zu erleben, wie er, mich benützend, ein unwiderstehliches Unterhaltungstalent entwickelte. Ganz von selbst wuchs ihm so Macht zu. Die erlebte er, die hegte und pflegte er. Er genoss die Macht, und das Publikum genoss ihn, seine Gesten der Macht. Das Publikum mag eben Mächtige.

Das Fernsehen war dann sein Medium: Seine Übertreibungslust und sein unerschöpflicher Pointenreichtum und wie er sich von sich selber hinreißen ließ, ohne je ganz die Kontrolle zu verlieren, das machte ihn zu dem Entertainer, der er gar nicht sein wollte. Er wollte der Literatur dienen. Sagte er. Und tat’s auch. Aber er spürte, was das im Fernsehen hieß. In der ersten Sendung des Literarischen Quartetts am 25. März 1988 stellte er nach einer energischen Beethovenmusik die Teilnehmer vor. Hellmuth Karasek nannte er Lessing, wenn der auch die Minna von Barnhelm noch nicht geschrieben habe. Karasek revanchierte sich und stellte Reich-Ranicki als Papst vor. Das war lustig genug. Eine bedeutende Teilnehmerin am Kulturbetrieb hat Reich-Ranicki in seriös-essayistischem Kontext zu Lessing hinaufheben wollen. Das fand ich ungerecht; Lessing war doch überhaupt nicht lustig; und drastisch auch nicht; und unkompliziert schon gar nicht. Aber Karasek und Reich-Ranicki waren ein Duo, das verglichen sein will mit Vorgängern. Mich erinnern die beiden nur an Don Quijote und Sancho Pansa: der leidenschaftlich die Luft dirigierende Literaturidealist und der die Brotzeitpointen besorgende Sancho.

Mein Tagebuch meldet unter dem 12. Oktober 1989, dass Das Literarische Quartett ein Buch von Botho Strauß behandelt hat. Weder der Titel noch die Gattung sei genannt worden. Dafür: Botho Strauß ein Boulevardier und überhaupt läppisch. Das Publikum fühlte sich durch diese Hinrichtung bestens unterhalten und heizte die Hinrichter durch Beifall noch richtig an. Hinrichtung ist ein hartes Wort für diese lustige Veranstaltung. Die Akteure und das Publikum erleben nur das unterhaltsame Gelingen einer Sendung über Literatur. Also ein fröhliches Pointenfortissimo im sonst eher nüchternen Literaturbetrieb. Und es wird immer wieder gemeldet, dass Reich-Ranicki mit seinem Quartett der Literatur stürmisch genützt habe. Der und jener Autor, der gut weggekommen war, bestätigte dem Master: Wenn er über mich spricht, gibt es mich. Also das greift noch über den Papst hinaus in die Höhe. Die Autoren, die schlecht wegkamen, sehen das anders. Ich würde nicht sagen: Wenn er schlecht über mich spricht, gibt es mich nicht mehr. Aber der in der Genauigkeit kaum zu übertreffende Botho Strauß hat dann geschrieben: »Ich sehe zwischen einem Schau-Gespräch und einem Schau-Prozess nur graduelle Unterschiede in der Vorführung von Denunzierten.« Und er schließt: »Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine Köpfe rollen zu lassen, es macht sie überflüssig.«

Ich gestehe, mir hat diese Sicht auf die literaturfördernde Schau gutgetan. Ich habe viel, was nur Temperament und Flitter war, für Machtausübung gehalten. Manchmal hörte doch der ganze Kulturbetrieb eine Saison lang auf Reich-Ranickis lustiges oder drastisches Kommando. Lustig und drastisch, die zwei Eigenschaftswörter drängen sich heftig auf. Es gab literarische Jahreszeiten, da grüßte er von jeder zweiten Litfaßsäule mit einer Leichtmerkbarkeit. Er verstand sich selber immer mühelos. Das kann man nicht von allen Kritikern sagen. Er war eben zutiefst unkompliziert. Ich hoffe, das stimmt. Die Liste wäre jetzt also lustig, drastisch, machtfroh, unkompliziert.

Was jedem auffiel, der auf mehreren Ebenen Umgang hatte mit ihm: Er war charmant. Das kommt ja in seiner Branche nicht so oft vor. Man konnte sich seinem Geschriebenen leichter entziehen als seinem Gesprochenen. Liebenswürdigkeit war im Umgang seine wichtigste Wirkung. Wenn er ernsthaft war, zelebrierte er das so, dass klar wurde, ernsthaft nur relativ. Eine Ausnahme: sein von uns, den Deutschen, bewirktes Schicksal. Da war er nichts als ernsthaft.

1988 steht in einem seiner Bücher in einem Satz über mich: »… auf seinem Weg vom anrührenden alemannischen Regionalismus zum eher ärgerlichen deutschen Nationalismus«. Diesen Tadel hatte ich mir zugezogen, weil ich öfter öffentlich bekundete, dass ich gegen die deutsche Teilung war. Heute weiß ich durch viele Zeugnisse, dass für Juden die deutsche Teilung eine Gewähr war, Auschwitz werde sich nie mehr wiederholen. Deshalb war jede Kritik an der Teilung für Juden ein Ärgernis. Und dieser Reich-Ranicki schickte mir ebendieses Buch ins Skiquartier nach und hatte vorne hineingeschrieben: »In Verbundenheit, in Freundschaft, in Dankbarkeit, in Herzlichkeit…« Eine meiner Töchter hielt das für Ironie. Ich bin ganz sicher, dass er diese Wörter, als er sie hinschrieb, wirklich empfunden hat. In diesem Augenblick empfunden. Er lebte immer im Augenblick. In dem aber ganz. Wer sich darüber wundert, wie anders er in einem anderen Augenblick sein konnte, der hat nicht begriffen, was Reich-Ranicki für ein Augenblicksmensch war. Jedes Mal hingerissen. Auch von sich selbst. Zweifellos war, was er als Verfolgter erlebt hatte, die wichtigste Weisung für jede spätere Haltung. Joachim Fest hat ihn in die FAZ geholt, dann vertrat Fest im Historikerstreit und danach Ansichten, die Reich-Ranicki wegen seiner frühen Erfahrungen nicht teilen konnte. Eine lebenslängliche Entfremdung war die Folge. Und Joachim Fest stammte seinerseits aus einer sozusagen tadellos antifaschistischen Familie.

Als Reich-Ranicki annehmen musste, in der Figur eines offenbar satirisch gezeichneten Kritikers in einem Roman von mir sei er gemeint, hat er öffentlich und deutlich gesagt: Dieses Buch sei zwar bemitleidenswert schlecht, aber es sei keinesfalls antisemitisch. Wie dankbar ich ihm für diese Genauigkeit war, konnte ich ihm damals nicht sagen. Mit einem schlechten Buch kann man leben, mit einem antisemitischen nicht. Der Chor der opportunistischen Correctness-Wächter hatte mein Buch scharf und böse als antisemitisch verurteilt. Ich habe feststellen können, dass diese eifrig bis hysterisch Korrekten nicht selten aus Nazifamilien stammen und deshalb beweisen müssen, dass sie selber keine Nazis mehr sind. Namen könnten geliefert werden!

Ich ziehe mich von der Liste der Eigenschaftswörter zurück und nähere mich den Hauptwörtern. Das für Reich-Ranicki wichtigste Hauptwort: Glaubhaftigkeit. Seine Glaubhaftigkeit ist unbestreitbar. Ein anderes Wort dafür: Popularität. Mir ist Glaubhaftigkeit lieber. Die darf jenseits simpler Erklärungen bleiben. Sein Bildungsmobiliar war ansprechend, erinnerte viele Menschen an ihren eigenen Bildungszustand. Auch wenn seine jederzeit verfügbare Bildung weit über das verbreitet Übliche hinausging. Ich vermute, seine Glaubhaftigkeit verdankte er auch seiner Unkompliziertheit. Und weil er immer lieber zu weit ging als zu wenig weit, prägte er sich so ein. Auch schriftlich. Er war nicht unvorsichtig, aber vorsichtig war er überhaupt nicht. Sein Stil in Schrift und Rede zeigt, wie viel er dem vom Temperament gelieferten Einfall verdankte. Und er wehrte sich nicht gegen seine Einfälle. Je später, umso weniger. Er konnte sich dann etwas leisten. Für zustimmungsfreudige Choristen war immer gesorgt. Und doch bleibt seine Glaubhaftigkeit noch unerklärt. Zum Glück. Das war es überhaupt, dass sie nicht zurückführbar ist auf dieses oder jenes Talent, sondern dass er einfach glaubhaft war. Egal, was er jeweils sagte oder schrieb. Es kam nicht auf seine Meinungen an, sondern auf seinen Ausdruck. Das ist ein weiter reichender, seriöserer Wirkungsanspruch als alles bloß Meinungsmäßige. Es handelt sich da um die Person selbst. Um das selbst vom Virtuosen nicht beliebig einsetzbare Unwillkürliche. Das Eigentliche.

Sollte sich jemand fragen, wie ich als Autor mein Auskommen mit ihm gefunden habe, so darf ich mitteilen, dass das Verhältnis zu Reich-Ranicki nicht trostlos war, hat er mir gegenüber doch mehr als einmal gesagt, dass er mit Hölderlin und Kafka wenig anfangen könne. Ich nahm’s als Kompliment.

Ich habe ihm einmal zu einem Geburtstag einen Vierzeiler geschrieben, der ging so:

Unser Zirkus heißt Kultur
Unsere Nummer ist: Watschen mit Gesang.
Streicheln dürfen wir uns nur
draußen im dunklen Gang.

Martin Walser, Die Zeit, 26.9.2013

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