Semiotik der Sehnsucht

Semiotik der Sehnsucht

– Der Schriftsteller Ludwig Fels, ein Meister im Schaffen lebensschwerer Figuren, ist im Alter von 74 Jahren gestorben. –

Georg Bleistein, das ist eine Figur, die man nur dann vergisst, wenn man nicht glauben mag, dass Sehnsüchte, allen voran die Sehnsucht nach Liebe, einen Menschen ins Elend stürzen können. Bleistein ist ein Unding der Liebe, so nannte Ludwig Fels seinen Roman über den verfressenen, die Bleischwere eines Lebens ohne Zärtlichkeit mit sich herum tragenden jungen Franken.
Fels war ein Meister im Schaffen lebensschwerer Figuren wie Bleistein und Olav, dem Sträfling aus Mondbeben. Schon das »v« am Ende des Vornamens ist eine Art Semiotik der Sehnsucht, denn Olav möchte nach Jahren der Gefangenschaft in ein fernes Land. Gemeinsam mit Helen, die er im Knast geheiratet hat. Am Ende landen sie in einem Ferienresort, einer grünen Hölle, deren Gesetze sie nicht verstehen, weil es die Gesetze der Glücklichen sind.
Fels selbst war ein solcher Flüchtling in die Sehnsucht, auch er entstammte einfachen Verhältnissen. Aber Fels musste keine fernen Inseln bereisen, um aus der Sehnsucht und der Liebe nach dem Lebens etwas Dingliches, Bücher nämlich, zu machen. 1946 in Treuchtlingen geboren, vaterlos aufgewachsen und anfänglich mit Gelegenheitsjobs zugange, hatte Fels seine ersten literarischen Erfolge im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, der für Fels eher Fluch als Segen war.
Denn Fels wollte ja raus aus dieser Arbeitswelt, er wollte sie nicht besingen, sondern erzählen, wie eng diese Welt für Menschen ist, die das Talent zum Wünschen haben. Fels ging nach Wien und wurde mit seinen Romanen erfolgreich. Seine Gedichte, für die er früh ausgezeichnet wurde, auch mit dem renommierten Leonce- und Lena-Preis, waren düstere Übungen in Bitterkeit, angereichert mit traklscher Bildmagie: »Nachts wenn die Tiere schliefen träumten / die Menschen Schnee auf den Lippen von ihrem Blut.«
Fels fand seine Themen auch im erzählerisch noch weitgehend unbestellten deutschen Kolonialismus wie in Mister Joe und Die Hottentottenwerft. Er war ein schonungsloser Hinseher, ein mit den Mitteln der realistischen Literatur operierender Schriftsteller, zu denen auch eine harte Sprache und die brutale Darstellung von Gewalt gehörten.
Und er war ein Romantitelpoet: Die quälend traurige Erzählung über den Tod seiner Mutter, ihr elendes Vegetieren am Krebs, nannte Fels Der Himmel war eine große Gegenwart. Seit ein paar Jahren gibt es ein Interesse an Schilderungen prekärer Verhältnisse, an authentischen Erzählungen aus dem Milieu der Zukurzgekommenen. Fels hat von diesen Menschen erzählt, ohne das Pathos des Entkommenen, sondern mit poetischer Schönheit und der Redlichkeit dessen, der seine Herkunft zum Gegenstand menschlicher Parabeln macht. Am Montag ist Ludwig Fels mit 74 Jahren in Wien gestorben.

Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung, 11.1.2021

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Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jan Koneffek: Ein Fremder überall
Frankfurter Rundschaum 25.11.2016

Meike Feßmann: Hart und zart
Süddeutsche Zeitung, 24.11.2016