Waldundwiesenharig,

Waldundwiesenharig,

der (Saarländische Freude, Zentunkel, Plauderplums, Lucke) zweijährig. Farbpflanze.

Einseitswendige Traube. Die lachmündigen Blüten schwefelgelb, bauchig, glockig, violett geädert. Stengel aufrecht. Die Blätter bewimpert, ungeschminkt.

Der Waldundwiesenharig kommt in Sprachlabors vor, in selbstzerstörerischer Syntax, im Sand der Getriebe und auf unbespielbaren Fußballplätzen in der Nähe des Elfmeterpunktes. Man trifft ihn jedoch auch auf zu Tode gereimter Poesie an. Die Pflanze liebt einen lockeren, steinigen, sickerfeuchten Boden und zieht aus jeder Verfallserscheinung einen heiteren Gewinn. Wegen ihrer Seltenheit steht sie unter Naturschutz, was Humorlose nicht daran hindert, sie als Unkraut abzustempeln. Bei starkem Wind können sich ihre Blütenglocken ballonhaft aufblähen. Im Saarland sagt man dazu: »es harigt«, was soviel heißt wie: es sticht ihn der Hafer. Die Pflanze riecht aromatisch, schmeckt jedoch stark nach Seife. Man hat mit ihr schon manches Großmaul eingeseift. Der Waldundwiesenharig wird leicht von Blattläusen befallen. Im Volksaberglauben spielt die Pflanze eine bedeutende Rolle: sie soll, bei Vollmond ausgegraben, helfen, vergessene Wörter wiederzufinden, die dann jedoch einen anderen Sinn annehmen. Sie gilt auch als Wahrzeichen der Dolmetscher. Eine bekannte Hustenpastille hat den Waldundwiesenharig in ihrem Warenzeichen. Sie ist vor allem bei Kammersängern sehr geschätzt, macht sie doch jeden Husten zu einem lyrischen Singsang.
Aus den getrockneten Blüten wird ein gelber Farbstoff gewonnen, der ein guter Ersatz für das Gelbe im Ei ist. Jean-Jacques Rousseau schminkte sich mit ihm das Gesicht, um krank auszusehen. So genoß er das Mitleid der Frauen. Heute findet der Farbstoff kaum noch Verwendung. Bei starkem Sonnenlicht kann er einen rötlichen Ton annehmen, so daß das, was kränklich aussehen sollte, leicht ein Zeichen blühenden Lebens werden kann. Der Waldundwiesenharig zählt zu den schönsten Blumen unserer Heimat. Adalbert Stifter schreibt in seiner autobiographischen Skizze ›Abendgedanken eines Schulrats‹: »Gestern einen Harig gezeichnet. Er sieht im Grunde aus wie eine unendlich feinsinnige Ohrmuschel, die selbst noch das Zerstauben von alten ehrwürdigen Wörtern wahrzunehmen scheint. Bei aller Verwinkelung wird das Ganze von einem höchst einfachen Prinzip beherrscht: von einer ins Kraut schießenden Hellhörigkeit.« (Zitiert nach Marcel Reich-Ranickis ›Frankturter Allgemeinen Blütenpracht‹)

Fritz Schönborn aus Deutsche Dichterflora, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983

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Gedenktage

Zum 90. Geburtstag von Ludwig Harig:

Ein Gespräch mit Literaturredakteur Ralph Schock
SR 2, 18.7.2017